In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Rumorende Ungewissheit
Der Vater der Marquise akzeptiert den russischen Rittmeister als Bräutigam. Die Mutter reibt sich die Hände. Sie lässt den Grafen aus dem Gästebett holen. Der Angeforderte beeilt sich zu erscheinen und mit den leidenschaftlichsten Bekundungen seine Bereitschaft zu beglaubigen, das Urteil des Familiengerichts nicht anzufechten.
Der Forstmeister (Juliettas Bruder) bietet ihm schwägerlich die Dienstkalesche an, „ein Jäger (fliegt) auf die Post, Kurierpferde auf Prämien zu bestellen, und Freude (ist) bei dieser Abreise, wie noch niemals bei einem Empfang“.
Domestiken werden zu äußerster Eile angetrieben. Man lässt ihnen kaum die Zeit, sich vollständig anzukleiden. In einer bacchantischen Szene wirbeln alle durcheinander.
Der Graf will, nein, er muss die Depeschenreiter einholen und die Depeschen zurückziehen, die er in seiner Verzweiflungsverve nach Neapel geschickt, mit der Zusage, bereit für einen Job in Konstantinopel zu sein. Er schwört, den Orientauftrag zu canceln, und so schnell wie möglich wieder am Schwurort auf der Heiratsmatte zu stehen.
Die Familie bleibt mit rumorender Ungewissheit zurück. In der gräflichen Absenz verliert die Angelegenheit ihre Plausibilität. Der russische Furor hallt in einem unverständigen Resonanzraum nach. Die biederen Leute fühlen sich überfahren und in einen Sog der Übertreibungen gezogen. Immerhin stellt sich General K, ein Onkel des Grafen, als Leumund ein. Der Neffe schreibt aus Neapel; die Ernsthaftigkeit seiner Absichten steht außer Frage. Da bemerkt Julietta „eine unbegreifliche Veränderung ihrer Gestalt. Sie (entdeckt) sich mit völliger Freimütigkeit ihrer Mutter“.
Die Mutter weiß sich keinen Reim zu machen. Sie besteht auf die Konsultation eines Arztes. Der Arzt beleidigt sie mit der Wahrheit.
„Die Marquise versicherte, dass sie von diesen Beleidigungen ihren Vater unterrichten würde. Der Arzt antwortete, dass er seine Aussage vor Gericht beschwören könne.“
Nach den Spielregeln ihrer Epoche betrachten beide eine Ungeheuerlichkeit aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Julietta weiß nicht, wie sie in andere Umstände kam. Der Arzt unterstellt ihr, theatralisch von einem Fiasko abzulenken. Er diagnostiziert die Vortäuschung einer somnambulen Reaktion aus dem Themenkreis der jungfräulichen Empfängnis.
Die Marquise wähnt sich an der Schwelle zum Wahnsinn. Aufgewühlt von der respektablen Ernsthaftigkeit, mit der die Schwangerschaft festgestellt wurde, lässt sie die vergangenen Monate Revue passieren, ohne einen einzigen Augenblick in Zweifel ziehen zu dürfen. Endlich kreuzt die Obristin auf und verlangt, vollständig ins Bild gesetzt zu werden. Frau von G... echauffiert sich über den Arzt. Sie drischt den Boten für die Nachricht. Zum Glück in Abwesenheit des Arztes.
Kleist entwirft ein großes Bild, um das monumentale Gefälle zwischen den biologischen Tatsachen und Juilettas seelischer Lage zu illustrieren.
„Eher (als eine Schwangerschaft in meinem Fall für möglich zu halten, will ich glauben, so die Marquise), dass die Gräber befruchtet werden, und sich dem Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln wird.“
Die Mutter beruhigt sich im Modus der Gutgläubigkeit. Der Gatte soll beizeiten informiert sein.
*
„O Gott! sagt die Marquise, mit einer konvulsivischen Bewegung: wie kann ich mich beruhigen.“
Sie will eine Hebamme zur letzten Prüfung. Es folgt die innigste Zwiesprache. Julietta siezt die Mutter. Am Ende ruft jene einen Domestiken und beauftragt ihn, die Hebamme ins Haus zu holen.
Die Marquise weint im Schoss der Mutter. Sie beschwört ihre Tugendhaftigkeit. Daran hängt alles. Die Geburtsspezialistin verkündet ungerührt: „Die jungen Witwen, die in ihre Lage kämen, meinten alle auf wüsten Inseln gelebt zu haben.“
Julietta flüchtet in eine Ohnmacht. Die Obristin weckt sie auf, außer sich in ihrer Entrüstung.
„Geh! geh! du bist nichtswürdig! Verflucht sei die Stunde, da ich dich gebar!“
*
Die Hebamme weist den Weg zur völligen Verdunklung der Angelegenheit. Davon will Julietta nichts wissen. Sie entlässt die Kundige. Bald empfängt sie einen Brief, in dem sie von ihrem Vater des Hauses verwiesen wird.
Jede Abschwächung des Urteils schließen verschlossene Türen aus.
Morgen mehr.