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2024-05-05 15:19:10, Jamal

Daily Super High

„The day you’re born is not the day you grow, it’s the day you evolve. The revolution is up to you.“ Goitsemang Mvula

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„Wenn man etwas erfolgreich umgestalten will, muss man so weit gehen, dass die (Nachfolger) nicht mehr umkehren können.“ Deng Xiaoping

Am Ziel ihrer Träume angekommen wähnt sich die schwäbische Backpackerin Doris Steinbrecher, als sie auf Honolulu einen traumhaften Luxus-Retreat entdeckt. Als Schwangerschaftsvertretung für eine Yogalehrerin dockt sie an. Bald darauf wird sie selbst schwanger - von einem kenianischen Guru, der die Geburt seines Sohnes nicht mehr erlebt. Keno wächst in einem Regime uferloser Weiblichkeit und in einer Riesenkrippe auf. Ein Dutzend lediger Mütter managt den spirituellen Hotspot. Zur Grundversorgung gehört das tägliche Super-High. Die Frauen feiern Flow-Orgien.

Im Dunstkreis der rigoros empowerten Frauen wirkt Severin Hænning aka Swami Singh als perverser Einflüsterer. Auch er hätte Kenos Vater werden können. Seinen Ruf als Honolulus authentischster Yoga-Berserker verdankt der Däne nicht zuletzt einer abgekupferten Pumpgun-Rhetorik. Da seine längst verstummten Vorbilder niemals populär gewesen sind, erscheinen Severins Nachahmungen originär. Der Scharlatan weiß sich zu tarnen.

Seine Performance trieft vor Kitsch. Selten bemüht er sich um zutreffende Vergleiche. Seit Jahrzehnten reicht dem Guru Gauguin als Referenz. Severin fehlt die Redlichkeit, um zu der Erkenntnis aufzuschließen, dass Gauguins Südseerauschmotive vor allem das koloniale Kolorit von ‚Französisch-Polynesien‘ und eine unerträgliche Orientverklärung konservieren.

Severin bleibt dabei: die schönste Deutsche in seinem Revier, dem Rēna Mūna - Regenmond-Retreat, lagert so malerisch wie ein Modell von Gauguin auf Bast. Ihr Tahiti Touch prädestiniert Doris für die Hauptrolle in allen Animier-Streifen, die Severin drehen lässt.

Honolulu und Tahiti liegen 4200 Kilometer voneinander entfernt.

Mit den Schönsten die Reichsten anlocken; der skandinavische Swami nutzt eine perfekte Kulisse. Das Anwesen übertrifft landschaftlich und architektonisch alle einschlägigen Anlagen in den ozeanischen Weiten. Doris spürt die Aufmerksamkeit des Meisters. Sie setzt sich noch ein bisschen elegischer in Szene … am vorläufigen Ende einer Reise um die Welt, auf der sich bislang vor allem mittellose Rucksackreisende von der flippigen Schwäbin hingerissen zeigten. Doris genießt den Komfort nicht mit den Rechten eines Gastes. Die Aushilfsyogalehrerin bestimmt der heimliche Entschluss, sich nicht aus dem Paradies vertreiben zu lassen.

Zum Standardangebot gehören Plein-air-Repetitorien. Aktuelle Themen bieten Inner Engineering, Buoyancy, Reinforcement, Nutrition, Bio-Tensegrity, - Innere Ingenieurskunst, Auftrieb, Verstärkung, Ernährung, Biotensegrität.

Oma und ich in den 1980er Jahren © Jamal Tuschick

Im Flutlicht des magischen Frühlings ‘69

„Yoga war von Anfang an abhängig vom Handel … genau wie Kaffee … oder Religion. Missionare, Seefahrer, Söldner und Kaufleute haben auf ihren Reisen … nicht nur Waren, sondern auch Wissen transportiert. Yoga ist also seit jeher Gegenstand eines Kulturaustausches gewesen.“ Kristin Rübesamen

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In Rückblenden beleuchte ich den Werdegang von Doris Steinbrecher. Sie erlebt ihre Yoga-Initiation Ende der 1960er Jahre. Fürchtegott, der Sohn von Oma Erika, wird ihr erster Lehrer.

Ein öder Wohnzimmersommersonntagnachmittag Ende der 1960er Jahre. Die Schokoladentorte und der unmanierlich-interessante Anblick von Oma Erikas dünnem Sohn versöhnen Doris mit der Langeweile. In der Plattentruhe steigen und fallen die Schallplatten in einem magischen Geschehen. Rudi Schuricke ist Oma Erikas Mann am Mikrofon. Rudi Schuricke war ein Star von „Hitlers Hitparade“ - so der Titel eines Films von Oliver Axer und Susanne Benze. Erika Hölzenbein ist nicht Doris‘ Oma, sondern die Schneiderin ihrer Mutter. Fürchtegott sitzt anders als normale Leute. Oma Erika moderiert den Eigensinn ihres Sohnes verständnisheischend. Zum Glück macht er nicht nur Yoga, sondern ist auch Finanzbeamter, übrigens in Ludwigsburg.

Im Augenblick ist Yoga noch eine seltsame fremde Welt für Doris. Doch ahnt sie was. Erikas Wohnzimmer bleibt unter der Woche geschlossen. Die meisten Möbel und so auch das Sofa sind so lange abgedeckt. Am meisten interessiert Doris eine Schallplattenvitrine mit Intarsien. Die Vitrine firmiert als Truhe und glänzte neben einem Vertigo. Oma Erikas Alltag spielt sich in der Küche ab. Da bäckt sie für den Besuch Pfannkuchen oder füllt mit dem Teig die Negativform eines schweren, jugendstilistisch verzierten Waffeleisens.

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Ein Vorstadtsonntagvormittag im Flutlicht des magischen Frühlings Neunundsechzig. Die dahinplätschernden Routinen am Saum der Seligkeit enden je für Dorothea Hölzenbein, eine so perfekt ins Bild vom perfekten Haushalt passende Person, dass sie eine Jeans für sich nicht passend findet.

Eher unabsichtlich, aber auch nicht ganz zufällig beobachtet Doro durch einen Türspalt eine Szene im Arbeitszimmer ihres Mannes. Vom Anblick seiner neuen Schülerin gedopt, legt der Steuerspezialist und Yogaexperte Fürchtegott Hölzenbein eine irritierende Hilfsbereitschaft an den Tag. Fürchtegott gehört dem soeben gegründeten Berufsverband der Yogalehrenden (damals noch Yogalehrer) in Deutschland, kurz BDY, an.

Ich will ihn nicht verzeichnen. Fürchtegott ist kein Bürokrat auf der Matte; kein esoterischer Spießer. Seine Gründlichkeit verbietet ihm jedwede Frivolität. Fürchtegott bleibt auch in dem Fach seiner Passion bis auf die Knochen seriös. Doch löst das fügsame Mädchenfleisch unter seinen Händen Empfindungen aus, die Doros hygienische Feierabendroutinen torpedieren. Ich muss Sie hoffentlich nicht daran erinnern, was eingedrehte Lockenwickler für Auswirkungen haben können.

Destroy the limiting belief in your mind

Eine der Standardschoten, mit denen Motivationstrainer ihre Klientel einstimmen, verdankt sich dem Ausnahmegewichtheber Wassili Alexejew (1942 - 2011). Ich verzichte auf die Einzelheiten, die hier wohl niemanden interessieren, und konzentriere mich auf den psychologischen Kern. 1974 übertraf Alexejew eine Marke auf Weltrekordniveau vermutlich nur deshalb, weil er ausgetrickst worden war. Seine Trainer hatten eine Hantel mit 250 Kilo beladen, gaben aber gegenüber dem Athleten ein geringeres Gewicht an. Seither kursiert die Episode als Paradebeispiel für die Überwindung einer mentalen Sperre. Angeblich sei Alexejew bis zu dem Rekord felsenfest davon überzeugt gewesen, an einer unverrückbaren Grenze scheitern zu müssen. Natürlich ist das die Geschichte vom Glauben, der Berge versetzt.

Der Guru im Gatten

Der Finanz- und Yoga-Experte Fürchtegott Hölzenbein macht eine Tür auf und Doris Steinbrecher überschreitet die Schwelle. Sie steht am Anfang einer Verwandlung. Doch wie stets ist nicht alles reinsten Wassers. In der Gruppe, die sich wöchentlich im evangelischen Gemeindehaus trifft, entbehrt Doris die Exklusivität. Alles erscheint ihr flacher, weniger edel, sobald die Leiber sich tummeln und das Profane triumphiert. Edel ist ein vorsichtiges Wort für heilig. In Fürchtegott den Priester einer eigenen Religion zu erkennen, gelingt Doris mühelos.

Sie schwärmt und fürchtet sich.

Die Einzelstunden mit dem Meister folgen eigenen Gesetzen. Sie finden in Fürchtegotts häuslichem Arbeitszimmer statt. Der Hausherr betreibt Abschottung im Verhältnis zur Ehefrau, die den Guru im Gatten nicht zu erkennen vermag. Vorsichtshalber verliebt sich Doris in Fürchtegott. Der unbeholfene Spielzug verschleppt das Ungute im Spektrum zwischen Mundgeruch, Schweißgestank und der fürsorglichen Hand viel zu oft in der Nähe weiblicher Sekundärmerkmale. Doris fühlt sich mitunter an Hilfestellungen ihres Sportlehrers Haug von Tettnang erinnert. Der Nachfahre eines schwäbischen Rittergeschlechts beherrscht die Schliche des dezenten Übergriffs. Einschlägige Vorwürfe würde er sich vehement verbitten und mit rechtlichen Schritten drohen und jeder Schmälerung seines großen Namens notfalls in der Manier seiner Vorfahren entgegentreten.

Da traut sich Doris nichts zu sagen. Fürchtegott steht aber auf einem anderen Blatt. Mit der ersten Yoga-Sequenz, die er Doris nahebringt, macht er ihr sein erstes Geschenk. Eine neue Welt öffnet ihre Pforten für die Eleve.

Randnotiz

Die erste bemannte Mondlandung am 20./21. Juli 1969 im Rahmen der Apollo-11-Mission vereint die Welt vor den Bildschirmen. Die maschinelle Überwindung menschlicher Beschränkungen fasziniert auch Doris. Die Wallfahrt zum Mond erlebt sie als Hochamt in ihrem Elternhaus. Es wird Zeit, dass wir über ihre große, im Enzkreis an allen Ecken präsente Familie reden. Doris ist weiß Gott kein Einzelkind. Sieben Schwestern rivalisieren im Bund der Steinbrecher-Töchter. Sechs werden erfolgreiche Männer heiraten. Nur Doris wird durch den Rost gediegener Bürgerlichkeit fallen.  

25 Jahre später - Reuige Rückkehr

Jeden Abend untersucht sie ihren Sohn. In den Achselhöhlen und im Schambereich fahndet Doris nach den Verursachern von Hirnhautreizungen. Die Angst vor Frühsommer-Meningoenzephalitis sitzt tief im mütterlichen Fürsorgekörper. Sie mischt sich mit diffusen und konkreten Befürchtungen und einer ewigen Hinterkopf-Litanei. Den Druck verstärken im Augenblick Nachrichten von Milzbranderregern, die ewig im sibirischen Permafrost eingeschlossen waren und in diesem viel zu heißen Sommer aus aufgetauten Kadavern entweichen. Rasend schnell greifen die Anthrax-Sporen um sich. Sie dezimieren Rentierherden und ihre Hirten. Indigene Gemeinschaften müssen evakuiert und unter Quarantäne gestellt werden.

Gletscherschmelzen treiben Pandemien an. Achtundzwanzig bis eben unbekannte Virus-Gruppen fanden Wissenschaftler im Tauwasser. Dazu kommen steinalte Spielarten von Pocken, Spanischer Grippe und Beulenpest.

Lausen nannte Doris‘ im nächsten zum Kloster von Maulbronn gehörenden Ort geborene Oma Schäufele die Zeckeninspektion. Mütter lausen ihre Kinder und, wenn es sich ergibt, auch die Kinder anderer Leute. Zur großmütterlichen Kernkompetenz zählten lauter Warnungen. Nach dem Verzehr von Kirschen durfte kein Wasser getrunken werden. Beschworen wurde das vermeintliche Gift der Vogelbeere. Eine versunkene Welt aus Vorhaltungen, Binsen und Kalendersprüchen: ein rationalisierter Aberglaube offenbarte sich im Unwiderruflichen, egal ob vom Wetter oder von der Kindererziehung die Rede war. 

„Hal-lob-lob-lob.“

Das ist der Koppel-Ruf. Das Anwesen von Doris‘ Eltern heißt im Familienmund Koppel. Kenos Großmutter ruft den Enkel zum Abendbrot. Der Knabe genießt die Privilegien eines Kronprinzen, während seine Mutter und deren im Augenblick abwesende Liebhaber Raimund Freitag als Geächtete zu keiner Mahlzeit ins Haupthaus eingeladen werden. Noch nicht mal zum Sonntagskaffee.  

Keno entwischt seiner Mutter. Er fegt durch die Tür in die Freiheit eines guten Lebens. Eine Maus schießt über schrundige Dielen und verschwindet unter einer verschrammten Kommode. Doris weist ihren Widerwillen ab. Nach ihrer reuigen Rückkehr wurde ihr und dem Anhang ein Verschlag zugewiesen. Die Bude über dem Stall ist eine Strafe. Doris ist bereit zur Buße. Sie weiß, dass man sie trotzdem bockig und undankbar findet.

Sie streckt sich. Flexibel ist Doris in jeder Hinsicht. Es bleibt ihr nichts anderes übrig. Lustlos gibt sie Kurse an der Pforzheimer Volkshochschule. Erbittert wischt sie Böden. Doris‘ beste Jugendfreundin ist nun ihre beste Arbeitgeberin. Michaela Frankenstein treibt das Yoga-Business mit Impertinenz auf die Spitze. Ihrer effektiven Ausstrahlung zum Trotz ist Michaela depressiv und alkoholkrank.

Die Expertinnen bewegen sich in Grauzonen der Hochstapelei. Während sie sich mit Drogen in Gang halten, suggerieren sie der Kundschaft, den Aktivismus der Selbstheilungskräfte so mühelos wie turbomäßig mobilisieren zu können.

Der Duft des Göttlichen

„Wann immer es wehtut, gehe ich einen Schritt weiter.“ Isabelle Lehn

In den 1980er Jahre vagabundiert die Aussteigerin Doris Steinbrecher durch Asien und Ozeanien. Im Dunstkreis verspäteter Hippies und früher Raver bewegt sie sich auf einem transkontinentalen Party-Trail. Über Wasser hält sich die Meisterschülerin des Yoga-Pedanten Fürchtegott Hölzenbein mit Beach Yoga, manche sagen Bi... Yoga. Doris gehört inzwischen zur Easy-Flow-Fraktion. Sonne und Strand, Mond und Sterne. Sex auf Acid. Joints zum Frühstück. The Paradise to go. Kein Gipfelsturm im Himalaya. Keine Exerzitien. Keine Klosterklausur. Keine religiösen Klimmzüge. Keine Kontemplation über die beflügelnde Meditation hinaus. Doris klappert Backpacker-Hotspots ab und frönt der Sundowner-Romantik. Jeder Abend bietet ein furioses Naturschauspiel. Eben noch färbt sich der Horizont, man traut sich kaum zu sagen, in welchen Farben, so kitschig ist das, im nächsten Augenblick leuchten die Sterne so, dass sich Doris in den Weltraum gezogen fühlt.

Im Rausch der getunten Sinne wähnt sie sich unter dem Himmel eines anderen Sterns. Ein Mix aus Spiritual Stretching und Tauchen hält sie in Form. In der Lodge eines Hotels auf Pulau Mabul - einem Tropentraum vor der Nordostspitze Borneos - trifft sie den Australier Jon. Umstellt von Kinokulissen bemüht sich das Zufallspaar um eine adäquate Performance.

