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2024-03-26 21:17:07, Jamal

“Caught between the twisted stars, the plotted lines the faulty map.” Lou Reed

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„Meine Lösung bestand darin, mir vorzustellen, dass die Energie, die auf mich einwirkte, eine Form von universeller Liebe war.“ Yoko Ono über den Hass, der ihr nach dem Ende der Beatles und dem Tod von John Lennon weltweit entgegenschlug.

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„Wird ein Ort dem Auge zugänglich, ist er in bestimmter Hinsicht nicht länger der Fantasie zugänglich.“ Joan Didion

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„Wenn man etwas erfolgreich umgestalten will, muss man so weit gehen, dass die (Nachfolger:innen) nicht mehr umkehren können.“ Deng Xiaoping

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„Jedes System stirbt an Entropie und überlebt durch Information, die über fast keine Macht, aber durch ihre Knappheit über umso größere Dichte verfügt.“ Michel Serres

Prekäres Genie

„Ache Middler, ein Rockmusiker in seinen Sechzigern, lebt zurückgezogen in Berlin, als ihn der Brief einer sterbenden Frau erreicht. Jahre zuvor haben sie zusammen eine Nacht verbracht. Jetzt bittet sie ihn, ihrer gemeinsamen Tochter seine Geschichte zu erzählen.“ Aus der Ankündigung

Timothy ‚Tim‘ Middler wählte als aufgehender Star den nom d‘artiste Ache Middle. Das unterschlagene r nahm den angestammten Platz schließlich wieder ein. Im Vollbesitz seiner Mittel nennt sich der Künstler als nicht mehr ganz junger Mann Ache Middler. Nach Jahrzehnten in New York und London landet Ache in der Bowie-Stadt Berlin. Dem Schicksal eines abgehalfterten Rockstars entgeht er als hyperartifizieller Filmkomponist in einem Künstler:innenmilieu mit einer Corona aus Migration und Müßiggang.

Ache hatte seinen goldenen Bühnenmoment und danach genug Substanz, um sich noch einmal neu zu starten.  

Er haust im Atelier seiner viel jüngeren Freundin, einem prekären Genie namens Ona Onder, bürgerlich Onay O. Ache verlangt von der in Würzburg aufgewachsenen Tochter einer Türkin und eines Kurden:

„Werde mein Warum“

Fortan nennt er Ona Why, und nur er und sie wissen warum.

Aris Fioretos, „Die dünnen Götter“, Roman, aus dem Schwedischen von Paul Berf, Hanser, 525 Seiten, 34,-

Ache arbeitet mit dem Multiinstrumentalisten Darko Dimoff zusammen. Gemeinsam sehen sie in Bukarest den weltweit ersten Dokumentarfilm. „Walking Troubles of Organic Hemiplegy“ entstand 1898 als ein medizinexperimentelles Werk des rumänischen Neurologen Gheorghe Marinescu.

„Studien zur Körpermotorik“ sind ein frühes Sujet der Kinogeschichte. Dazu zählen Bewegungsbilder traumatisierter Soldaten. Sie konkurrieren in einem Koinzidenzverhältnis mit Grotesken, die Charlie Chaplins Komik vorwegnehmen.

Ache entdeckt in den schwarzweiß-holprigen Aufzeichnungen Spurenelemente jener Randgeräusche und Nebelhornechos, die ihn produktiv machen. Er verweigert die akustischen Triumphbögen und vermeidet die Bedeutungsmagistralen. Stattdessen ehrt Ache die Seitenwege und Saumpfade des Geläufigen und Eingängigen mit seinem Interesse. Ihm schwebt „ein Requiem für verlorene Seelen“ vor.

Ache reagiert musikalisch auf Szenen, die der Alltag liefert. „Ein Kind, das mit einem Drachen durch einen Park (läuft).“

„… hatte mich gelehrt, tiefer in das Material einzusinken, an der Stummheit vorbei.“

Ache bemüht sich „um sowjetische Bootlegs westlicher Musik, die auf ausgedienten Röntgenplatten gepresst worden war“.

„Als wir zum letzten Lied kamen, war der Raum ein Meer aus verschwitztem Glück.“ Aris Fioretos

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„Es war reines Glück, wenn die Instrumente klangen wie eine Faust aus Lärm.“ AF

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„Die Lunge schmerzte so angenehm, dass ich mir das Glück nicht mehr ohne Tabak vorstellen konnte.“ AF

Lodernde Huldigung - Was zuvor geschah

Die Songs sollen klingen wie „freigelegte Nerven“. Doch wenn Ache singt, klingt es eher so „als würde mich jemand würgen“. Er und seine Mitstreiter fühlen sich als „Rimbauds Erben“. Ihre Performance erinnert an „bösartige Chorknaben“. Doch schon die erste Besprechung des Debütkonzerts ist eine „lodernde Huldigung“. Die Rezensentin kennt die Innen- und Kehrseiten der Newcomer-Band. Trish Kelly liebt Ache. Vielleicht verleiht ihr die Liebe prophetische Gaben. Jedenfalls weissagt sie ihrem Geliebten einen Aufstieg in den Rockolymp. Trish erzählt von „dünnen Götter“, die „himmlische Töne direkt aus den Knochen“ ziehen. Im Weiteren schreibt sie ekstatische Gedichte und trägt sie orgiastisch vor. 

