MenuMENU

zurück

2024-03-16 10:54:58, Jamal

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Erotisches Junkfood

Ich erzähle kurz die Familiengeschichte meiner Schwägerin. Bevor sie mit Levan zusammenkam, hatten auch Nina und ich unser verlängertes Wochenende der Liebe. Oder, wie soll man das nennen?

Es war unvermeidlich, wie so vieles, von dem man als junger Mensch glaubt, es wäre persönlich. Sex dient der Evaluierung auf einem Orientierungsparcours. Das auf Taille geschnittene Jäckchen über dem Glockenrock. Der neckische Zopf. Dieses Ding zwischen niedlich und verrucht. Das breite Kreuz. Der Autoschlüssel. Die Redundanz des Vitalen … evolutionäre Ladenhüter und Evergreens … erotisches Junkfood. Entscheidend ist doch, was passiert, wenn man sich eine Woche lang nicht die Haare gewaschen hat. Wie gut kann man sich nach zehn gemeinsamen Stunden im Auto noch riechen. Wie sehr kann man sich dann noch leiden, beziehungsweise wie sehr leidet man dann.

Es war so schön mit Nina wie mit anderen auch. Ich verstehe das erst heute richtig. Ich war ein Fabrikantensohn, nicht so lasch wie viele aus dieser Abteilung, eins fünfundachtzig, fünfundsiebzig Kilo, fit, umgänglich, solvent. Kein Aufschneider. Kein Trauerkloß.

Die letzten Kriegsjahre hatte Ninas Oma Emma mit drei Kindern im Haus ihrer Mutter überlebt. Ausgebombte Verwandte verdrängten sie und schoben sie in eine Friedhofsbaracke ab. Ninas Urgroßmutter behielten sie aber als Geisel. Vermutlich verzehrten die Usurpatoren die Ahnenrente.

Ninas Opa Viktor verstand die Befreiung von 1945 als Zusammenbruch. Nach dem Krieg erfüllte er Aufgaben eines Führers. Sein Organisationstalent befähigte ihn zu unternehmerischen Großtaten. Viktor nahm das Wirtschaftswunder mit einer Armada von sieben Lastwagen und einem Volkswagen für die Sonntagsausflüge vorweg. Er war der fünftgrößte Spediteur in ... Sonntagsausflüge im eigenen Personenkraftwagen waren so exklusiv wie Italienurlaube. Viktor setzte alles daran, reich zu werden und nicht bloß wohlhabend zu bleiben. Es gab für ihn keinen stärkeren Beweis der Überlegenheit als Reichtum. An dieser Stelle erzielte er volle Übereinstimmung mit meinem Opa. Dede (türkisch) respektierte Ninas Opa. Das war mehr als außergewöhnlich. Ich glaube, Opa erkannte in Viktor einen Soul Brother und Zauberkollegen. Am vorläufigen Ende einer Rückschau nicht nur auf Viktors Leben, sondern auch auf das Leben meines Opas und meines eigenen Lebens, wird mir klar, dass es für einen Zauberer keine adäquatere Beschäftigung gibt als eine unternehmerische. Egoismus und Potenz gehören dazu. Ich kann mir einen Zauberer mit Potenzstörungen nicht vorstellen.

Zu einer Zeit, als Straßensperren der Besatzungsmächte den Verkehr störten, widerfuhr Viktor ein seltenes Unglück, das deshalb als Schicksalswink mit dem Zaunpfahl empfunden wurde. Eines Tages blieben drei Fahrzeuge seiner Spedition unterwegs liegen. Die Verhältnisse waren noch so, dass man ungebremst verschüttgehen konnte und nicht jeder, der weg war, gleich für verschollen galt. Deutschland war zerschlagen, in ländlichen Gegenden traf man manchmal tagelang auf keinen Inhaber eines Telefonanschlusses. Ein Fahrer meldete sich erst nach Ablauf einer Woche aus der tiefen Pfalz. Er hatte die erste Gelegenheit für ein Lebenszeichen genutzt. Viktor verlor das Vertrauen ins Fuhrgeschäft.