Die Riffkante der Küstenlinie fällt steil ab. Das Revier wird von Fledermausfisch- und Barracuda-Schwärmen besucht, wie man sie sonst nur auf offener See trifft. Doris taucht ein in die Unterwasserwelt der Celebessee, einem Randmeer des Pazifiks. Der periphere Ozean breitet sich in einem Becken aus, das an Stellen über sechstausend Meter Tiefe erreicht. Schildkröten ziehen an der Verzauberten vorüber. Die lebenden Fossilien zeigen sich gleichgültig gegenüber den vorsichtigen Berührungen ihrer wie Flügel im Wasser schwebenden Flossen.

Jon ist längst nicht mehr an ihrer Seite, als Doris in einem Yoga-Retreat auf Honolulu die Lage peilt. Über dem Geschehen vor Ort thront ein kenianischer Charismatiker hoch in seinen Siebzigern. Er überwindet Doris' Widerstände. Auf einem Parcours degoutant ausgeleierter Routinen verführt er die Neue, die nicht erkennt, dass ihr latenter Weltschmerz und ihre manifeste Wehmut ein Wetterleuchten ihres Heimwehs anzeigen. Die sexuelle Supernova des greisen Gurus vollzieht sich unter sämtlichen Vorzeichen einer End-Spannung. Er stirbt glücklich. Erst nach seinem Tod bemerkt Doris, dass sie von dem alten Sack geschwängert wurde. Sie findet Aufnahme in einer höchst effektiven Gemeinschaft. Die Kombi aus Geschäftstüchtigkeit und Spiritualität kennt Doris von daheim. Ihr Vater, der kaum alphabetisierte Selfmade-Millionär und Seelenberserker Anton Steinbrecher, verkörpert die Dualität von derbem Materialismus und krachender Esoterik.

In der Obhut kluger Frauen kommt Keno zu Welt. Während seiner ersten Lebensjahre sieht er einer glänzenden Zukunft auf Hawaii entgegen. Doch dann dreht sich das Rad. Bei einer Stippvisite im Ashram von Poona begegnet Doris der schwäbische Gottessucher Raimund Freitag. Doris und Raimund hätten sich in ihrer nordwürttembergischen Ursprungsumgebung leicht treffen können, es gibt zahllose Kontaktpunkte. Die Bandbreite reicht von einer Diskothek in Calmbach über Ausflugsziele auf dem Dobel und in Neuenbürg bis zu einer Rauschgifthöhle in Mühlacker. Beide reagieren eher verhalten auf den Ashram-Chef Chandra Mohan Jain aka Acharya Rajneesh aka Bhagwan Shree Rajneesh (ab 1989 Osho). Knall auf Fall beschließen sie ihre Rückkehr nach Deutschland.

Die Väter der Propheten

Eishaie erreichen ihre Geschlechtsreife im Alter von hundertfünfzig Jahren. Im Schneckentempo wachsen sie bis zu der Größe Weißer Haie. Es kursiert die Vermutung, dass sich im Arktischen Ozean Exemplare der Erforschung verweigern, die schon in der Kolumbusära existierten. In einem Grönlandwal, den man in diesem Jahrtausend gewaltsam auf Eis legte, fand man Harpunenspitzen, die verrieten, dass das Tier im 19. Jahrhundert seinen Jägern entgangen war. Obwohl Grönlandwale kaum natürliche Feinde haben, „bleibt ihr Überlebensprogramm immer in Alarmbereitschaft“ (David A. Sinclair).

Rückblende/1977

Die bleierne Zeit liegt in den letzten Zügen. Doris bessert im Pforzheimer Tonträger ihr Taschengeld auf. Die klamme Kundschaft kann da ohne Kaufzwang stundenlang Platten hören.

Kein Kaufzwang. Das ist die Geschäftsidee. Doris‘ Chef Bernie Dalinger ist ein verklebter Typ, ewig ungekämmt, verpennt und verpeilt. Trotzdem bestens informiert. Bernie sitzt jeden Abend im Treff und genießt sein Unternehmerglück im Kreis der Propheten. Diese Leute machen Ansagen und behalten Recht. Sie sind nach dem Abitur ohne Auszeit und Studium durchgestartet, selbstverständlich unter Umgehung staatsbürgerlicher Pflichten.

Die Väter der Propheten lassen ihre Beziehungen spielen. Sie sind mit ihren Söhnen auch schon bei befreundeten Sparkassenleitern (Tennisfreunden) vorstellig geworden und haben Kredite losgeeist: für eine neuartige Dämmstoffproduktion, für die Umgestaltung einer aufgelassenen Fabrik, für einen Weinhandel, der vierzig Jahre später als Mutterhaus von zig Filialen in aller Munde sein wird. Die Propheten verkörpern die nächste Generation des badisch-schwäbisch-bodenständigen Mittelstandes.

Michaela Frankenstein besucht Doris im Tonträger. Die beiden kennen sich aus Fürchtegott Hölzenbeins Yoga-Kurs im evangelischen Gemeindehaus von Mühlacker. Michaela hat einen totalitären Vater. Sie darf nicht jobben. Auch ihre Mutter ist dem „Haushaltsvorstand“ unterworfen. Sie trägt ihm die Schlappen nach und heftet sie an seine Füße. Vater Vincent gibt den bibelfesten Tyrannen in der Strickjacke. Er hält sich an eine anachronistische Verbotsliste und kritisiert die Manieren der Freundinnen seiner Tochter. 

Gegen Vincent hilft nur träumen. 

Jeder Jahrgang hat seinen Selbstmörder. Martin Rohleder lehnte sich mit Rimbaud gegen die Verhältnisse auf. Er lebte bei einer abgedrehten Oma und einem auf LSD-Trips in sein eigenes Sonnensystem vorgedrungenen Opa in einem Knittlinger Widerstandsnest. Michaela kommt gerade von der Beerdigung. Sie eist Doris los. Solange die Freundinnen sich etwas zu erzählen haben, vertritt Bernie die Aushilfe. Das gehört zum Laissez-faire. Die Separatistinnen tasten sich durch das Unterholz ihrer Gefühle. Sie bemerken nicht, dass sie beobachtet werden. Fürchtegott Hölzenbein verbringt einen Brückentag auf der Pirsch. Er stellt allen möglichen Leuten nach. Sich selbst auf dem Laufenden zu halten, ist eine Obsession des pietistischen Esoterikers. Er führt sich zurück auf jene dreitausend Waldenser und Hugenotten, die im August 1698 im Gefolge des niederländischen Diplomaten Pieter Valkenier aus dem Piemont nach Süddeutschland kamen und so auch in das Herzogtum Württemberg. Ihre „Kolonien“, am Reißbrett entworfene Sieldungen, heißen bis auf den heutigen Tag Klein- und Großvillars, Pinache, Corres und Serres.

„Klassisches Tantra ist für Menschen gedacht und konzipiert, die ein aktives Leben führen, die Arbeit und Familie haben. Es ist nicht-transzendental und schließt jeden Teil der menschlichen Erfahrung ein. Es erkennt die Göttlichkeit in der gesamten Realität an.“ Christopher Wallis

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„Die Erfahrung unserer Realität … stellt sich für einen befreiten und erwachten Menschen völlig anders dar als für jemanden, der sie aus der Sicht seiner Konditionierungen erlebt.“ CW

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„Ich fühlte eine unglaubliche, unbeschreibliche Energie in meinem Herzen.“ CW

Kraftvolle Infusion der Gnade

Das Leben vollzieht sich im dreifachen Prozess von Schöpfung, Stillstand und Auflösung. Seinen Grund findet dieser Vorgang im Nichts, das zugleich „ultimative Leere und vollständige Fülle ist“. Das überliefert Christopher Wallis als Quintessenz der Lehre des im 10. Jahrhundert in Kaschmir wirkenden Philosophen, Dichters und Mystikers Abhinavagupta. Wallis sagt dem Erleuchteten nach, er habe den tantrischen Spielraum vollkommen genutzt und „die totale Integration und Erweiterung aller Ebenen des eigenen Wesens“ erlebt.

Zitate aus Christopher Wallis, „Licht auf Tantra. Die Philosophie hinter dem modernen Yoga“

Abhinavagupta reagierte in seinem Hauptwerk „Licht auf Tantra“ zumal auf zwei Traditionslinien, die ihn prägten - Trika und Krama. Die Überführung divergierender Anschauungen in einen Hafen der Harmonie vollendet sich, so Wallis, in der Trika-Krama-Synthese.

„(Darin) gibt es keine Reinheit und Unreinheit, keinen Dualismus und keinen Non-Dualismus, kein Ritual noch dessen Ablehnung.“

Wallis beschreibt Vormomente der Tantrik-Praxis auch am Beispiel seines eigenen Erwachens. Er versteht Śaktipāta als „reale, universelle, kulturübergreifende … Erfahrung“. Seine erste „Erfahrung von Śaktipāta“ schildert er als Adoleszenzereignis. Nach einer „langweiligen“ Meditation bemerkte er, „dass sich scheinbar die ganze Welt verändert hatte“.

„Ich fühlte eine unglaubliche, unbeschreibliche Energie in meinem Herzen.“

Ihn erfüllte eine Liebe, die sich nicht in Einzelheiten verhakte. Wallis begriff sie als das „Realste“, „was in der Wirklichkeit da war“. 

Von Śaktipāta aufgeschlossen zu werden, kann voraussetzungslos jeder/m widerfahren. Deshalb charakterisiert Wallis das Erwachen als eine „kraftvolle Infusion der Gnade“. Seit den schwülen Offenbarungen im Dunstkreis des Yoga-Pedanten Fürchtegott Hölzenbein erwartet Doris diesen Gnadenakt. Erleuchtungssehnsüchtig war sie ein Jahrzehnt über die transkontinentale Heerstraße yogamatter Wahrheitssucherinnen getrekkt. Seit ihrer kaum freiwilligen Rückkehr unterrichtet Doris spirituelle Gymnastik an der Pforzheimer Volkshochschule. Als ledig gebliebene, sozial desaströs instinktlose Schwester führt sie ein Schattendasein im Kreis der krachend lebhaften, formidabel aufgestellten Steinbrecher-Töchter. Ihr nach allen Seiten hin gefährdeter Abschnittsgefährte Raimund verstärkt die isolierende Trostlosigkeit. 

Sohn Keno distanziert sich von der trostlosen Mutter.  Doris bekam Keno von einem greisen kenianischen Guru, der die Geburt des Jungen nicht mehr erlebte. Raimund spielt keine Rolle bei der Erziehung. Der Steinbrecher-Klan wirkt sich in seinem Verbreitungsgebiet massiv aus; Keno hält sich an die vitale Verwandtschaft. Er vagabundiert durch die Haushalte seiner Tanten, wenn er nicht bei den alle übertreffenden Großeltern residiert.

Es gibt niedrige und gleichrangige Angehörige. Viele Männer, die für Kens Opa Anton arbeiten, gehören zur weitläufigen Verwandtschaft. 

Es geht darum, jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen, erklärt der große Organisator. Anton bereitet Keno auf Führungsaufgaben vor. Der Knabe erhält Unterricht in der Reitschule Mack. Die beste Reiterin der Familie kriegt den Auftrag, Keno auf Herz und Nieren zu prüfen. Hunderte von (im Reiterstübchen auf Tafeln verrottenden) Ehrenzeichen und wenigstens hundert auf Regalen glanzlos gewordene Pokale erinnern an Veronikas Erfolge als Springreiterin.

„Die tantrische Revolution (vor tausend Jahren) brachte ihren Anhängern ähnlich befreiende Erneuerungen wie so mancher politische Umbruch in Europa viele Jahrhunderte später. Sie räumte auf mit den Vorstellungen eines patriarchalischen Kastensystems und lehrte Freiheit, Gleichheit und Integration, basierend auf dem gemeinsamen göttlichen Ursprung aller Wesen.“ Diana Sans

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„Wir wachsen durch dieselben Hindernisse, die uns zu Fall bringen.“ Yoga-Sprichwort, überliefert von Christopher Wallis

Verfehlter Pfad

Sie sickerten an Binh Phu vorbei, einem Dorf in der Provinz Dinh Tuong, siebzig Kilometer vor Saigon. Eine Vorstellung des Feldtheaters der Nationalen Befreiungsfront bannte die Aufmerksamkeit des Volkes. Ein gelber Stern auf blaurotem Grund markierte den Spielplatz. Jemand rief: „Hoan ho hoa binh“ - Es lebe der Frieden. 
Für Binh klang das wie Hohn. Er gehörte zur Lực lượng đặc biệt, einer Spezialeinheit der südvietnamesischen Army of the Republic of Vietnam. Auf der Gegenseite operierte die Nordvietnamesische Volksarmee. Deren sogenannte Provisorische Revolutionsregierung hatte sich in der Gegend längst festgesetzt. Binh vermutete eine Lockheed YO-3 im Himmel über dem Kommando, ein leises Flugzeug. Near-silence. Die Männer glitten zum Fluss, in dessen Delta sie operierten, sie bewegten sich in einer Kraterlandschaft mit unschönen Grüßen der B-52. Die Anspannung verwandelte versehrte Palmen in zugespitzte Totempfähle. 
„Giang Song“, sagen Vietnamesen zu ihrer Heimat - Berg und Fluss. Binh roch Terpentin in den Schwaden auf dem Mekong. Wenige Jahre später gelangte er als Schiffbrüchiger vor Malaysia erst an Bord des Hospitalschiffs Helgoland und dann in das Grenzdurchgangslager Friedland. Die Eingliederung der vietnamesischen Boatpeople in die deutsche Gesellschaft vollzog sich geräuschlos. Doris Steinbrecher begegnete dem freundlich-zurückhaltenden Migranten zum ersten Mal in Fürchtegott Steinbrechers Yoga-Gruppe im evangelischen Gemeindehaus ihrer Geburtsstadt. Doch gab es keine Achtsamkeitsakademie und kein Flow-Center in Mühlacker. Binh verhehlte sein Potenzial. Er verbarg sich förmlich vor den Anfängerinnen mit ihren kulturell determinierten Anlaufschwierigkeiten. Das westliche Ego stand ihnen im Weg. Abhinavagupta schildert die souveräne Yogini als eine Person, die ihre Standpunkte „nicht von der Masse der törichten Lehren in dieser Welt in Zweifel ziehen lässt“. Ihre Position gründet in der „wahren Natur der Dinge“. Auf einem Vorhof der Erleuchtung erlebte sie zum ersten Mal die Gnade. Christopher Wallis spricht von einem „Vorgeschmack auf die Perspektive eines radikal befreiten Bewusstseins“. 

Gnade erwartet jede Person, die sie empfangen kann. Eine Voraussetzung für das Glück, Gnade zu erleben, liegt in Aufhebungen der Differenzen zwischen Weltlichem und Spirituellem mit jeder Faser des Seins. Wer sich aber unbeirrbar in der Verfolgung eines eigensinnigen Plans zeigt, mit der Idee, zu wissen, wer er ist, verfehlt den Pfad der Gnade. Doris verstand Binh als zweiten Navigator auf ihrer Expedition ins Ungewisse. Gemeinsam genossen Doris und Binh einen Schauer erregenden Kirchenorgelrausch. Eine Meisterin spielte sich in Form, und die Liebenden gewannen ein weiteres Weißt-du-noch. Binh fiel kein Zacken aus der Krone, wenn Doris ihn an jedem Schalter überholte, um den zahlenden Part zu übernehmen. In ihrer Nähe war Geld (im Damals ihrer Stellung als Millionärstochter) so unvermeidbar wie Kuhscheiße auf dem Weg zur Weide. Binh bat Doris, keine Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. So viel Macho-Ego war dann doch in der transzendierten Persönlichkeit. Wir wittern, warnen, werben und tarnen nach den Vorgaben unseres genetisch-sozialen Strichcodes.