Apokalyptische Zuspitzungen - Zurück auf Los

Tim, Jahrgang 1949, stammt aus dem ländlichen Delaware. Sein Vater verkauft Klimaanlagen. Die ukrainische Großmutter verbringt ihre Witwenjahre bis zum Tod kettenrauchend in Tims Elternhaus. Phantasien rund um einen Film, den der Erzähler erst sehr viel später sehen wird, prägen das kindliche Weltbild. „Die Dämonischen“ aka „Invasion der Körperfresser“ kommt 1956 in die Kinos. Tim sieht wegen der Altersbeschränkung lange nicht mehr als die Plakate. Seine Eltern liefern ihm eine Inhaltsangabe des schwarzweißen Science-Fiction-Schocker. Regisseur Don Siegel filterte und transformierte traumatic after-effects. Zwar arbeitete er mit apokalyptischen Zuspitzungen, verzichtete aber auf Alien-Klischees aus der kosmischen Krabbelkiste.

Tim hat einen Zwillingsbruder, mit dem ihn wenig verbindet, außer manchmal eine rasende, jedoch vollkommen aussichtslose Nähe. Einmal nimmt er eine Verwechslung zum Anlass, um sich in das ihm weitgehend unbekannte Leben seines Andersich zu schleichen. Unerkannt erweitert er eine Acid-Séance. Das sexuelle Interesse der Gastgeberin verstört ihn. Seine musikalische Laufbahn startet er als Garagenrockjazzer. Am Saxofon wiegelt Ache die Luft auf. Seine Finger stürzen über „Kaskaden ungehobelter Riffs“.

Mit seinem Freund Raff entflieht er einer Internatsöde. Trampend spielen die beiden Szenen aus Jack Kerouacs „On the Road“ nach. „In nachtoffenen Lokalen in Tennessee (erahnt Ache jene) Bewusstseinserweiterung, von der Rimbaud gesprochen hat.“

Raff gibt sich „surrealistischen Vulgaritäten“ hin. Seine Gedichte strahlen einen „gestörten Glanz“ aus. Ache folgt ihm schließlich nach Alphabet City. Das East Village-Quartier gehört zu Manhattan. Streunend erschließen sich Ache und Raff die Gegend. Sie hängen in dem sagenhaften Nachtclub Max‘s Kansas City ab, und gründen eine Band. „Transmission“ sendet, so sagt es ein Kritiker, „New Yorks klarste Sehnsucht ins All aus“.

Faust aus Lärm

Nach einer Weile steigt Ache aus, um im Weiteren als lebende Legende seine Kreise oft solistisch zu ziehen. Er liebt die Strandstimmungen am Meer vor Maine. Gleichzeitig führt er das Leben eines Jetsetters. Er pendelt zwischen London und New York. Man trifft ihn in Barcelona und Kopenhagen. Als Filmmusikkomponist startet er eine zweite Karriere. Im Kontext der Kompositionen schwärmt seine Geliebte von „weißer Magie“.

„Der Eiskönig haucht Geistern Leben ein“, deklamiert Edie Ried. Sie folgte Trish im Reigen der weiblichen Zentralfiguren in einem Künstlerkosmos.

Timothy ‚Tim‘ Middler wählte als aufgehender Star den nom d‘artiste Ache Middle. Das unterschlagene r nahm den angestammten Platz schließlich wieder ein. Im Vollbesitz seiner Mittel nennt sich der Künstler als nicht mehr ganz junger Mann Ache Middler. Ache verliert seinen Zwilling, mit dem ihn nicht viel verband, außer manchmal eine rasende, jedoch vollkommen aussichtslose Nähe. Übrigens stirbt Jim an einer Überdosis.

In dem Verhältnis zu der erlebnishungrig-energiegeladenen Edie flüchtet sich Ache in eine sterile Praxis. Er gibt vor, in den Stunden ihrer außerhäuslichen Action Träume vertont und sein Staunen kultiviert zu haben, während er in Wahrheit bloß seiner Trägheit Raum gegeben hat.

Sang- und klanglos gibt Ache die Rockmusik auf. Ihn faszinieren nun Raritäten aus der Kinosteinzeit. Er sammelt Töne und arrangiert sie in musikalischen Fassungen für kinematografische Preziosen. Er agiert halbwegs konspirativ, um nicht seine Rockstar-Rendite zu verlieren. Edie will nämlich keinen musikalischen Orchideensammler, sondern den sagenhaften Eiskönig, der in einer annehmbaren Vergangenheit in New York die Devisen des avancierten Jetzt verkündete. Sie durchschaut die Schliche eines Mannes in seinen mittleren Jahren. Sie kriecht Ache nicht auf den Leim. Zum Abschied formiert Edie aufs Schönste:
„Ich fühle mich in deiner Gesellschaft wie ein paralysierter Schmetterling.“

Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016), Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen – er übertrug u.a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische – wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Seit 2010 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; seit 2022 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Frühjahr 2024 hält er die Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.