In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Narrativer Coup
Nach dem übereilten Tod ihres Gatten kehrt die Marquise von O…, kurz Julietta, in ihr Elternhaus zurück. Die Eltern bewohnen das Kommandantenquartier einer oberitalienischen Zitadelle. Die wird gelegentlich von russischen Truppen gestürmt. Die Soldaten des Zaren sind auf dem Rückzug. Sie verlieren gerade einen Krieg, während sie manches Scharmützel gewinnen. Das italienische Fort stellt sie jedenfalls vor keine Probleme. Den an einen äußeren Rand der Entscheidungsfreiheit gedrängten Kommandanten treibt bald schon keine Hoffnung mehr an. Er versucht noch nicht einmal den Schein zu wahren. Juliettas Vater ergibt sich nur deshalb nicht, weil er den Eroberern den Großmut des Pardons nicht zutraut. Mit „sinkenden Kräften“ zieht er sich auf eine letzte Linie zurück. Nun tritt ein russischer Rittmeister auf den Plan, vom Kampfgeist glühend. Unumwunden fordert er den Verlierer zur Kapitulation auf. Herr von … wirft sich dem Sieger in die Arme.
„Auf diese Aufforderung (habe er) nur gewartet, seufzt er und entledigt sich seines Degens. Der glücklose Militär kehrt den Familienvater heraus. Er wolle sich bloß ins Schloss zurückziehen dürfen, um sich ganz „seiner Familie“ zu widmen.
Das erinnert mich an eine andere Niete. Lord Warden of the Marches Thomas Ap Llewelyn gab Fort Terbourg nach einem zweitägigen Sturm auf, obwohl die Festung sechs Monate zu halten gewesen wäre.
„Terbourg, heute Cherbourg - eine Hafenstadt am Ärmelkanal - ist seit der Antike befestigt und verfügt seit dem 10. Jahrhundert über eine Burg.“ Wikipedia
Der Kommandant ließ sich gerade lange genug beschießen, um den Anschein zu wahren, und übergab ihn dann mit kaum verborgener Erleichterung. In der Festung lagen vierzig Kanonen, siebentausendzweihundert Artilleriegeschosse, zwölftausend Bomben, vierzehnhundert Granaten, siebzehntausend Gargousses und siebzigtausend Pfund Blei. Größere Kaliber hätten das alles erst einmal verpulvert.
Scherzend passierten Ordonnanzen vom Wind bewegte Gehängte im gestreckten Galopp. Der aus Ysgubor-y-coed/Cardiganshire gebürtige Llewelyn verzog sich, begleitet lediglich von zwei im ozeanischen Stil skarifizierte Spitzbuben Richtung Wales.
Der von Kleist aufs Podest gehobene Stürmer und Dränger zeigt Verständnis für Juliettas glücklosen Vater, kommt ihm dessen mildes Wesen doch zupass. Er stellt G. eine Wache zur Seite und lässt ihn wegtreten. Sodann eilt er wieder „an die Spitze eines Detachements“ (und entscheidet), wo er noch zweifelhaft sein mag, den Kampf“. Er befiehlt das Löschen von Bränden, sich selbst zum ersten Feuerwehrmann machend.
Er leistet „Wunder der Anstrengung“, riskiert sein Leben. Er hantiert mit dem Schlauch wie eben noch mit dem Degen. Das ist keine Kleinigkeit. Bedenken Sie die Arsenale voller Schießpulver und Bomben. Explosionsgefahr liegt in der Luft. Kleist registriert ein „Schaudern (vor den) Asiaten“, und verweist so implizit auf eine gefühlte Fortsetzung der Hunnen- und Mongolenstürme. Das Grauen und der Reflexbogen kommen aus den altaischen Steppen. Das europäische Unbewusste legt dienstfertig ein Angstformular vor.
Morgen mehr.