Nackt war die Welt für beide wieder in Ordnung.

Innere Sonnenfinsternis

Ursprünglich wollte ich den Lebenslauf der schwäbischen Yogini Doris Steinbrecher nur schlaglichtartig beleuchten. Doch ratz meinte, sie würde gern mehr über Doris‘ ersten Liebhaber Binh erfahren. Das Interesse der Leserin haucht der Figur Leben ein. Es verändert die Spielanordnung.

1972 erfüllten amerikanische Einheiten in Vietnam „ein Wochensoll an toten Feinden“. Ermordete Kinder listeten sie als Vietkong, Doris las davon auf einer Wandzeitung im Jugendzentrum von Mühlacker. Sie brannte darauf, mehr über „das Töten am Fließband eines verbrecherischen Krieges“ zu erfahren.  

Zur gleichen Zeit in Quảng Trị - aus diesem Krieg werden keine Erinnerungsvereine mit Pauken und Trompeten hervorgehen, dachte Staff Sergeant Amsterdam Vaughan. Es wird alles gleich vergessen oder für immer Schande sein. Okra und Schwarzaugenbohnen - Amsterdam stammte aus einer Schwarzbrenner-Dynastie in Ferriday auf der Louisiana-Seite des Mississippis. Er dachte an einen Technicolor-Rausch der 1950er Jahre mit John Wayne an Deck eines Flugzeugträgers vor einer zerschossenen Küstenlinie und unter einem Himmel voller Leuchtspuren und Kamikaze-Piloten auf Speed. Neben Amsterdam rastete Binh Văn Hương. Der Second Lieutenant öffnete ein Auge. Feuerschiffe strichen über Wipfel, ihre Flügel segelten. Feuerschiffe - fliegende Kanonenboote - Gunships. Die Gunships rasierten einen Dschungelsaum und schossen Bäume zu Fetzen. Während der Tet-Offensive war Amsterdam von Splittern einer Claymore-Mine getroffen worden. Man hatte ihn in Japan zusammengeflickt.   

Viele blieben im Dreck liegen. Binh hatte Trooper erlebt, die vor Erschöpfung schwachsinnig geworden waren. Manchen Männern fehlte die Kraft, sich eine Fliege von der Nase zu wedeln.  

Ein Maschinengewehr sang sein Lied. Männer rutschten wie losgelassene Puppen zurück in ihre Löcher, die Feuerschiffe drehten ab. Ein amerikanischer Lieutenant fiel auf die Knie, er sah verärgert aus. Amsterdam sagte: „Scheint kein Spiel für höhere Chargen zu sein.“

 Eine innere Sonnenfinsternis verdüstert Doris zum Ausklang der 1970er Jahre. In ihrer Ursprungsumgebung entdeckt sie nur Enge und Tristesse. Im Anschluss an einen Familienkrach zieht sie Knall auf Fall von Ö… an der Enz nach Frankfurt am Main. Am Tag ihrer Ankunft findet sie ein strahlend helles, unüblich großes Zimmer in einer Wohngemeinschaft. In der ersten Nacht wird Doris zur Geliebten des löwenmähnigen Philosophiedozenten Wolf von Löwenstein. Vor Ablauf ihrer ersten Frankfurter Woche steht Binh auf der Matte und belächelt Wolfs schäumenden Herrschaftsanspruch. Im Ornat magischer Gewissheiten nimmt Binh seinen Platz ein. Er liebt Doris unter ihrem persönlichen Himmel aus durchhängenden Tüchern, während in der Küche die Genossen streiten. Melodien der Angst untermalen ihre Gereiztheit. In manchen Wohngemeinschaften sind die Türen ausgehängt, das kommt für Doris nicht in Frage. Ihr selbstbewusster Orgasmus lässt die Wohngemeinschaft aufhorchen, man guckt, wie Wolf es aufnimmt.

Schmiedeeiserne Glockenleuchte

Ö…1996 - alles funktioniert noch, tut aber weh. Doris beherrscht das Yoga-Vokabular in jeder handelsüblichen Größenordnung. Manchmal glaubt sie, von Śaktipāta aufgeschlossen worden zu sein.

„Śaktipāta bezeichnet im Hinduismus die Übertragung (oder Verleihung) von spiritueller Energie auf eine Person durch eine andere oder direkt von der Gottheit.“ Wikipedia 

Dann überkommen sie wieder Zweifel. Doris beobachtet die Luftspiegelungen ihres täglichen Unglücks am Küchentisch ihrer Beinah-Schwägerin Renate. Mit dem Willen zur richtigen Aussprache spricht der Vater ihres Lebensgefährten Raimund Fremdwörter besonders falsch aus. Savoir-vivre ist ein Zungenbrecher. Savoir-vivre hat man nicht zu haben.

Der Fisch aus der Konserve genügt nicht nur, vielmehr gibt es nichts Besseres nach dem Latrinen-Menetekel von „der schlechten Zeit“, die im Kopf des Witwers weitergeht, mit Feuerstürmen, Brandleichengestank und Hunger.

Die Haltbarkeit von Lebensmitteln in Büchsen ist ein unerschöpfliches Thema. Mit den Konservenbatterien in den Kellerregalen überstehen wir jederzeit einen nuklearen Winter.

Der Hering aus dem Glas und das halbe Hähnchen aus dem Wienerwald sind nicht nur kulinarische Höhepunkte, sondern auch Hostien des Gedenkens an den ausgestandenen Hunger. Die größte Delikatesse ist das Kotelett mit Möhrchen-Gemüse, zubereitet von Raimunds Schwester, in dessen Haus der Greis sich allmählich verkrümelt. Doris entdeckt Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn, die sie aus der Fassung bringen. In der letzten Zeit verschleiert sich Raimunds Indolenz mit einem beinah bürgerlichen Auftritt. Raimund trägt die dezent weitergereichten Kurzarmflanellhemden von Antons reichstem Schwiegersohn bis zur Fadenscheinigkeit auf. Tayfun Yıldız, verheiratet mit Doris' sportlichster Schwester Veronika, verkörpert die international renommierte, kardiologische Koryphäe an der Spitze der Schwarzwaldklinik in echt. In seinem Kraichgauer Genesungsestablishment erscheint er wie eine osmanische Ausgabe des von Klausjürgen Wussow süffig verkörperten Professor Brinkmanns. Leben in Weiß. Der gebürtige Istanbuler gibt den Weltmann in Schwaben. Spießig findet er geil. Deutsche Provinz, deutsche Autos, deutsches Bier; das Glück im Winkel der Reihenhaushälfte mit Jägerzaun und schmiedeeiserner Glockenleuchte über der Haustür. Das restaurierte Milchhäuschen. Die Wiederbelebung dörflicher Gemeinschaftsbacktraditionen. Wochenmärkte und Hofläden. Gelangweilte Hausfrauen in Hotpants vor antiken Eiscafés. Tayfun besitzt diese V-Kragensouveränität, die man sich nicht einfach abgucken kann. Ihn erregt es zuverlässig, in seinem 1963er-Porsche 901 (ab 1964 911) die Landstraße direkt unter dem Bodenblech zu spüren. Von dem Oldtimer (mit einem luftgekühlten Sechszylinder-Boxermotor) wurden bis zur Umbenennung lediglich zweiundachtzig Exemplare verkauft. Wer weiß sowas überhaupt noch?

Prekäre Heimkehrerin

Mit Dank an Musenzeit, die mich mit ihrem Interesse auf diese Textwolke beförderte. Es riecht nach frisch gemähtem Gras. Obst hängt zum Greifen nah in Bäumen und Büschen. Mit halbem Ohr registriert Keno Geräuschschwaden. Das Terrassen-Parlando seiner Verwandten schwänzt er. Abgasschlieren wehen vorüber.

Kenos Mutter, die Yoga-Lehrerin Doris S., versucht sich - nach zehn Jahren auf einem transkontinentalen Flow-Trip - in ihrer Ursprungsumgebung wenigstens auf Volkshochschulniveau zu etablieren. Sie haust auf dem Dachboden eines Stalls. Den Pferden unter ihr wird mehr Bedeutung beigemessen als der prekären Heimkehrerin. Gleichzeitig erlebt ihr - mit einem Kenianer gezeugter - Sohn als Enkel des furiosen Selfmade-Millionärs und Herrenreiters von eigenen Gnaden Anton Steinbrecher einen Aufstieg. Das zweisprachige Kind avanciert zum designierten Nachfolger des Chefs.

Alle nennen Anton Chef.

Nach harten Dortmunder Volksschuljahren als Legastheniker kam Anton mit dreizehn in eine Elektrikerlehre. Der Geselle hätte als Double von Johnny Weissmüller auftreten können. Er heuerte auf einem Frachtsegler an. Mit bloßen Händen stieg er in vereiste Wanten. Den Ärmelkanal überquerte er in einem Einbaum der Rosenheimer Faltbootwerft Klepper. Er stellte ein paar Rekorde auf. Geld verdiente er, wo immer sich eine Gelegenheit bot, und so auch im Straßenbau. Auf dem Schwarzwälder Dobel errichtete der Westfale beinah im Alleingang einen Aussichtsturm. Er blieb in der Gegend.

Der junge Anton spielte seine körperliche Superpräsenz herunter und trat mit ausgedachter Grandezza auf. Aus allem Aufgeschnappten lernte er etwas fürs Leben. Jede Geschichte hatte ihre Moral. Anton glaubte an sich. Er konnte andere begeistern. Schon mit fünfundzwanzig, noch lebte er sparsam zur Untermiete, besaß er ein Pferd und ein Motorrad. Er freite das in badischen Gazetten hymnisch besungene ‚Schwarzwaldmädchen‘ Elisabeth ‚Betty‘ Britsch. Die national erfolgreiche Schwimmerin und Feldhockeyspielerin war ein Pforzheimer High Society-Schwarm. Motorisierte Verehrer standen Schlange. Honoratiorensöhne rissen sich um Betty, aber das Rennen machte ein ungebildeter Mann aus kleinen Verhältnissen.

Anton brauchte keinen bedeutenden Vater, um bedeutend zu sein. Schließlich entdeckte er den rossnärrischen Unternehmer in sich. Auf seinem Hof, der Koppel, versorgt er sieben Trakehner, die er täglich an der Lounge bewegt. Sein Lieblingsenkel lebt im Schlaraffenland.

Keno hat ein Schwarzenegger-Poster im Reiterstübchen an eine Wand gepinnt; selbstverständlich in Absprache mit Anton. Bodybuilding ist allgemein verschrien. Über Arnold Schwarzenegger machen sich die Leute lustig. Sie halten ihn für dumm. Seine Schauposen werden spotteifrig nachgeahmt. Dies geschieht in einem Kraft verherrlichenden Milieu. In der männlichen Dimension des Dorfes dreht sich viel um Schlagkraft und Kraftfahrzeuge. Schwarzeneggers amerikanische Karriere nimmt ihm sein Stigma nicht ab. Niemand ist bereit, auch nur drei Groschen auf den Millionär zu setzen. Betty und Anton stoßen sich nicht an der Muskelmanie des Enkels. Das alte Paar vereint sich auch in dem Wissen und der Gewissheit, dass der Junge nicht ganz dicht ist, aber doch ein ganz Lieber. Tröstlich findet es die Vorstellung, Keno bis zum Schluss in konkreter Versorgungsreichweite zu haben. 

Operettenhafte Großartigkeit

„Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen.“ Thomas Bernhard

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„Im Kampf der Generationen verbünden sich die Enkel mit den Greisen.“ Jean-Paul Sartre

Trabantenhaft kreist Keno um Anton. Der Alte und sein Enkel existieren in einer Symbiose. Abgesehen von Ehefrau Betty gibt es nur eine Person, die Anton so nahekommt: Lieblingstochter Veronika. 

Veronika ist ihrem Vater genauso ergeben wie Keno. Bis heute wagt es die promovierte Hausfrau noch nicht einmal heimlich, die operettenhafte Großartigkeit des kaum alphabetisierten Patriarchen lächerlich zu finden. Ein Aberglaube verbietet es ihr, Dinge auch nur zu erwägen, die der väterlichen Macht und Magie einen Verlust zufügen könnten.

„Ole O‘Cangaceiro / Wir reiten Tag und Nacht / Und wir hören in den Stürmen / Wie die ganze Hölle lacht.“ Helmut Zacharias

Täglich schlingert Veronika über ein territoriales Minenfeld. Die permanenten Machtergreifungen des Vaters geben ihren Manövern immer noch die Richtung vor. Als Mädchen trug Veronika die Uniformen seiner Leidenschaften. Sie changierte in den niedlichen und den zünftigen Varianten. Der Pflug von einem Mann, ewig in Breeches, wünschte sich die sportlichste seiner Töchter grenzenlos tüchtig. Veronika spielte den fehlenden Stammhalter. Wie irre uns das heute vorkommt. Ein Mann mit sieben Töchtern beklagt einen Mangel, der sich darin erschöpft, keinen Sohn zu haben.

Mit Veronika ging Anton zum teuersten Ausstatter und ins beste Fachgeschäft. Stets bemühte sich die Eigentümer persönlich um den hohen Besuch. Der gelernte Elektriker Anton bläute dem Stammhalterersatz ein erfundenes Standesbewusstsein ein. Er nahm Veronika mit, wenn einer seiner Pächter schlachtete. Die Bauern stießen mit Wein aus Flaschen ohne Etikette an. Eine genossenschaftliche Abfüllanlage stand neben der Raiffeisen-Filiale.

Die Lagerfeuer- und Bratapfelabende; Kommunionen von Rauch und Nachttau … und dem brünstigen Gerede der Zureiter, Hoferben und selbstständigen Handwerker, die um die herangewachsenen Schwestern mal mehr und mal weniger willkommen herumscharwenzelten, bevor die Jungakademiker des Enzkreises Witterung aufnahmen und die Werbung auf ein anderes Niveau hoben. Fast alle Töchter des westfälischen Sturkopfs Anton sind mit württembergischen Leistungsträgern der ersten Kategorie verheiratet. Nur Kenos graustichige Mutter blieb ledig. 

Erfundene Zitate

„C.G. Jung begründete mit Jean Gebser die Vorstellung, dass die ersten Menschen in Ekstase badeten, und dass dieser transzendente Sinneszustand der wahre und natürliche sei.“  Roland Paulsen

Zweihunderttausend Jahre lang kannten wir kaum eine Form der Vorratswirtschaft, heute eröffnen wir Sparkonten für Ungeborene. Wir müssen bei der Wahl des Essens täglich viele Entscheidungen treffen, die uns lange der Mangel abgenommen hat. „Die Wahlmöglichkeiten, die uns Kultur und Technologie in Massen bescheren, unterwandern das Leben“, sagt der schwedische Soziologe Roland Paulsen. Ein Pferdehof bedeutet vor allem Arbeit. Müsste der westfälische Pascha Anton Steinbrecher seine Leute normal bezahlen, könnte er einpacken und wieder auf Trebe gehen. Gern erzählt er von den Clochards, mit denen er als junger Mann unter Pariser Seine-Brücken kommunistische Lieder sang, bevor er sich im Dritten Reich gleichschalten ließ. Er trennte sich von seiner Mähne, legte den Schillerkragen ab und die Feldkoppel an. Die nächsten zwölf Jahre trug er Uniform, angeblich in heimlicher Opposition.

Doch danach fragt keiner. Anton ist eine Ikone des Wirtschaftswunders, ein Selfmade-Millionär wie aus dem westdeutschen Nachkriegsbilderbuch. Der hünenhafte Dortmunder wirkt unter Schwaben wie Gulliver im Land der Zwerge. Weil das mit dem Siedeln im Osten nicht geklappt hat, siedelt Anton im schwäbisch-badischen Grenzland nahe einem Dorf, das Jahrhunderte dem Kloster Maulbronn zukam. In einem unterirdischen Gang fand man Säuglingsskelette in Beinhausstärke. Antons Frau Elisabeth ‚Betty‘, geborene Britsch, kam zwar in Pforzheim zur Welt, ihrer Familie, der Küchenmeister- und Schmied-Stamm der Schäufeles, stammt aber aus Ö… und Umgebung. Die Schäufeles sind ein „zähes Geschlecht“. Das hört Anton jeden Tag von seiner Oma. Er ist das Ohr seiner Oma.

