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2024-03-22 16:43:20, Jamal

„Die Lunge schmerzte so angenehm, dass ich mir das Glück nicht mehr ohne Tabak vorstellen konnte.“

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Lodernde Huldigung

„Ache Middler, ein Rockmusiker in seinen Sechzigern, lebt zurückgezogen in Berlin, als ihn der Brief einer sterbenden Frau erreicht. Jahre zuvor haben sie zusammen eine Nacht verbracht. Jetzt bittet sie ihn, ihrer gemeinsamen Tochter seine Geschichte zu erzählen.“ Aus der Ankündigung

Ihre Songs sollen klingen wie „freigelegte Nerven“. Doch wenn Tim Middler aka Ache Middle aka Ache Middler („der letzte Buchstabe kehrte zurück um Selbständigkeit zu markieren“) singt, klingt es eher so „als würde mich jemand würgen“. Ache und seine Mitstreiter fühlen sich als „Rimbauds Erben“. Ihre Performance erinnert an „bösartige Chorknaben“. Doch schon die erste Besprechung des Debütkonzerts ist eine „lodernde Huldigung“. Die Rezensentin kennt die Innen- und Kehrseiten der Newcomer-Band. Trish Kelly liebt Ache. Vielleicht verleiht ihr die Liebe prophetische Gaben. Jedenfalls weissagt sie ihrem Geliebten einen Aufstieg in den Rockolymp. Trish erzählt von „dünnen Götter“, die „himmlische Töne direkt aus den Knochen“ ziehen. Im Weiteren schreibt sie ekstatische Gedichte und trägt sie orgiastisch vor. 

Aris Fioretos, „Die dünnen Götter“, Roman, aus dem Schwedischen von Paul Berf, Hanser, 525 Seiten, 34,-

Apokalyptische Zuspitzungen - Zurück auf Los

Das Doppel-Menetekel von Hiroshima und Nagasaki verschmilzt im kollektiven Gedächtnis mit dem Welterklärungsernst der Schwarzweiß-TV-Ära. Im Land der Sieger:innen gibt es keine Atombomben-Depression, keinen kollektiven Kater, keine, sämtliche Glieder des Gesellschaftskörpers ergreifende Scham. Stattdessen beobachtet man in den Vereinigten Staaten eine out-of-the-bottle-Euphorie. Frauen lassen sich Atompilze toupieren. Konditor:innen kreieren Atompilztorten. Nuklearwaffentests in der Wüste von Nevada sind touristische Attraktionen. Tausende setzen sich freiwillig dem Fallout aus. In der Hochzeit von John Wayne und John Ford liefert das 1951 eingerichtete - am 27. Januar mit einer Parade vor dem ersten Abwurf eingeweihte - Testgelände circa hundert Kilometer nordwestlich von Las Vegas idealtypische Hollywood-Westernkulissen. Auch als Science-Fiction-Mars funktioniert die Desert Depression.

Radioaktive Partys sind der letzte Schrei. Im Mafia-Eldorado Las Vegas hält man die Bombe für ein Geschenk des Himmels. Es kursiert eine Art Strahlungsexorzismus. Eine besonders strahlende Tänzerin tritt als „Miss A-Bomb“ auf. In einer hoch aufladbaren, superikonografischen, in einem endorheischen Becken gelegenen Fläche namens Jean Dry Lake konservieren sich Voraussetzungen für Leuchtzeichen der Traumindustrie. Szenen aus Casino, Fear and Loathing in Las Vegas und The Hangover werden auf dem Landschaftshotspot gedreht.            

Tim, Jahrgang 1949, stammt aus dem ländlichen Delaware. Sein Vater verkauft Klimaanlagen. Die ukrainische Großmutter verbringt ihre Witwenjahre bis zum Tod kettenrauchend in Tims Elternhaus. Phantasien rund um einen Film, den der Erzähler erst sehr viel später sehen wird, prägen das kindliche Weltbild. „Die Dämonischen“ aka „Invasion der Körperfresser“ kommt 1956 in die Kinos. Tim sieht wegen der Altersbeschränkung lange nicht mehr als die Plakate. Seine Eltern liefern ihm eine Inhaltsangabe des schwarzweißen Science-Fiction-Schocker. Regisseur Don Siegel filterte und transformierte traumatic after-effects. Zwar arbeitete er mit apokalyptischen Zuspitzungen, verzichtete aber auf Alien-Klischees aus der kosmischen Krabbelkiste.

Tim hat einen Zwillingsbruder, mit dem ihn wenig verbindet. Einmal nimmt er eine Verwechslung zum Anlass, um sich in das ihm weitgehend unbekannte Leben seines Andersich zu schleichen. Unerkannt erweitert er eine Acid-Séance. Das sexuelle Interesse der Gastgeberin verstört ihn. Seine musikalische Laufbahn startet er als Garagenrockjazzer. Am Saxofon wiegelt Ache die Luft auf. Seine Finger stürzen über „Kaskaden ungehobelter Riffs“.

Mit seinem Freund Raff entflieht er einer Internatsöde. Trampend spielen die beiden Szenen aus Jack Kerouacs „On the Road“ nach. „In nachtoffenen Lokalen in Tennessee (erahnt Ache jene) Bewusstseinserweiterung, von der Rimbaud gesprochen hat.“

Raff gibt sich „surrealistischen Vulgaritäten“ hin. Seine Gedichte strahlen einen „gestörten Glanz“ aus. Ache folgt ihm schließlich nach Alphabet City. Das East Village-Quartier gehört zu Manhattan. Streunend erschließen sich Ache und Raff die Gegend. Sie hängen in dem sagenhaften Nachtclub Max‘s Kansas City ab, und gründen eine Band. „Transmission“ sendet, so sagt es ein Kritiker, „New Yorks klarste Sehnsucht ins All aus“.

 
Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016), Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen – er übertrug u.a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische – wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Seit 2010 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; seit 2022 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Frühjahr 2024 hält er die Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.