„Wir gingen hinaus in den Hof, stellten uns an die Seite, warteten. Ein warmer Mittag im Frühling, Sonntag, das Viertel um die Fabrik. Leere Straßen, zwitschernde Vögel. Die Stadt war groß, sie lebte ihr Leben, wärmte sich unter der Sonne …“ Serhij Zhadan
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In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Gelockerte Leibeigenschaft
Wer sich zu wem ins Bett legt, ist Gott egal, denkt Peggy Münch. Sie liegt mit Luciano Montana im Bett ihres rechtzeitig verstorbenen Mannes. Er brachte es gebraucht mit in die Ehe. Manche nennen Luciano den Paten von K. Er war zehn, als ihn ein hartes Los zum Ernährer der Familie bestimmte. Er besprach sich mit der Großmutter, die noch nicht Vierzig war und keine Gelegenheit bekommen hatte, vor lauter Daseinsverdruss fett zu werden. Im Grunde ihres Herzens war sie die übertrieben starke Minderjährige geblieben, die einem zurückhaltenden Jungen anvertraut worden war. Der Junge hatte bis zu seinem unnatürlichen Tod keinen Eifer, aber einen tiefen Ernst gezeigt. Die Großmutter riet Luciano, seine Familie als Scherenschleifer zu ernähren. Doch sah ihn nie jemand etwas anderes abziehen als sein Rasiermesser.
Die Familie wohnte in San Luca über dem Chemiemonsun einer Wäscherei. In ihrem Dorf verlängerte die 'Ndrangheta im Verein mit der Armut Traditionslinien. In einem Regime gelockerter Leibeigenschaft bestimmten Verbrecher Lebensläufe. Seit dem Tod seiner Mutter war Luciano die Stütze seiner Großmutter und nach ihr die wichtigste Person im Haus. Abends schickte sie Luciano auf die Straße, wo er Touristen mit einer Polaroid-Kamera fotografierte und für die Abzüge einen fairen Preis verlangte. Das Geschäft lief gut. Luciano vergrößerte sein Revier. Endlich klapperte er wie ein Scherenschleifer die Küste der Götter ab.
Die Westküste Kalabriens erhebt sich über dem Tyrrhenischen Meer. Etrusker, Griechen, Römer, Vandalen, Normannen, Genueser, Spanier und Franzosen waren Luciano vorausgegangen. Er kam nach Gioia Tauro, bekannt für seinen Containerhafen. Viel kolumbianisches Koks erreicht da Europa. Die Importeure tarnen sich als Olivenölmagnaten.
Die 'Ndrangheta kümmerte sich um den jungen Mann. Sein anstelliges Wesen schrie nach Verwendung. Die Arbeit als Fotograf lehrte Luciano das Handwerk des Regisseurs als einer Spielart der Herrschaft. Er inszenierte Szenen lebhafter Freude und stellte einmalige Augenblicke. Mochten sich die Leute fühlen, wie sie wollten, auf seinen Fotos sahen sie gut aus. Luciano begriff, dass er sie in Sekunden neu erschuf. Er war ein Verführer von Männern und Frauen, die ihm nichts bedeuteten. Er verachtete sie. Ihre Leichtgläubigkeit fand er lächerlich.
Ein Capo nahm Luciano mit nach Tropea. Vierzig Meter über dem Meer sitzt die Siedlung auf einem Felsen. Man sieht Stromboli. Luciano verwandelte wieder Leute in Bilder. Am besten gefielen Luciano jene, die sich nicht bewegen ließen, die in ihrer Gleichgültigkeit die Kraft für eigensinniges Verhalten entdeckten. Sie nahmen sich die Fischplatte vor, schlenkerten eine Nudel zum Mund und schenkten sich nach, während ihre Angehörigen und Freunde auf den Strandräuber hereinfielen.
Schließlich schickte man Luciano nach Deutschland, wo er und seine Familie in K. der 'Ndrangheta eine Basis schufen. Der Großmutter unterstehen immer noch die Kassen im Familienbetrieb. Von Luciano verlangt die Matriarchin, dass er auch die weiblichen Familienmitglieder wie Männer behandelt.