„Der Nachname Schäufele stammt aus dem Schwäbischen … und ist ein Familienname, der sich auf … Kleingrütter bezieht. Ein Kleingrütter ist ein beeidigter Küchenmeister (in diesem Fall des Klosters von Maubronn) … variable Mengen an Fleisch (wurden im) Verkaufskorb - dem Schäufele - transportiert.“ Quelle:  https://www.igenea.com/de/nachnamen/s/schaufele

Um einen Betrieb wie die Koppel am Laufen zu halten, braucht man pferdeverrückte Mädchen.

Koppel heißt das wie ein Aussiedlerhof frei in der Landschaft liegende Anwesen der Familie Steinbrecher.

Solche verausgaben sich im Stall und auf der Weide für Gotteslohn. Sie helfen bei den vielen Ernten, machen Heu, verarzten Mensch und Tier mit somnambuler Hingabe. Ihr Altruismus macht aus ihnen Erscheinungen. Gebührend bewundern sie die rüden Platzhirsche und spenden den Nachhumpelnden Trost. Mann darf sie drücken, aber natürlich haben sie ihren Favoriten unter den Mühsamen und Beladenen. Sie tun gern, was andere nur machen, wenn man sie dafür bezahlt.

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Auch Iris lässt sich mit Antons Reitsport-Hokuspokus einseifen und abspeisen. Das ist eine Mischung aus esoterischem Geraune, platten Sprüchen, erfundenen Zitaten und ungekennzeichneten Aneignungen des geistigen Eigentums veritabler Denker.

Familienmeute

„Die Sonne schien an dem Abend noch lange nach Einbruch der Dunkelheit.“ Musenzeit

„Auf unseren Reisen durch die Welt stießen wir immer wieder auf Leichen im Besichtigungsangebot.“ Gabriele Koubek

In den 1950er-Jahren entstand in und an der Enz ein Fluss- und Lichtbad. Eine beinah unberührte Ursprünglichkeit säumt die Anlage im Spektrum zwischen Straßenranddschungel, Böschung und Luftwurzellabyrinth.

Karibisch findet Keno die Augenblicksstimmung. Er verbirgt sich vor der Familienmeute im Unterholz. Seine Mutter Doris krault jenseits der Flussbadgrenzen.

Die Duschen und Umkleiden befinden sich in einer karmesinroten Baracke. Wie ein Schildhäuschen steht die Pommesbude auf der Liegewiese. Die Kinderschlange davor verändert ständig ihre Gestalt.   

Raimund präsentiert seinen Vorturnerkörper im Lotussitz. 

Doris und Raimund sind sich in Poona über den Weg gelaufen. Sie hätten sich auch bei einem Kraichgauer Weinfest kennenlernen können. Raimund stammt aus Knittlingen - der Geburtsstadt des Magiers Johann Georg Faust. Doris wurde im Kreiskrankenhaus Mühlacker geboren. Siebzehn Autofahrminuten verstreichen zwischen den Städten, wenn man sich an die Straßenverkehrsordnung hält.

Die gemeinsame Heimat war ein Argument in der Fremde. Zu Hause zieht das Argument nicht mehr. Auch die von Osho gepredigte Göttlichkeit der Sexualität, Stichwort From Sex to Superconsciousness, verliert in dem umgebauten Schober, den sich Doris und Raimund mit einer Fledermauskolonie und noch viel mehr nachtaktiven Geschöpfen teilen, ihre kosmische Dimension.  

Sogar Betty nennt ihren Mann Chef. Im Kreis ihrer auf Handtüchern lagernden Nachkommen ruht sie auf einer Campingliege. Die Mutter von sieben Töchtern bringt das Kunststück fertig, das Gewese prahlender Boomerinnen gleichzeitig missbilligend und mit altruistischem Behagen zu betrachten.

Betty studiert eine verbotene Vertraulichkeit. Neben Raimund hockt Iris beinah abstandslos. Die Anziehungskraft plättet den Schicklichkeitssaum. Iris gehört zur Familie. Seit ihrer Kindheit verbringt sie mehr Zeit auf der Koppel als bei ihren Leuten. Iris liebt Pferde und die Großzügigkeit der Haushaltsführung ihrer Gastgeber. Ihr Bikini exponiert ausladende Hüften und einen flachen Rumpf. 

Betty mustert Raimunds von innerer Leere verödeten, blöd-stolzen Züge. Sie fürchtet und verachtet die infamen Ausflüchte, mit denen sich Raimund über die Runden bringt.

Doris taucht auf. Unbesorgt wringt sie ihr Haar vor Raimunds Füßen. Sie wirkt völlig arglos. Sie hat Iris aufwachsen sehen. Für Doris ist Iris ein ausgebeutetes und erschreckend anspruchsloses Mädchen.

Kontemplation und Ekstase

Was zuvor geschah

Die Familie Steinbrecher hat sich fast vollständig in ihrem Luft- und Flussbad an der Enz versammelt. Die Anlage verdankt sich dem alten Anton Steinbrecher. Der große Organisator (und passionierte Reit- und Wassersportler) war in den 1950er Jahren die treibende Kraft beim Bau einer Singularität, deren Geheimtippcharakter bis in die Handlungsgegenwart bewahrt wurde.

So geht es weiter

Der Steinbrecher-Klan beansprucht vor Ort das Hausrecht. Für einen Steinbrecher gibt es kein Schlangestehen an der Pommesbude. „Unsere Ernährung bestimmt, wer wir sind“, behauptet Henry Mance. Der Journalist bezieht sich auf Feinberg & Mallatt, die eine Theorie entwickelten, nach der das Bewusstsein eine Funktion der Jagd ist. Das Bewusstsein kam ins Spiel, „damit die ersten Raubtiere ihre Beute erlegen und die ersten Beutetiere ihnen entkommen konnten“. Der Neurologe Todd Feinberg und der Evolutionsbiologe Jon Mallatt vertreten die Auffassung, dass alle Tiere mit einer Wirbelsäule „einen Erfahrungsbegriff haben“.

Bereits die ersten Wirbeltiere brauchten für ihre „hochauflösenden Facettenaugen“ eine Verarbeitungszentrale. Sie machten sich ein Bild von der Welt, im Prinzip nicht anders als wir. Mance spricht martialisch von einem „Wettrüsten“ mit der Vorgabe einen Vorsprung bei der „Verarbeitungsgeschwindigkeit“ herauszuschlagen. 

Eine beinah unberührte Ursprünglichkeit säumt das Luft- und Flussbad im Spektrum zwischen Straßenranddschungel, Böschung und Luftwurzellabyrinth. Karibisch findet Keno die Augenblicksstimmung. Er verbirgt sich vor der Familienmeute im Unterholz.  

Die verstohlene Kommunikation zwischen dem Lebensgefährten seiner Mutter und einer jungen Frau, die Keno täglich auf dem Hof seiner Großeltern sieht, entgeht dem Verborgenen nicht. Er beobachtet Iris mit dem irritierten Blick des Heranwachsenden am Ende der kindlichen Strecke. Unbegreifliche Empfindungen pflügen die inneren Schonungen.

Eben ist Doris über alle Barrieren hinausgeschwommen, ohne ihre Überschreitungen der Baderegeln auch nur realisiert zu haben. Zwar ist die ledige Yogalehrerin aus der Art geschlagen, aber eben doch ganz und gar eine Steinbrecherin, wenn es um Natur- und Bewegungsgenuss geht. 

Doris legt den Badeanzug ab. Nichts stört ihre Ungezwungenheit. Sie ist die Unglückliche unter ihren Schwestern. Doch gibt es Momente seelischer Weite, die ihr ungewöhnliche Spielräume eröffnen. Sie ignoriert Raimunds heiß erwidertes Interesse an Iris. Ihre Leidenschaft hat den Nullpunkt unterschritten. Doris schließt die Augen und gibt sich einem Tagtraum hin. Mit einem Mann, der an ihren verflossenen vietnamesischen Liebhaber Binh erinnert, erlebt sie eine Kernschmelze.

Kontemplation und Ekstase.

Hydraulisches Monster

Im Steckrübenwinter 1915 ging gar nichts mehr. Danach wurde es nicht viel besser. 1917 baumelte einmal ein Hering delinquent über dem Küchentisch im Haushalt von Kenos Urgroßeltern. Die Kinder durften an der Flosse saugen. Der Fisch kam schließlich im Ganzen jenem zugute, von dessen Arbeitskraft alles abhing. Der allgemeinen Not zum Trotz war Antons Vater so dick, dass er seine Schuhe nicht selbst zubinden und Jahrzehnte seine Hoden nicht sehen konnte. Kurz vor Kriegsende starb er einen beneidenswerten Sekundentod.

Anton sieht mit Feldherrenblick fern. Tag und Nacht trägt er ein Nachthemd zu langen Schiesser Feinrippunterhosen. Morgens stopft er das Rumpfüberschüssige in eine von Trägern gehaltenen Hose, abends legt er die Hose ab.

Solange ihm das Freude machte, durfte Keno mit Antons Hosenträgern schnalzen. Dafür ist er jetzt zu groß. Auch die mit kleinkindlichem Entsetzen spielenden Gebiss-Scherze funktionieren nicht mehr. Trotzdem bleibt die Sache interessant. Das Gebiss badet nachts in einem Zahnputzbecher. Die offensive Zahnlosigkeit gibt Anton ein gespenstisches Aussehen.    

Zum Abendbrot serviert Oma Betty ihren Männern, Keno ist das Männle, diametral geschnittene Schnittchen, Gewürzgurken und Mixed Pickles. Saurer Blumenkohl löst bei Kenos Großvater den Wunsch aus, die Geschichte vom Hering zu erzählen.

Für sein Leben gern lauert der Enkel in einem Sessel am Sitzgruppentisch. Anton ächzt auf dem ächzenden Sofa. Er schwankt zwischen Behagen und Schmerz. Der verbrauchte Leib erlaubt keine Entspannung. Schmerz peitscht Anton über einen Parcours von unbefriedigenden Positionen. Wie er sich auch dreht und wendet, der Schmerz setzt sich an die Spitze jeder Bewegung.

Keno entgeht nichts. Die großväterliche Verfassung bestimmt die Großwetterlage seines Lebens. Gestrandet im Schlaraffenland, überblickt Keno das Angebot. Schinken in rauen Mengen. Fleisch- und Waldorfsalat. Bündner Fleisch. Schweinebraten mit Pfefferkruste, fein geschnitten. Blutwurst. Leberkäse. Hähnchenschenkel auf die Hand.

Oma Betty thront in ihrem persönlichen Fernsehsessel, einem hydraulischen Monster, zwei Meter vor dem Bildschirm und konzentriert sich auf die ARD- und ZDF-Ausstrahlungen. Bereits das Vorabendprogramm ist amtlich. Es abzusitzen gehört zu den guten Sitten, die keinem Schlendrian preisgegeben werden dürfen. Sonst droht der Untergang des Abendlandes.

Betty, Anton und Keno schlafen gemeinsam in jenem Lebensraum, den Anton extravagant in seinem Koppel-Domizil erschaffen hat. Die Trennung von Arbeit und Leben ist aufgehoben und so auch die Trennung von Wohn- und Schlafsphäre. Demnächst wird Keno ein eigenes Zimmer bekommen. Es ist das Antichambre. Der Enkel wird mit der Abgeschlossenheit hadern. Er möchte der intimste und am besten informierte Zeuge im Zentrum der Macht sein.

Anton ist mehr ein Regime als eine Person.

Delirium der Gelehrsamkeit

Keno entdeckt die Liebe gemeinsam mit seiner Cousine Alissa, kurz Issa. An einem glühenden Nachmittag entziehen sich die beiden zum ersten Mal der gleichgültigen Aufsicht erwachsener Verwandter. Gespannt schlüpfen sie durch ein Loch im Jägerzaun und nisten sich in einer Mirabellenheckennische ein. Ihr Experiment verheert ein verlassenes Rehkitznest.

Issa und Keno wählten ihr Versteck da, wo vor ihnen eine Ricke ihren Nachwuchs vor Entdeckung sicher wähnte.

Den Zaun zog Keno gemeinsam mit Opa Anton um das Anwesen. Die Koppel wird steuerlich als Aussiedlerhof veranschlagt. Betty und Anton erfüllen die gesetzlichen Bedingungen, die für einen isolierten landwirtschaftlichen Betrieb gelten. Der Freisitz, im Familienmund die Koppel, ist in Wahrheit ein schnöder Aussiedlerhof in einer Nutzflächenöde. Der Westfale Anton nimmt mit dem Freisitz in der schwäbischen Wahlheimat lediglich vorlieb. Sein Traum vom Siedeln im Osten platzte in Stahlgewittern. Er spricht darüber, als sei ihm widerrechtlich etwas vorenthalten worden und das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen.

Schopenhauer definiert Genialität, als „die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten“. Anton reicht die reine Anschauung nicht. Er muss das Eisen schmieden und die Dinge formen, selbst wenn er sie nur verbiegt. Auf der nie fertig gebauten Terrasse tummeln sich Protagonistinnen des Nebengeschehens, so wie Doktor rer. nat. Melanie von Pechstein, geborene Steinbrecher. Sie ist nicht die einzige promovierter Tochter des kaum alphabetisierten Landkreis-Tycoon. Ist das familiäre Hyperkompensation?   

Antons Töchter heißen nach ihren Tanten und Großtanten. Melanie wohnt mit ihrer erheirateten Familie auf dem Gestüt der Witwe Heinemann in Schönenberg. Sie könnte ihre Eltern mit einer Buschtrommel oder mit Rauchzeichen auf dem Laufenden halten. Die brillante Entomologin und drakonische Biologielehrerin findet Insekten anziehender als Menschen. Sie hält ihre Angehörigen im Schwitzkasten ständiger Ansprache. 

Melanies Zustand ist das Delirium der Gelehrsamkeit. Angeblich erniedrigt sich die Großmeisterin der Insektenkunde als Pädagogin in einem Ensemble pietistisch verbohrter Kolleginnen. In ihrer vergrämten Unzufriedenheit lauert Melanie auf Fliegen, um sie mit einer mitgebrachten Patsche zu erschlagen.

Eine mitgebrachte Fliegenpatsche: wie irre ist das denn. Anton schert sich nicht um die Überkandidelte. Er vermisst den Sohn in allen seinen Töchtern. Er wähnt sich im Besitz einer höheren Wahrheit. Er unterstellt sich eine Prädestination. Nach eigener Einschätzung verfügt er über Rudolf Steiners Hellseherorgane. Er summt aber auch die Internationale und singt das Einheitsfrontlied: „Und weil der Mensch ein Mensch ist/Drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“. Ernst Thälmann hat Anton noch live erlebt. In erster Linie erlebt er sich als Freigeist. Gunter Sachs ist ein Bruder im Geist, weil er sich nichts vorschreiben lässt. Anton trägt sein Haar wie Einstein, so unkonventionell.  

