In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Rationalisierter Aberglaube
Jeden Abend untersucht sie ihre Töchter. In den Achselhöhlen und im Schambereich fahndet sie nach den Verursacherinnen von Hirnhautentzündungen. Die Angst vor Frühsommer-Meningoenzephalitis sitzt tief im mütterlichen Fürsorgekörper. Sie mischt sich mit diffusen und konkreten Befürchtungen und einer ewigen Hinterkopf-Litanei. Uns geht es zu gut. Das kann nicht gut gehen. Den Druck verstärken im Augenblick Nachrichten von Milzbranderregern, die ewig im sibirischen Permafrost eingeschlossen waren und in diesem viel zu heißen Sommer aus aufgetauten Kadavern entweichen. Rasend schnell greifen die Anthrax-Sporen um sich. Sie dezimieren Rentierherden und ihre Hirten. Indigene Gemeinschaften müssen evakuiert und unter Quarantäne gestellt werden.
Gletscherschmelzen treiben Pandemien an. Achtundzwanzig bis eben unbekannte Virus-Gruppen fanden Wissenschaftler im Tauwasser. Dazu kommen steinalte Spielarten von Pocken, Spanischer Grippe und Beulenpest.
„In Sibirien ist ein uralter Infektionsherd nach einer Hitzewelle wieder aufgeflammt. Die Gefahr solcher Ausbrüche dürfte im Zuge des Klimawandels weiter zunehmen.“ Klaus Zintz in der Stuttgarter Zeitung vom 05.08. 2016, Quelle
Lausen nannte Adas irische Großmutter die Zeckeninspektion. Mütter lausen ihre Kinder und, wenn es sich ergibt, auch die, anderer Leute. Zur altweltlichen Kompetenz zählten lauter Warnungen. Nach dem Verzehr von Kirschen durfte kein Wasser getrunken werden. Beschworen wurde das vermeintliche Gift der Vogelbeere. Eine versunkene Welt aus Vorhaltungen, Binsen und Kalendersprüchen: ein rationalisierter Aberglaube offenbarte sich im Unwiderruflichen, egal ob vom Wetter oder von der Kindererziehung die Rede war.
Eine ständige Angst belagert Ada. Sie lehrt Geschichte am Ralph Clarke College von Booker Height, Vermont. Das US-amerikanische Kastensystem nahm Jahrhunderte vor der Gründung der Vereinigten Staaten und sogar noch vor Ankunft der … Ada stockt. Kann man noch Pilgrim Fathers sagen? Die Dozentin sucht nach einem geschlechtsneutralen Wort.
Die genaue Marke verdankt sich einer beiläufigen Feststellung des Tabakbauern John Rolfe (1585 - 1622). Im August 1619 übernahmen die Honoratioren von Jamestown, der 1607 gegründeten und vor Ablauf des Jahrhunderts wieder aufgegebenen, ersten weißen Siedlung im künftigen Bundesstaat Virginia, zwanzig Schwarze Sklaven von dem Kapitän eines niederländischen Kriegsschiffs. Rolfe notierte den Vorgang in einem Brief. Er blieb der Nachwelt als Gatte der Häuptlingstochter Pocahontas im Gedächtnis.
Der Fluch der Sklaverei begann nicht erst mit der Landung der Mayflower am 21. November 1620 an der Küste des Kabeljau Kaps (Cape Cod) in Massachusetts.
„Die Sklaverei war ein lebender Tod, der (in Nordamerika) zwölf Generationen lang weitergegeben wurde.“ Isabel Wilkerson, „Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens“
Wir beobachten Ada bei einer Trosthandlung. Sie streicht über den schrundigen Korpus einer Skulptur unbestimmter Herkunft. Ada weiß nicht, wie die Flohmarktvenus in ihren Haushalt und zu einem Platz auf dem Schreibtisch kam. Das Ding wurde bereits zum Fruchtbarkeitssymbol und Anbetungsgegenstand hochgejazzt. Gebildete hielten die Maquette für eine pseudoarchaische Síle na gcíoch aka Sheela-na-Gig. Eine Weile staubte der Trödel in der Küche ein.
Eine irische Provenienz macht für Ada jeden Gegenstan reizvoll. Lange war Irland das Armenhaus Europas. Hunger dezimierte die Bevölkerung im Kahlschlagmodus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkurrierten irische Migranten in den USA mit den soeben aus der Sklaverei entlassenen Schwarzen. Die irische Diaspora sprengte den europäischen Referenzrahmen. Im 21. Jahrhundert drehte sich das Rad. Der keltische Tiger boomte mit atemberaubenden Wachstumsraten.
Irland präsentiert sich als Steueroase. Facebook und Google nutzen die Vorteile.
Dann brach die Wirtschaft ein, und den Tiger befiel die Räude verlorener Kaufkraft. Der Mittelstand suchte seine Knochen zwischen Stagnation, Illusion und Depression zusammen. Paare, die sich auf der Geldseite halten konnten, lebten in Gespenstergemeinden mit verrottenden Rohbauten und fertiggestellten, aber nie bezogenen Häusern in der Nachbarschaft.