Mutterspucke

Religiöse Handlungen waren im antiken Alltag nichts besonders. Die Differenz zwischen profan und sakral verschwamm. Die Gebrauchskultur gedieh in Gemeinschaften, die vom Ritus bestimmt wurden. Die Verkehrsformen waren keineswegs so klassisch wie sie in den goethischen Verherrlichungsnarrativen erscheinen, sondern archaisch. Die Griechen betrachteten ihre römischen Überwinder mit kulturnationalistischem Hochmut. Die Usurpatoren übernahmen die olympische Mythologie der Verlierer und strichen sie altrömisch an. Das erklärt Veronika Yıldız, geborene Steinbrecher, halb verschluckt von einem aufblasbaren, träge vor sich hin dümpelnden Gummisarkophag. Die Yıldızs haben in ihrem Garten nicht nur das billige Blechbecken des gehobenen Durchschnitts, sondern ein richtiges Schwimmbad. Darin treiben Partymöbel, bevölkert von Veronikas Publikum. Veronika heißt nach einer Großtante, die nach Amerika heiratete und als Cremeschnitten-Vroni in die Annalen einging. Die Großnichte übertreibt ihre Weltläufigkeit. Seit einer Krise, die ihre ursprüngliche Form so verdampfen ließ wie der Kometenschlag zu Yucatán komplette Lebensformen, übt die promovierte Archäologin ihren Beruf nicht mehr aus. Veronika beschränkt sich darauf, vor Verwandten zu dozieren. Manche Leute halten ihre Tochter für ein Seitensprungprodukt aka Ausrutscher. Sie vermuten ein Arrangement nach Art des diskreten Charmes der Bourgeoisie im Hintergrund des sichtbaren Geschehens. Veronika könnte unter Aufsicht fremd gegangen sein, bis sie in anderen Umständen war. Der im weiteren Verlauf der Ereignisse bedeutungslose Erzeuger erfüllte jedenfalls alle Bedingungen, die zur Reibungslosigkeit beitrugen. So war es nicht. Veronika hat ihren Mann bislang noch nicht einmal betrogen, obwohl sie zurzeit an kaum etwas anderes denken kann als an außerehelichen Sex. Dazu gleich mehr. Zuerst müssen die Verhältnisse geklärt werden. Alissa, kurz Issa, entstand bei einem Abschied. Entschlossen wegen einer neuen, sich magisch in ihren Eingeweiden auswirkenden Bekanntschaft alles stehen und liegenzulassen und einem gemeinsamen Leben mit dem Fremden entgegen zustürmen, hatte Veronika mit dem sehr adäquaten Henner Bosch Schluss gemacht und sich den schweren Entschluss mit Farewell-Sex versüßt. Issas Zeugung vollzog sich in der Trutzruine der Stellberg-Wüstung über dem aufgelaufenen Grundwasser eines ruhenden Stollens, wo Veronika und Henner als Kinder einst sich unter Kaulquappen gemischt und blaualgengrün aus dem Wasser gestiegen waren.

Werfen wir einen Blick auf Benno. Betrachten wir gemeinsam eine Skizze. Der Kragen überflügelt Henners Pullunderschultern. Allerdings hat es seine Mutter versäumt, dem Sohn einen reifen Pickel auszudrücken. Sie liebt es, wenn der Eiter spritzt. Sie krempelt ihm auch die Nagelhaut auf. Mit Mutterspucke ward die Frisur an den Kopf gepappt. Die sich mit Diäten bis zur Bewusstlosigkeit traktierende Heldin ist zu jung, um die Handschrift lesen und die Botschaften begreifen zu können. Veronika zupft an Stoffen, die von einer anderen Frau mit einem absolutistischen Liebesbegriff ausgewählt wurden. Im nächsten Augenblick wendet sie sich vehement (und ahnungslos schwanger) dem unfruchtbaren Kardiologen Tayfun Yıldız zu.   

Intransigentes Interesse

Karl Marx spricht von einer passiven Verfaulung sozialer Schichten. Er beschreibt so das Lumpenproletariat, das eher in die Reaktion als zur Revolution drängt. Zugleich lassen sich Vorgänge des Alterns so schildern. Vitale Prozesse enden zu Lebzeiten. Der Körper gibt nach, er zeigt den Kadaver, der in ihm steckt, schon einmal vor.

Kompostierung setzt ein. Zum Rotwein die Redundanz. Veronika nähert sich ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag. Täglich kämpft sie um ihre Figur. Der Körper, das ist alles, was von ihrem Ehrgeiz übriggeblieben ist. Die ehemalige Leistungssportlerin geht seelisch am Stock, seit sie sich in ihren - im Augenblick - vierzehnjährigen Neffen verliebt hat.

Rückblende

Alle anderen trifft sie, ob zufällig oder nicht. Er aber erscheint ihr. Die im Diätwahn delirierte Abiturientin ergötzt sich an der Sonderbarkeit des Namens. Tayfun - in Veronikas Ohren klingt das nach Kamikaze und Tsunami.

Zum ersten Mal betritt sie Tayfuns Apartment. Der frisch approbierte Kardiologe tritt förmlich im gut geschnittenen Anzug auf. Er platziert den Gast auf einem aberwitzig unbequemen Stuhl. Warum baut man so was? Veronika studiert Zeichen der Distinktion. Sie gleichen Hinweistafeln von der Deutlichkeit dem Wetter abgewandter Baumseiten. Gedanklich kniet Veronika auf dem Perser zu ihren eigenen Füßen und atmet, wie es ihr erst noch im Geburtsvorbereitungskurs beigebracht werden wird. Sie fürchtet, dass ihr die Sinne schwinden. Plötzlich liegt sie unter Tayfun auf der Couch.

Später wird sie ihrem Tagebuch anvertrauen: „Ohnehin beobachte ich lieber leise Verlierer bei der Inventarisierung des Nichts als krachlederne Typen, die ihre Fahrräder im Westernstil reiten.“

Zweifellos war die Notiz eine präpotente Abwehr der Ansprüche, die Tayfun vom ersten Augenblick der Bekanntschaft stellte. Hatte Veronika nicht wie ferngesteuert mit Henner Bosch Schluss gemacht? Ahnungslos war sie beim Abschiedssex schwanger geworden. Doch steht das auf einem anderen Blatt.

Unter seinem teuren Anzug verbarg Tayfun nicht lange das, was ihm am teuersten war. Sein Zeigestolz war grotesk. Er paarte sich mit Veronikas Grund- und Bodenstolz. Er griff auf eine Schönheit aus der Kaste der Begüterten zu; nicht anders als Veronikas in Armut aufgewachsener, bildungsfern sozialisierter Vater es einst getan hatte. Anton Steinbrecher intransigentes Interesse an der Tochter eines Stahlgraveurs, der aus kleinen Verhältnissen zum Hofjuwelier des dänischen Königs aufgestiegen war, hatte die Wucht eines historischen Ereignisses in den Dimensionen einer prosperierenden Kleinstadt.

Veronikas Großvater diente Christian X. (1870 – 1947). Von 1912 bis 1947 war Christian König von Dänemark.

Von der Vorspeise zum Vorspiel

Kehren wir noch einmal zu der Szene in Tayfuns junggeselligem Wohnzimmer zurück. Veronika folgt der ersten Einladung mit intimer Aspiration frohen Mutes. Sie erscheint zu einem Abendessen. Das ist der offizielle Titel. Vielleicht will sich Tayfun als häuslicher und fürsorglicher Partner präsentieren, und nicht nur als potenter Versorger. Die beiden kommen über den Aperitif, einem Zitronen-Ingwer-Spritz, nicht hinaus. Tayfun sagt „Aperitivo“. Das irritiert Veronika, sie besitzt ein feines Gespür für falsche Töne und aufgesetztes Verhalten. Sie probiert die Vorspeisen. Es gibt Oliven, Salsiccia Cilento und eine Köstlichkeit aus Parmigiano Reggiano, gegrillten Birnen, Radicchio und Honig. Das ist definitiv kein Studentenfutter.

Die Antipasti sprechen für sich. Dieser Türke ist ein Weltmann, geadelt vom guten Geschmack. Er riecht auch gut. Vielleicht hat er sein Parfum ein bisschen zu dick aufgetragen. Aber sonst ist alles vom Feinsten.

Veronika macht gerade Abitur, Tayfun ist acht Jahre älter. Erst findet sie, dass er sich zu sehr beeilt. Er könnte bedächtiger vorgehen, ihr mehr Zeit und Raum lassen. Bald denkt sie das nicht mehr. Wozu warten?

Tayfun erwartet eine körperliche Zugänglichkeit, für die der soziale Rahmen fehlt. Er sagt: „Du musst dir keine Sorgen machen. Es kann nichts passieren.“

Was soll passieren? Veronika wird erst in ein paar Wochen verstehen, worauf Tayfuns Entwarnung zielt. Er ist unfruchtbar. Wie gesagt, noch weiß Veronika nicht, dass sie bereits schwanger ist. Sie spürt das Gewicht des Mannes und lauscht seinem Atem. Sie fühlt, wie er sich zügelt und erkennt, wie sehr Tayfun von sich eingenommen, eher noch berauscht ist. Fast findet sie das ein bisschen lächerlich. Oder auch nur schade.

Gern würde ich schreiben, die Erinnerungen gingen mit ihr durch. Doch so ist es nicht. Das Weitere ergibt sich als bloße Anmerkung. Was wäre gewesen, wenn Tayfun nicht Henners Zukunftspfad gekreuzt hätte? Henner ist nur zwei Jahre älter als Veronika. Bis eben wollte er für sie und sich ein Haus auf einem Grundstück seiner Familie bauen. Veronika fehlt jedes Gefühl für Henners Schmerz, während ihre Instanzen Tayfuns Kompatibilität analysieren.

Zurück auf Los

Von der Vorspeise zum Vorspiel - plötzlich spürte Veronika Tayfuns Hand am Hintern. Sie fragte sich, was ihn ermutigte. Gestern waren sie noch sehr förmlich miteinander gewesen. Andererseits hat Veronika vorsorglich mit Henner Schluss gemacht und damit auch ein Eheversprechen gebrochen. Also warum den Elchtest der Liebe auf die lange Bank schieben.

Mit dem Rhythmus-Gespür einer exzellenten Reiterin klinkt sich Veronika ein. Ob Mann oder Pferd: der Harmonisierungsprozess verlangt das nämliche. Tayfun knibbelt an ihr herum. Er zeichnet die großen Höfe nach. Veronika ist immer noch halb in ihrer Schale. Die Klamotten krumpeln. Sie spürt einen vertrauten Druck und gibt ihm augenblicklich nach.

Der Augenblick an der Kasse

Manchmal erfüllt sich ein Aufstieg erst im Untergang so wie in der nachbessernden Version eines Mythos. Dann überlebt Iphigenie nicht nur als Priesterin auf der Krim, sondern gewinnt sogar eine neue Bedeutung im Spiel des Lebens und seiner Kränze. Mich beschäftigt die Idee von der nicht so populär gewordenen Fassung einer Legende, deren Standardversion zur Tapete heruntergekommen ist. Alles dreht sich um die verlorene Zeit. John Burnside findet dafür die Spielfigur des „magischen Tiers“. Wer etwas extra will, muss dem magischen Tier bis zum Ort der letzten Wiederherstellung folgen. So wie man einen Rechner zurücksetzt. Man verliert einiges, doch läuft die Maschine insgesamt unerwartet gut.

„Manche Inuit-Schnitzereien zeigen diese Transformation in Obsidian.“

Sie überliefern ein Erstaunen im Frost.

„Das Verblüffende an diesen Arbeiten ist die Überraschung auf dem Gesicht jenes (geschnitzten) Mannes, als könnte er nicht ganz glauben, dass das, was er sich erhofft hatte, tatsächlich geschah.“

Was hatte sich Tayfun Yıldız erhofft, als er die Abiturientin Veronika Steinbrecher auf seinem Junggesellen-Sofa zum ersten Mal in die Horizontale geknutscht hatte. Im Jetzt der Ereignisse ist der unfruchtbare Kardiologe eine Koryphäe mit internationalem Ruf, bedacht mit Dankesbriefen aus aller Welt. Der gebürtige Istanbuler und passionierte Oldtimer-Porschefahrer amtiert als Vater von Veronikas Tochter ohne Einschränkung.

Veronika war kurz vor jenem ersten Abend ahnungslos schwanger geworden. Chronologisch wäre Tayfun für die Vaterschaft in Frage gekommen. Daran denkt er lieber nicht. Er gefällt sich in seiner Unerschütterlichkeit.

Er liebt es, seine Frauen auszuführen. Er nötigt Veronika und Issa zur Extravaganz. Er begeistert sich für den teuersten Schick. Der Augenblick an der Kasse, das ist sein Augenblick. Ein Mann von Welt beugt sich über den Verkaufstresen und mutet der Verkäuferin eine Vertraulichkeit zwischen peinlicher Berührung und Nervenkitzel zu. Der Ehrgeiz, binnen Sekunden in ein halbes Dutzend Ausschnitte gelunzt zu haben.

Tayfun fühlt sich beschenkt, wenn Veronika und Issa vor auswüchsigen, mit irrsinnigen Kreationsbezeichnungen annoncierten Eisbechern sitzen und er für ein vormaliges Pfennig-Vergnügen so viel auf den Tisch blättern muss wie früher für drei komplette Restaurantmahlzeiten. Er geht als Sieger durchs Ziel, sobald sich die Exzellenzmerkmale seiner Frau nicht allein mit ihrer parfümierten Zugänglichkeit, sondern außerdem mit echter Zufriedenheit paaren.   

Bald wird Issa ihren büyük baba/big baba überragen. Tayfun blickt gern zu ihrer Mutter auf. Als Studierende verdiente sich Veronika die Extras mit Mannequinjobs dazu. Seither kennt sie Männer, die sich Frauen vor die Füße werfen, um perspektivische Sensationen zu erleben. Tayfun betrachtet Veronikas Modellmaße als persönliche Auszeichnung. 

Hinfälliger Hüne

Von Todesangst beflügelte Schweine schweigen nicht. Sie schreien. Und wie sie schreien. Jeder Schweinebauer braucht eine Seelenhornhaut, denn er liebt seine Schweine, bis zu dem Morgen, da ihm vor sich selbst graut. Der Schlächter schlingt ein Seil um Hals und Rüssel. Das Schwein vibriert. Es ist im Augenblick keinen Deut dümmer als jeder Mensch. Was es vor allem wissen muss, weiß es nicht weniger genau, als es ein Bauer in der Lage des Schweins wüsste. Deshalb legt der Bauer Wert darauf, Bauer und nicht Schwein zu sein. Täglich triumphiert er über die Kreatur, die ihm zugleich am Herzen liegt. Drei Männer zerren das Tier aus seinem letzten Gefängnis. Sie bieten dabei alles auf, was sie an Masse und Erfahrung mitgebracht haben. Trotzdem gestaltet sich das Schlachtfest höchst individuell, da sich zum Schluss noch einmal der Charakter des Kandidaten voll entfaltet. Das Schwein bildet den Sonderfall des nicht allein rudimentär wehrhaften Fluchttiers. In seiner Verteidigungsmatrix steckt das volle Programm der Prädatoren.  

Vor Mitleid wird gewarnt. Zum Mähen (Heu machen) gehören Blutbäder. Die Schnitter massakrieren Rehkitze in ihren Nestern. „Was nicht mitkommt, kommt weg“, erklärt Anton Steinbrecher, während er Dreck aus einem Vorderlaufhufeisen der Gräfin kratzt. Der Schweif zuckt ununterbrochen. Das Pferd bietet eine gigantische Angriffsfläche. In der flirrenden Hitze attackieren Bremsen ein Fleischgebirge. „Geschmeiß“, sagt Anton.

Anton liebt Fahr- und Werkzeuge. Zug- und Schlagbohrmaschinen, Stemmeisen, Vorschlag- und Presslufthämmer. Ständig stützt er sich auf eine Schaufel. Er lebt in einem symbiotischen Verhältnis mit seinen Schaufeln (so wie die Massai mit ihren Speeren). Jeden Regenwurm, der sich vor ihm kringelt, zerteilt er mit dem Schaufelblatt. Mit kindlicher Freude treibt er Pflöcke in die Erde, entwurzelt Bäume und versiegelt den Boden mit Beton. Er liebt den Gesang des Wetzsteins im Duett mit dem Blatt der Sense. Er gräbt Beete mit dem Bagger um. Landwirtschaftliche Großeinsätze mit ihren ungeheuren Verwirbelungen genießt er.  

Im Familienmund firmiert Antons Koppel als Freisitz. In der Wahrheit des Finanzamts handelt es sich um einen schnöden Aussiedlerhof, den Anton zweckentfremdet nutzt. Seit zehn Jahren duelliert er sich in dieser Angelegenheit mit dem Bürgermeister der Anschlussgemeinde in einem fiesen Schriftsatzmarathon. Der Legastheniker fürchtet das geschriebene Wort mehr als jeden Mann. Anton diktiert gern und viel, aber schreiben kann er noch nicht einmal einen Einkaufszettel. Anton lebt einen Roman. Keno ist sein Lieblingszeuge, wann immer der hinfällige Hüne der Kreatur das Genick bricht. Vorhin hat Anton einen Katzenwurf in der Regentonne ertränkt. Tapfer schlappt Keno in Antons Fußstapfen wie in zu großen Gummistiefeln hinter dem herzkranken Berserker her.

Verschmuster Schäferhund

Die Reiterei ist keine Kleinigkeit. Nicht nur das Pferd schwitzt. Seine Ohren zucken. Es schnaubt, die Nüstern vibrieren. Wo Maulwinkel von der Gebissstange unter Druck gesetzt werden, tropft Speichel in weißen Flocken, die jede Kopfbewegung in eine Flugbewegung überführt. Heute üben alle Bremsen den Angriff an einem Pferd, auf dem Keno sitzt. Es schlägt mit dem Schweif, fängt an zu tänzeln. Mit Abstand sieht das bestimmt interessant aus. Eine Lyrikerin könnte die Korrespondenz von Anmut und Unmut anregen. Keno sieht auch interessant aus, mit dem Halstuch vor der Nase. Noch halten viele Heuschnupfen für eine Masche. So engstirnig ist Kens Opa Anton nicht. Dass eine Allergie keine raffinierte Abwehr von Arbeit ist, weiß er von seinem Leibarzt, dem Ritter Ewald von Grünstetten. Dessen Praxis hat nichts von den kalten Behandlungsstationen, an die wir uns inzwischen gewöhnen mussten. Der Patient wird in gehobenen Privaträumen empfangen und genauso zuvorkommend in den eigenen vier Wänden verarztet.

Mit vier wäre Keno an einer Hirnhautreizung beinah gestorben, Grünstetten veranlasste die Einlieferung ins Krankenhaus mit Blaulicht. Ihn schlug das Schicksal. Eine Tochter starb bei einem Unfall. Der einzige Sohn beging Selbstmord.

Wozu hat Anton Jahrzehnte Männer und Pferde kommandiert? Wohl kaum, um sich von einem Rotzlöffel einseifen zu lassen. Ein Mann, der nicht reiten kann, taugt nichts. Und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Kenos Augen triefen. Das Sattelzeug knarrt wie eine Kompanie auf Dielen. Keno wird das Gefühl nicht los, dass sich das Pferd über ihn lustig macht. Vorläufig heißt er Apfelschnitz. Als Othello-Tornado wird der Hengst eine Berühmtheit. Apfelschnitz geht an der Leine. Die Leine heißt Lounge. Opa Anton hält die Lounge. Er hält außerdem eine Peitsche. Seine Schläge treiben die Schnur in die doppelte Schallgeschwindigkeit. Den Knall erzeugt eine Schockwelle. Anton kritisiert Kenos Haltung. Schon jetzt steht fest, dass der Enkel als Reiter über den fahlen Durchschnitt nicht hinauswachsen wird. Anton hat so viele kommen und gehen sehen. Man kann ihm nichts vormachen.

Das Pferd wechselt die Gangart auf Geheiß. Keno hat keinen Einfluss auf das Geschehen. Junge Leute unterbrechen diverse landwirtschaftliche Beschäftigungen, da Kenos Tante Veronika im gestreckten Galopp an der Koppel vorbei fegt. Sie jauchzen wie Kino-Cowboys. Ein großer Haushalt zieht Leute an. An der Familie Steinbrecher hängt ein Tross. Viele arbeiten nur aus einem Grund auf der Koppel: um reiten zu dürfen.

Kenos Reitstunde ist zu Ende, er verdrückt sich, strolcht über verbrannte Felder, bis er den Koppelruf hört, der das Mittagessen ankündigt.

Solange die Steinbrechers einen Geschäftshaushalt führten, hatten sie immer auch Au-pair-Mädchen als Haushaltshilfen. Keno erinnert sich an Edith. Sie war eine „echte“ Pariserin, gläubig bis zum Seelenfieber und zugleich ein Freigeist. Edith nahm Oma Bettys Schäferhund in die Kirche mit. Arnos Andacht war ein Schauspiel. Der Hund vergaß zu fressen, wenn seine Liebsten verreisten.

Triste Tante

„mein begehren, meine verehrung ist von ... pippi langstrumpf nahtlos auf janis joplin übergegangen.“ Flaco

Auf der bolivianischen Altiplano-Hochebene drängt Wasser durch Gesteinsrisse, dessen chemische Signatur seine pazifische Herkunft verrät. Der Stille Ozean unterspült die amerikanische Landmasse, steigt vierhundert Kilometer hinter der Küstenlinie auf und tritt in einer vom Bergbau versehrten Landschaft zutage. Der erdgeschichtliche Vorgang im Dunstkreis einer Subduktion bietet sich eskapistischen Analogien an.

Die siegreiche Turnierreiterin Veronika, geborene Steinbrecher, verheiratete Yıldız, bewirtet den Sohn ihrer Schwester Doris mit einem Vanilleeisshake auf ihrer Terrasse. Sie hat Keno in eine Wahrnehmungsfalle gelockt. Perceptual trap. Veronika trägt ein Kleid ihrer Tochter Issa. Die Intrigantin präsentiert sich mit einem französisch geflochtenen Zopf, so wie er gerade bei der Enzkreis-Landjugend en vogue ist. Es gab eine Verabredung, die von Veronika torpediert wurde.

Keno erwartete von Issa empfangen zu werden. In einem Augenblick sahen sich Mutter und Tochter zum Verwechseln ähnlich. Keno stutzte, zeigte aber keine Enttäuschung. Issa und Keno verbindet die Zweifelhaftigkeit, keine vorzeigbaren Väter zu haben. In der Steinbrecher-Sphäre sind ihre Erzeuger nie in Erscheinung getreten. Issas biologischer Vater kommt in Veronikas Familiengeschichte nicht vor. Ein greiser Guru, der im Weiteren die Höflichkeit besaß, noch vor Kenos Geburt die Bühne zu räumen, zeugte den Kronprinzen der Steinbrecher-Dynastie.

An einem anderen Tag

Issa ist jetzt oft dabei, wenn ihre Mutter, der Star des Steinbrecher-Ensembles, auf der Koppel ihren Ansprüchen als Nachfolgerin des Patriarchen Anton Geltung verschafft. Issa interessiert sich für ihren Cousin Keno in einem Verhältnis gegenseitiger Anziehung. Gerade leitet Kenos Mutter einen grotesken Freiübungsbetrieb. Die Reitbahn nutzt Issas tristeste Tante für ein Experiment. Sie bietet Sommeryoga für die zweite Lebenshälfte an. Die bäurisch-weibliche Kundschaft knurrt vor Schwerfälligkeit. Seit Gründung der Bundesrepublik kam es keiner in den Sinn, Gymnastik zu treiben. Wozu auch? Nun überrollt die Fitnesswelle Westdeutschland.

Ich greife kurz vor. Sommeryoga für die zweite Lebenshälfte betitelt den glanzlosen Anfang einer Erfolgsgeschichte wie zum Hohn schwäbischer Solidität. Bald wird es im Enzkreis ein florierendes Flow-Center und eine Sonnengruß-Akademie geben. Die unternehmerische Kraft dahinter stammt von Michaela Frankenstein. Sie erinnern sich. Michaela treibt das Yoga-Business mit Impertinenz auf die Spitze. Ihrer effektiven Ausstrahlung zum Trotz ist sie depressiv und alkoholkrank. Sie erscheint als „Großmeisterin des Guten Lichts“ in einer „lebenden Kirche“. Der Mix aus Psycho-Techniken und Gymnastik läuft unter der Überschrift Gebet. Michaela beendet ihre Ansprache mit Segnungen. Die Schülerinnen spüren die Energie. Sie fühlen sich geflutet vom guten Licht. Die selbstverständlich vegetarisch camouflierte Großmeisterin predigt Tofu und isst Speck.

Die schwarzen Erdfassungen von Schneepfützen auf Heimwegen

Doris schließt die Augen und verliert sich in der Betrachtung von Nachbildern.  Sie tagträumt von Scheunen, Überlandleitungen und Zäunen. Sie sieht die schwarzen Erdfassungen von Schneepfützen auf Heimwegen in einem von Anfang missglückten Dasein. Doris kennt die Nordfront from the Butt of Lewis to Barra Head, wie es in dem Gedicht von Robert Burns heißt. Die Leute reden da gälisch as their native tongue (Burns). Sie logiert im Doune Braes, vor den Fenstern liegt der schwarze Spiegel eines Teichs, der angeblich jeden erschaudern lässt und schon manchen Bräutigam zum Selbstmord verführt haben sol. Kein Hotel steht den Callanish Standing Stones näher.

Klippen und Kraut - vom Himmel bis zur letzten Luftlinie über dem Meer ist alles sichtbare Jagd. Möwen schießen ins Wasser. Kinder verfolgen sich stolpernd. Doris entdeckt einen blanken Schaufelknochen in einem Muschelnest. In Felskerben nistet Tang, als würde er da wachsen. Treibgutsammler grasen den Spülsaum ab. Eine Sandburg ragt auf, die von erwachsenem Ehrgeiz erzählt. Möwen untersuchen einen Algenschleimverbund. Die Insel vagabundiert in Gesellschaft von Unrat. Sie ist für kleine Fische zur Falle geworden. Doris erreicht einen vom Verfall mitgenommenen, als Schutzraum noch brauchbaren Steinbau. Auf dem geborstenen Dach hat sich Erde niedergelassen. Sie bildet eine stattliche Sohle. Ein Werk der Natur wie von Menschenhand. Es unterscheidet sich substanziell kaum von der neolithischen Großarchitektur in Skara Brae. Schafen dient es als Unterstand, doch fehlen nicht Hinweise auf menschliche Nutzung. Doris spürt dem Charisma der Gegend nach. Ihr Schicksal bestimmten wenige Familien, die das Feld nicht räumten, als es nichts mehr trug. Sie blieben in einer verwitternden Landschaft, die ihre arkadische Dimension infolge von Raubbau und Klimakorrekturen verloren hatte. Plötzlich war es kalt. Es gab nichts mehr außer Tieren und Steinen und den Verzweigungen eines norwegischen Stammes, der in der Aura jungsteinzeitlicher Artefakte schottisch geworden war. Sturm erschöpft die Unterschiede zwischen Türmen, Pfeilern, Grabsteinen und Hügelgräbern, religiösen Monumenten und Wehranlagen. Das Meer empört sich grau, grün und blau. Kein Mensch könnte jetzt noch daran zweifeln, dass die Welt ein magischer Ort ist. Die Sagas sind wahr. Jeder Ängstliche ahnt nur seine Gründe. Grabsteine erinnern an viele früh Verstorbene. Man wird geboren, man zeugt, dann wird man zerfetzt.

Doris fotografiert Hyazinthen, Leimkraut, Schlüsselblumen und Nelken. Das Meer übertrifft sich in einem Farbspiel zwischen Smaragd und Aquamarin. Der Himmel zeigt sich dramatisch. Die Horizontlinie ist schwarz. Im Geröll klemmt ein Knochen.

Das letzte Licht verschwindet in Wolkenfalten. Ein Hotel lockt mit einer Bar, in der seit neunzig Jahren an der Einrichtung festgehalten wird. Ein Museum voller Whiskey. Freunde des High Tea absolvieren gewissenhaft ihr Pensum. Ein Solist sitzt da wie verzaubert. Doris verliert den inneren Erzählfaden angesichts eines Mannes im Pyjama auf dem Weg zum Tresen.

Theatralisches Entzücken

An einem faulen Nachmittag im magischen Sommer Neunzehnhundert... betrachtet sich Keno in einem halbblinden, übermannshohen Spiegel aus dem unerschöpflichen Familienfundus. Es wird nichts weggeworfen. Das Interieurerbe von einem Dutzend verschiedener Verwandter stapelt sich modernd und schimmelnd in Kammern, Kellern und auf Dachböden. Drei Gebäude stehen auf der Koppel. Nur Anton und Keno wissen über alles Bescheid. Sie sind die einzigen Inventurberechtigten, weil man am besten sogar die Angehörigen über den Bestand im Unklaren lässt. Am Ende lässt sich einer von denen über den Tisch ziehen und dann hat man den Salat. Nur der Patriarch und sein Erbprinz kennen sämtliche Gerümpelstellen auf dem Anwesen. Brüderlich teilen sie die Geheimnisse der Jauchegrube. In der Gesellschaft seines Lieblingsnachkommen regrediert Anton bis auf das Helden-Niveau der Groschenromane seiner Kindheit. Er stört sich nicht an Kenos halb-autistischem Narzissmus. Ständig muss der Junge Liegestütze, Klimmzüge und Sit-ups machen und schwere Sachen heben.

Der Gymnasiast weiß schon lange, dass er mit seinem Großvater nicht über die tiefe Motivlage bei Kleist reden kann. Antons Mutter, eine geborene Bednarzek, war Analphabetin. Die Bednarzeks stammen aus den verlorenen Ostgebieten. In Westpreußen bezeichnete man einen freien Bauern als Insassen. Das war der Stand der Ahnen von der Zeit Friedrich des Großen bis zur Gründerzeit. Noch lebten Tiere mit den Menschen zusammen, in den Küchen brüteten Gänse. Es gab triftige Gründe für solche Hausgemeinschaften, Küken mussten vor Mardern bewahrt werden. Kinder fürchteten Hähne. Mit dem Fleiß von Bienenvölkern ersparte man Ausbildungen.

Antons Mutter erlebte den Einmarsch der polnischen Kavallerie; deren Einquartierung in dem deutschen Nest ging glimpflich ab. Als Siebzehnjährige kam sie zu Verwandten nach Dortmund. Dort wurde Anton im ersten Jahr des Ersten Weltkriegs geboren. 

Im Schweiß seines Angesichts stemmt Keno mit dem Schlagbohrer eine Betondecke auf. Es ist neun Uhr am Vormittag und schon brüllend heiß. Nahe der Baustelle striegelt Kenos Cousine Alissa, kurz Issa, die älteste Stute auf der Koppel. Antje ist die Mutter der Gräfin und Großmutter von Apfelschnitz. Der kindlich-staksige Hengst treibt sich zügellos und unruhig im Dunstkreis der Leitstute herum. Unter dem Prunknamen Othello-Tornado wird er bald über die Landesgrenzen hinaus berühmt werden. Doch im glühenden Jetzt erscheint er der Welt bloß possierlich-verrückt. Schnaubend und mit vibrierenden Flanken springt er wie ein Ziegenbock um seinen Schatten herum. Keno registriert die theatralische Note im Entzücken der Cousine. Issa amüsiert sich dekorativ. Keno erkennt darin eine zwillingsgleiche Gemeinsamkeit. Issas Mutter Veronika, die Königin der sieben Steinbrecher-Töchter, präsentiert sich genauso bühnenreif und abgezirkelt.

Auch Issa macht ihre Beobachtungen. Keno trägt weiter nichts als einen Blaumann. So könnte er in einem Zigarettenwerbespot auftreten. Issa weiß, dass Keno ihren gemeinsamen Großvater vergöttert.

Südwestdeutsches Präriegefühl

„Interessant ist, was schmerzt und was verschwindet.“ Heiner Müller

„Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben wurde.“ HM

Reden wir über „traditionelle Lebenswelten“, ich zitiere Oliver Nachtwey, haben wir Modelle des 20. Jahrhunderts vor Augen. Nachtwey spricht vom Muff der Milieus, die immerhin Bestandschutz gewährten und „Selbstwirksamkeit“ erzeugten.

Ich erzähle seit Wochen von meinem südwestdeutschen Präriegefühl. Doch füllt das nur die eine Seite der Biografie-Medaille. So gut wie die ausgedachte Grandezza eines zu Geld gekommenen Elektrikers, ich spreche von Anton Steinbrecher, dem großväterlichen Idol meines Alter Ego, kenne ich den Muff einer sozialdemokratischen Pubertät zuzeiten von Willy B. und Helmut S. Aus dem Lattenrost meiner Sozialisation ragt der Nagel von Willys Scheiterns. („Der Herr badet gerne lau.“ Herbert Wehner über Brandt/„Wo waren Sie, Herr Frahm?“ Franz Josef Strauß im Bundestag.) Das Scheitern deckte den Bedarf an politischen Visionen („Mehr Demokratie wagen“) beim kleinen Mann. Die Zigarette war ein kultischer Gegenstand. Zum Bier gab es Kurze. Man unterschied Pils von Export. In den Musiktruhen der Schankräume lagen Kurzspielplatten von Freddy Quinn auf dem Teller. Freddy war der Interpret des deutschen Fernwehs, in dem der nationalsozialistische Expansionsdrang schlummerte. Die SPD war rechts, aber ihre Parteigänger erlebten sich als legitime Erben der Arbeiterbewegung und ihrer Kämpfe. Ihr Aufstieg führte von der Platte ins Eigenheim und vom VW-Käfer zum Audi Quattro mit permanentem Allradantrieb. Erst Schrebergarten, dann Vorgarten. Den Lappen/die Pappe (sprich Führerschein) hatte man mit achtzehn zu haben. Und sofort ein Auto. Man lebte zwar in der sozialen Marktwirtschaft, aber gewiss nicht in einer staatlich gelenkten Wirtschaft. Die DDR, wo man zehn Jahre auf ein Autoersatzfahrzeug warten musste, gab das schlechte Beispiel vor der Haustür der Demokratie. Schon ab vierzehn wurde für den Führerschein „angespart“. Nachtwey beschreibt den Prozess „vom Bürger zum Kunden“.

Es gab kein Bier auf Hawaii und kein Weizen außerhalb Bayerns. Mein erstes Weizenbier (Kristall) bekam ich am Staffelsee serviert, auf der Terrasse eines Ausflugslokals. Da saßen jede Menge Leute und genossen einen goldenen Nachmittag am Fuß der Zugspitze. Es reichte ein Weizen und man war Freund der bayrischen Lebensart.

Freiheit war eine Lichtung im Saum der Einschränkungen. Wenn ich vor der Schule die Laufschuhe anzog und über Felder und eine Autobahnbrücke in den Wald lief, fühlte ich mich frei. Auch die Beinfreiheit in kurzen Hosen rechnete ich zur persönlichen Freiheit. Freiheit war schon die Aussicht darauf, ein Hemd gleich anzuziehen, das mir gefiel. Meine Leichtigkeit war Freiheit.

Was war außerdem Freiheit?

Die echte Jeans im Gegensatz zur Discounterware.  

Klippen und Kraut

Eine Rückblende auf Doris in ihren Zwanzigern. Die passionierte Weltreisende leidet unter Flugangst. Wir sehen sie auch in der Gegend von Callanish, einem sagenhaften Ort auf der schottischen Hebrideninsel Lewis and Harris.
 

Klippen und Kraut - vom Himmel bis zur letzten Luftlinie über dem Meer ist alles sichtbare Jagd. Möwen schießen ins Wasser. Doris entdeckt einen blanken Schaufelknochen in einem Muschelnest. In Felskerben nistet Tang, als würde er da wachsen. Treibgutsammler grasen den Spülsaum ab. Möwen untersuchen einen Algenschleimverbund. Unrat ist für kleine Fische zur Falle geworden. Doris erreicht einen vom Verfall mitgenommenen, als Schutzraum noch brauchbaren Steinbau. Auf dem geborstenen Dach hat sich Erde niedergelassen. Sie bildet eine stattliche Sohle. Ein Werk der Natur wie von Menschenhand. Es unterscheidet sich substanziell kaum von der neolithischen Großarchitektur in Skara Brae auf Orkney Mainland.

Doris befährt die Orkneys, Shetlands und Hebriden. Auf den Archipelen folgt sie Traumpfaden in ihr inneres Gelände. Das Meer übertrifft sich in einem Farbspiel zwischen Smaragd und Aquamarin. Ein Strahlendom leuchtet der Wolkengotik heim. Kein Mensch kann jetzt noch daran zweifeln, dass die Welt ein magischer Ort ist. Die Sagas sind wahr. Grabsteine erinnern an viele früh Verstorbene. Man wird geboren, man zeugt, dann wird man zerfetzt. Das letzte Licht verschwindet in Wolkenfalten. Ein Hotel lockt mit Jugendstil-Original-Interieur. Das ist ein Museum voller Whiskey. Ein Solist sitzt da wie verzaubert. Doris verliert den inneren Erzählfaden angesichts eines Mannes im Pyjama am Tresen.

Vermutlich gab es in der langen Geschichte der spirituellen Gymnastik neben vielen Scharlatanen jede Menge nicht anschlussfähiger Autodidakten und Erfinder existierender Formen. Das Unsortierte, Wuchernde und Schräge, vor allem jedoch das Yoga-grammatisch und -orthografisch Zweifelhafte fordern eine argwöhnische Betrachtung heraus. Gleichzeitig fasziniert dieser Karneval der Bemühungen um Körperbeherrschung. Auch Doris verfolgt ihren eigenen Weg. Sie hat sich das Laufen auf den Händen beigebracht. Sie kann sich zusammenfalten wie ein Taschentuch und ihren Puls herunterregulieren. Ihre Flugangst überwindet sie so nicht. Die Weltreisende fliegt mit Angst. Sie krümmt sich in der Sitzschale, während ein Tortenbäcker, der sich selbst als König unter Konditoren feiert, Doris unbekümmert in ein Gespräch zieht. Luther Champlain hofft auf eine gemeinsame Nacht mit Doris im Country Inn Motel nahe dem legendären Gander International Airport. Sein Gerede mischt Kreuzworträtselwissen mit einer glänzenden Gegenwart und einer tristen Kindheit. Im Winter verheizte sein Vater Bodenbretter und Dachsparren. Bevor Luther ins Klassenzimmer durfte, musste er sich der peinlichen Prozedur einer Läusekontrolle unterziehen. Luthers Anblick löste Allergien aus. Aber das Kind dramatisch verwahrloster Leute kannte die Namen aller Hauptstädte. Es wusste genau, wie hoch der Mount Everest in den Himmel ragt.

Die Welt erschließt sich Luther in einem Eklektizismus, der von liegengebliebenen Magazinen und Taschenbüchern angeheizt wird. Ständig lernt er dazu. Er drückt sich so gewählt aus wie manche Analphabeten. Luther könnte alles Mögliche eher sein als das, was er ist: nämlich ein vom Glück verzuckerter Konditormeister. 

Schwarze Horizontlinie

Doris schließt die Augen und verliert sich in der Betrachtung von Nachbildern. Sie kennt die Nordfront from the Butt of Lewis to Barra Head, wie es in dem Gedicht von Robert Burns heißt. Die Leute reden da gälisch. Sie logiert im Doune Braes Hotel, vor den Fenstern liegt der schwarze Spiegel eines Teichs, der angeblich jeden erschaudern lässt und schon manchen Bräutigam zum Selbstmord verführt haben soll. Kein Hotel steht den Callanish Standing Stones näher.

„Callanish … ist eine Ortschaft auf der schottischen Hebrideninsel Lewis and Harris.“ Wikipedia

Das Schicksal der Gegend bestimmten wenige Familien, die das Feld nicht räumten, als es nichts mehr trug. Sie blieben in einer verwitternden Landschaft, die ihre arkadische Dimension infolge von Raubbau und Klimakorrekturen verloren hatte. Plötzlich war es kalt. Es gab nichts mehr außer Tieren und Steinen und den Verzweigungen eines norwegischen Stammes, der in der Aura jungsteinzeitlicher Artefakte schottisch geworden war.

Sturm erschöpft die Unterschiede zwischen Türmen, Pfeilern, Grabsteinen und Hügelgräbern, religiösen Monumenten und Wehranlagen. Das Meer empört sich grau, grün und blau.  

Die Horizontlinie ist schwarz. Im Geröll klemmt ein Knochen.

Doris genießt die ozeanische Aussicht im Frühstücksraum ihrer B&B Pension, dem Backaskaill Farmhaus auf der Isle of Sanday. Im Wuchs verstockte Kiefern stehen am Strand Spalier. An der Scheidewand einer Geländenase klebt ein Nest. Die Felsnadel sieht aus wie „The Old Man of Storr“ als Kind.

„Der Old Man of Storr ist eine 48 Meter hohe Felsnadel auf der zu den Inneren Hebriden gehörenden schottischen Insel Skye.“ Wikipedia

In den Küchenschubladen der Inselhaushalten lagern normannische Nadeln, die vor jeder amtlichen Grabung aus der Erde geholt oder gegen Fußballereinklebebilder getauscht wurden. Das Backaskaill Farmhouse hat auch eine Abteilung für Seesterne, Korallen, Krötenpanzer und Walrosszähne. Besonders gefällt Doris eine schmale Bibliothek aus Holzbüchern. Ihre Rücken bestehen aus Rinde, die Titel bergen Samen, Frucht und Blätter überseeischer Bäume.

Wieder so ein blasierter Schnösel, denkt Doris angesichts des attraktiven Mannes, der ihr vorgestern auf Orkney Mainland in einer durchgängig männlichen, eindeutig englischen Reisegesellschaft bereits aufgefallen ist. Mit beleidigender Ignoranz hatte er durch sie hindurch gesehen und sich so in ihrem Gedächtnis etabliert. Orson vernimmt teutonische Anklänge in Doris‘ Backpacker-Englisch. Sie besitzt ein Register nur für erotische Flüchtigkeiten. Einmal gab es die Nacht im Zelt mit einem Namenlosen - Name nicht richtig verstanden, vergessen nachzufragen, sich durchgemogelt und um die Lücke gedrückt und das peinlich gefunden. Das purzelt gerade aus einer Tombola der Erinnerungen.

Gymnastische Angstreduktion

Die psychoanalytische Überformung der Reformgymnastik aka Yoga war im New York der 1950er Jahre der letzte Schrei. Die Devise lautete, runter von der Couch und rauf auf die Matte. Auch die Übertragung funktionierte kongenial. Leibesübungsmeisterinnen fungierten als Yoga-Ammen, denen zuliebe der Praktizierende sich selbst erlöste, indem er das geforderte Pensum erfüllte.

Das 19. Jahrhundert ist ein außereheliches Rodeo, soweit es Anton Steinbrechers Ahnen betrifft. Die Kinder lediger Mütter wachsen bei den Großeltern auf und machen dann so weiter. Ein Steinbrecher reklamiert trotzdem eine illustre Abstammung im Dunstkreis napoleonischer Desaster und mit Hinrichtungen quittierter Konspirationen. Von dem Epauletten-Verve ist eine Generation später nichts übrig. Schließlich verleitet August S. eine verheiratete Frau zur Verachtung des Bewährten. Sie bricht aus ihrer Ehe aus und erleidet als Ausgestoßene das Dasein einer Haushaltshilfe mit weiten Fußwegen. August fehlt das Angenehme. Selbst sein Lob verätzt. Sein 1911 in Dortmund geborener Sohn schließt sich in den 1920er Jahren einer Wandervogelgruppe an. Im Tross eines apokalyptisch ausgerichteten Charismatikers gerät Anton auf den Monte Verità. Ein Augenblick am Comer See verleiht dem Landschaftsbegriff Lombardei einen besonderen Klang im Verein mit dem labial stets unbewältigten Lago di Como.

Als Geliebter der Gesundtanzpionierin Milena von Fürstenstein nimmt Anton Fühlung auf mit gymnastischer Kaffeesatzleserei. Die jüdische Reformerin emigriert 1934 nach New York. Da konkurrieren Europäerinnen auf dem Achtsamkeitsmarkt um die Zahlungsfähigkeit schnell gelangweilter Hustler mit wenig spirituellem Potenzial und großem Verschleiß in allen Funktionen von Körper und Seele. Milena erweitert ihr Repertoire mit Vorträgen. Sie erkennt ihre Begabung für übergreifende Rundumschläge. Von der Speerschleuder zum Perpetuum Mobile in drei Sekunden. Milena plädiert für Boosting Self Talk. Sie postuliert: Zerstören Sie die begrenzenden Glaubenssätze in Ihrem Kopf.

Sie referiert über Balance, während sie sich selbst über ihren Schwerpunkt hinaus bewegt, um in der Überforderung die Miete zahlen zu können. Die Überforderung ist das Äquivalent zur Entfremdung. Amerika liegt Milena nicht. Sie geht nicht auf in der Hefe dankbar in ihre neue Heimat verliebter Firststepper.

In ihrem Business machen sich Koryphäen die Kundschaft mit harten Bandagen abspenstig. In den Yoga-Studios ist keine Verbraucherin bereit, sich zu langweilen. Diese Leute besitzen ein Stadthaus in Manhattan und eine Yacht mit abgeschirmtem Liegeplatz in den Hamptons. Viele begüterte New Yorker geben in den 1950er Jahren ihre urbanen Repräsentanzen auf und verziehen sich in rurale Randzonen der Agglomeration. Der Umzug transformierte das Umland. Gemeinden mutieren. Milena erlebt den Wandel in ihrer Nachbarschaft - der Upper West Side - als Niedergang. Lebhafte Milieus entstehen in karibischen Farben. Die Migrantin fühlt sich von der Migration bedroht.  

 

Forcierte Nähe - Rückblende

„Ich wollte immer eine Form von Training, die für mehr als nur den Körper gut ist.“ Lou Reed

Hüten wir uns vor den „regressiven Utopien“ (Gershom Scholem) der westdeutschen Heimaterzählung. Bei den Hölzenbeins erschöpft sich der Familienfuturismus darin, beim Grillen auf der Terrasse fernzusehen; der Fernseher im Freien als Äquivalent zum bemannten Raumflug. Am 26. August 1972, einem Samstag, verfolgt Doris neben ihrem Yoga-Meister, dem Finanzbeamten Fürchtegott, die Eröffnungsfeierlichkeiten der XX. Olympischen Sommerspiele in Farbe. Seit der schwarzweißen Mondlandung vor drei Jahren sahen nie mehr so viele Menschen gleichzeitig fern.

Doris und Fürchtegott haben den Lotussitz eingenommen. Sie teilen sich eine Matte, die Knie berühren sich in aller Unschuld. Doris zahlt den Preis der forcierten und zugleich camouflierten körperlichen Nähe im Widerstreit der Empfindungen. Zweifellos verdankt sie Fürchtegott Energieschübe, die sie regelrecht auffüllen und abheben lassen, und andere Erlebnisse fern der schwäbischen Hausordnung. Fürchtegott ist nicht nur Reiseleiter, sondern auch Bezwinger des Angsttiers. LSD-halluzinogene Zustände erreicht Doris auf einem Planeten der Stille. Den Weg dahin und zurück kennt nur Fürchtegott. Holt unterwegs die Angst auf, hilft das besonders, was sonst manchmal lästig ist und ab und zu auch etwas ganz anderes.

Fürchtegott verkörpert den Typus des Tüftlers, er ist ein Yoga-Ingenieur, gewissenhaft bis zur Pedanterie. Das unterscheidet ihn fundamental von den üblichen Verdächtigen. Er setzt einen Qualitätsstandard, der die Flow-Markttypen sofort auffliegen lässt. Doris hebt er hoch über ihre Möglichkeiten. Fürchtegott, dieser Fuchs, beamt seine Favoritin in eine Umlaufbahn, in der er ihr unentbehrlich ist.

Er lehrt sie jede positive Entwicklung zu verlangsamen und die Klimax zu verzögern, weil jenseits des Hochpunktes das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt. Doris lernt, Spannungen zu lösen und Kraft aus ihrem inneren Qi-Teich zu schöpfen. In der Hochzeit der antiautoritären Bewegung mit ihrem Haschrebellen-Komment verschafft ein Bilderbuchspießer Doris das beste High.

Gattin Dorothea hält sich vornehm zurück. Im perfekt sitzenden Hauskleid serviert sie den Irren am Boden Eistee.

In Fürchtegotts Arbeitszimmer hängt ein Porträt von Howard Kent, der Yoga in Großbritannien popularisierte. Ich erlaube mir hier eine Bildungsschleife. 1940 veranlasste Winston Churchill die Internierung aller männlichen Deutschen in Großbritannien. Auch Frauen waren von der Absonderung betroffen. So geriet Ilse Eva Louise Groß, die als Kathrine Talbot literarischen Ruhm erlangte und zeitweise für die Psychoanalytikerin Kate Friedländer arbeitete, in die britische Deportationsmühle. Im Februar 1941 besuchte sie einen chassidischen Liedernachmittag in Port Erin; gestaltet von Dora Diamant, die für sich den Namen Dora Kafka in Anspruch nahm. Bald darauf heiratete sie den Journalisten Geoffrey Pittock-Buss. Als Yogi nannte er sich Howard Kent.  

Der Freigeist im Reihenhaus

Eine Prise Yoga, eine Schnupperstunde getanzte Psychoanalyse, ein Häppchen Transzendentale Meditation, ein Kurs in philippinischen Martial Arts - an die Stelle des mühsamen Begreifens trat in den 1970er Jahren der Konsum exotischer Sujets, die Lebenssinn, Seelenfrieden, Energie, wenn nicht sogar Erleuchtung to go versprachen.

Die Provinz als Exzessraum - die Spots der Gegenkultur schießen im Enzkreis wie Pilze aus dem Boden. Leute, die in London und Berlin gelebt haben, schleifen spießbürgerliche Burgen und bäuerliche Ringanlagen mit ihrer Extravaganz. Für sie ist die Gegend zwischen Pforzheim und Mühlacker eine Transitsphäre und nicht mehr als ein Schauplatz des Augenblicks. Geläuterte Rauschikonen treten wie Rockstars in Erscheinung. Sie stellen monumentale Behauptungen auf. Die Erschöpfung aus der Vergeudung wollen sie mit Tai Qi und Qigong überwinden.   

„Ich möchte nicht allmählich in die Fett-und-senil-Lethargie hinübergleiten“, wird Lou Reed ein paar Jahre später stellvertretend für viele Freaks sagen. Das Genie arrondiert den Kern der westlichen Krise.   

„In anderen Ländern wird … Meditation in der Schule unterrichtet. Wir lehren … das Leben der Uninspirierten.“  

Seine Vorgänger gründen Kommunen, übernehmen Kneipen und eröffnen Teestuben. Drei Subkulturen lassen sich unterscheiden. Da sind Ausleger der außerparlamentarischen Opposition, Dropouts und die Spirituellen in zig Spielarten. Selten genügt das spirituelle Wachstum den Erwartungen. In ihren Vorstellungen eilen die Übenden ihren Möglichkeiten voraus. Niemand erreicht die Solidität des Yoga-Meisters Fürchtegott Hölzenbein. Er sieht aus wie die Klischeefigur eines schwäbischen Reihenhaus-Patriarchen. Jederzeit könnte er die Rolle des Tyrannen in der Strickjacke auf einer Volkstheaterbühne spielen. Doch atmet in Fürchtegott ein akribischer Freigeist. Die Verbindung zum Universum stellt er so her, wie nach Klara Blum es der antike chinesische Bauer tat: „Er blickte selbstbewusst zum Himmel auf, nannte die Milchstraße den Silberstrom und hielt sie für eine Fortsetzung des Hoang-Ho, an dessen Ufern sein Dörfchen lag.“  

In Fürchtegotts Nähe findet Doris Momente des langen Atems und der Schwebe in einer mitunter scheppernden Stille. Die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele am 26. August 1972 erleben die beiden gemeinsam. Später wird Fürchtegott seine Frau auf das Wohnzimmersofa bugsieren und an Doris denken, während er Dorothea aus der Festung ihrer Zurückhaltung lockt. Halten Sie Dorothea bitte nicht für zu reserviert. In einer langen Ehe ist Sex etwas, das schöpferische Kraft erfordert. Aber das wissen Sie ja schon. Heiter soll das Ringen um Medaillen werden; ein Musterfrau-Gegenstück zu dem auftrumpfend-martialischen Staatsschauspiel von 1936. Ein Hauch von Katharsis weht das sozialdemokratische Wir-sind-wieder-wer-Auditorium an. Das Design der Spiele entstand in Otl Aichers verrauchtem Atelier in Hochbrück. Die Süddeutsche Zeitung fand da das „Labor des neuen Deutschlands“.

Kosmischer Kaltstart

Ist man ein nummerierter Spielball oder rührt man selbst die Lebenslotterietrommel? Fürchtegott erzählt Doris von Shivas Tanz der Zerstörung in einer Feueraureole. Das ist der kosmische Kaltstart; der Anfang von allem. Das Leben beginnt mit dem Tanz der Zerstörung. Warum erscheint das Doris plausibel? Die ornamentalen Wucherungen in den Illustrationen der hinduistischen Mythologie erzeugen die Wirkung von Wimmelbildern. Nicht stehenbleiben will Doris im Vorraum der Verheißung; so wo andere - die nach anfänglicher Begeisterung - nicht weitergehen, da sie von ihrer Bequemlichkeit und geringen Frustrationstoleranz aufgehalten werden. Das Labyrinthische der Empfindungen erhöht die Empfänglichkeit der Schülerin für das Rahmenprogramm. Ständig klebt eine Lehrerhand auf der Schweißnaht (Schweißsaum ist auch schön), sogar dann, wenn Dorothea - im gebügelten Hausanzug - in der Nähe Staub wischt. Außer seiner persönlichen Schicklichkeitsorthodoxie schränkt den Hausherrn nichts ein. Fürchtegott referiert über Bewusstsein und Balance. Über die karmische Dimension im Verhältnis von Schülerin und Lehrer. Jede Adeptin muss sich in einem Mahlwerk aus Zweifel und Hoffnung zerreiben lassen, bevor sie neu erwachen darf.

„Wenn du etwas willst, dass du noch nie hattest, musst du bereit sein, etwas zu tun, was du noch nie getan hast.“ 

Doris hält sich nicht für mutig. Die Namen ihrer Entschlossenheit kennt sie nicht. „Sie war nicht mutig, doch immer stärker als ihre Angst.“ Eine Bemerkung, die mit einem Fragezeichen Isaak Babel zu geschustert wird.

Fürchtegott redet Doris jede Erwartung auf den Moment der plötzlichen Offenbarung aus. Vielmehr lehrt er sie, ihre Grenzen zu genießen, und sich vom schleppenden Fortschritt nicht verrückt machen zu lassen. Die Topografien der Yoga-Evolution sind irreführend, die Blaupausen überzeichnet von westlichen Irrtümern. Der Handlungsaugenblick dehnt sich in einer Blase der Zeit. Wir sind immer noch im Eröffnungstrubel der olympischen Sommerspiele von 1972. Doris und Fürchtegott verbinden sich in einem Einfühlungsvorgang. Sie verschmelzen in der gemeinsamen Leidenschaft vor dem mondän auf der Terrasse platzierten Fernseher. Die Übertragung der Eröffnungsfeierlichkeiten verflüchtigt sich zu etwas Ephemerem im Hoheitsgebiet eines weißen Rausche(n)s. Günter Zahn trägt die Fackel ins Stadion. Der achtzehnjährige Leichtathlet und Polizeimeisteranwärter läuft in Schuhen ohne Firmenzeichen. Stichwort Amateurstatus. Die Stimme der Spiele gehört Joachim Fuchsberger. Das Defilee der Delegationen beobachten achtzigtausend Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Rängen. Zum ersten Mal spricht eine Frau den olympischen Eid. Die zweiundzwanzigjährige Leichtathletin Heidi Schüller wird dann im Weitsprung Heide Rosendahl unterliegen. Ein Markenzeichen der Präsentation sind die Hostessen. Denken Sie an die künftige Königin Silvia Sommerlath. „Mehr Demokratie wagen“, lautet eine Willy-Brandt-Parole, die von den Alpen bis an die See eine neue Politikerzählung überschreibt. Bayern München verkörpert das Establishment und den Hochmut der Macht. Ein Gespenst geht um. Es heißt Baader-Meinhof.

Die Ehe als Eisschrank

Die natürliche Selektion findet ohne Vorausschau statt. Deshalb kann sie kein Werkzeug eines Schöpfungsplans sein, nach dem, alles zum Besten in der besten aller möglichen Welten bestellt wäre. Die Evolution kümmert sich nicht - wie eine universelle Amme - um das Wohlergehen der Pinguine. „Um das Überleben einer Gruppe geht es nicht“, erklärt Richard Dawkins. Die natürliche Selektion begünstigt blind jeden kurzfristigen Vorteil, indem sich eine Generation mit solchen Individuen bemustert, „die (im historischen Augenblick) alles Notwendige getan haben, um Nachkommen effizienter hervorzubringen als andere“.  

„Eine Population ist kein ausreichend distinktes Gebilde, um als Einheit der natürlichen Auslese zu dienen.“

Nicht ausreichend distinktiv! Was ist dann eine Familie? Wenden wir uns den Yıldız' zu. Als einzige Familie im Enzkreis haben die Yıldız' ein Fünfundzwanzigmeterbecken im eigenen Garten. Als kardiologische Kapazität im Weltmaßstab rangiert Tayfun Y. in allen lokalen Hierarchien an erster Stelle. In seinem Wellness-weißen Bademantel serviert er sich an der Essbar selbst einen Espresso. Die Maschine ist das teuerste Produkt einer lombardischen Manufaktur. Tayfun beweist Stilsicherheit auch mit den Bildern an seinen vier Wänden. Oskar Schlemmer und Adolf Fleischmann repräsentieren nach einem vom Hausherrn solistisch forcierten Begriff die Stuttgarter Schule. Tayfun sammelt Maler aus dem Ländle. Wir können alles. Außer Hochdeutsch. Veronika erscheint auf der Bildfläche. Die Farce der Begrüßung einander entfremdeter Gatten. Das Eheband hält unter dem Druck der Konventionen. Die Ehe als Eisschrank - unter dem Gletscher fließt ein Lavastrom. Die Vertraulichkeit des Hasses … im Wechselbad der Gefühle fällt Veronika der gemeinsame Anfang in einer exquisiten Junggesellenbude ein. Man könnte auch mal wieder auf den Ehepartner zurückgreifen. Das wäre zumindest eine Abwechslung von den Routinen versierter Fremdgeher. Die angenehme Aufregung im Frotteeflausch stimmt Tayfun philosophisch. Fuhr früher einer fünfzig Jahre zur See, endete er als gestrandete Gichtmumie. In den epigenetischen Mutationsfalten des Anthropozäns verbirgt sich heute die Möglichkeit, ein halbes Jahrhundert Erfahrungen zu sammeln und davon in einer - noch nicht lange die Alterung verschleppenden - Spanne langsam nachlassender Kräfte zu profitieren wie nie zuvor.

Stark alt werden … im Wohnzimmer der Familie Yıldız gibt es keinen Millimeter Mainstream. Zu den Alleinstellungsmerkmalen zählen der Samowar, Ebrus, und konstruktivistische Kunst, die von Max Bense und Eugen Gomringer rezipiert wurde.  

„Ebru ist die Kunst des Malens auf dem Wasser. Ihren Ursprung hat die Ebru-Kunst in Asien, wo diese Praxis hauptsächlich genutzt wurde, um Bücher zu binden.“ https://kunstart-ebru.de/ueber-ebru/

Im Schaumbad der Hilflosigkeit

In jeder Zeit entstehen wie aus dem Nichts gegriffene Bilder vom Untergang einer Zivilisation im Ansturm der Barbaren. Die Bilder behaupten ihre apokalyptische Dimension gegen die triviale Tatsache, dass sie ohne Ausnahme ein Stereotyp auswringen. Stets zeigen sie den Anderen als Aggressor, während sie das gefährdete Selbst im Schaumbad der Hilflosigkeit verorten. Der Philosoph Alessandro Baricco beobachtet „hervorragende Geister (wie sie) die Ankunft der (Invasoren registrieren), indem sie den Horizont des Fernsehers fixieren“.

Nicht wenige Bürger des baden-württembergischen Grenzlands erleben einen der Kultiviertesten unter ihnen als Barbaren. Ihnen graut vor Tayfuns (vermeintlicher) Omnipotenz und seiner (in ihrer Wahrnehmung) abgefeimten Leutseligkeit.

Früher Vogel fängt den Wurm. Tayfun zieht seine Morgenbahnen im eigenen Fünfundzwanzigmeterbecken. Er vereint so viele Fähigkeiten auf sich, dass seine Grenzen das menschliche Maß hinter sich zu lassen scheinen. Mit seiner Privatklinik in einer Kraichgauer Idylle verdient er sich eine goldene Nase.

Tayfun verkörpert den am Bosporus verbreiteten, an der Enz jedoch singulären Typus des gedrungenen, hypervirilen High Potential mit Omar-Sharif-Appeal und vorzeigbarem Stammbaum. Allerdings steht er nicht nur am vorläufigen Ende einer Reihe patriotischer Piraten, Putschisten, Generäle und Staatsmänner. Tayfun bildet den genetischen Endpunkt einer genealogischen Erfolgsgeschichte. Eine Caprice der Natur verdammt ihn zu dem Schicksal, der letzte Mann auf der sinkenden Seemannskiste seines Geschlechts zu sein.

Bir traktör en zayıf halkası kadar iyi olabilir - Jeder Traktor ist so stark wie sein schwächstes Glied. Zwei Merkmale limitieren den osmanischen Supermann. Tayfun kann nicht zeugen und er kann nicht kraulen. Als unfruchtbarer Brustschwimmer neigt er zu operettenhaften Formulierungen seiner Vorsätze. An jedem Workout-Morgen schwört Tayfun seinem Schweiß, sich niemals so viel Schwäche zu gestatten, dass er die Gewalt (Verdrängungswucht) der Nachkommenden bloß noch zahnlos weglächeln kann.

Dahin soll es nicht kommen, zwar noch die Erfahrung, aber nicht mehr die Kraft zu haben, um ein Verhängnis abzuwenden.

Seine Frau, die promovierte Archäologin und immer noch prominente Ex-Leistungssportlerin Veronika, findet Tayfuns paranoides Kompaktprogramm witzlos. Im Nachthemd am Fenster ihres separaten Schlafzimmers stehend, verbietet sie der Gereiztheit, ihr zu nahezukommen. Sie sollte verdammt noch mal froh und dankbar sein für die segensreichen Wirkungen der tüchtigsten Egomanie. 

Im Grunde ihres Herzens wünscht Veronika ihrem Gatten den klassischen Tod des sich selbst überschätzenden Amateurrennfahrers. Kurven gibt es genug in der Gegend.

Töchterliche Schlüsselbeinfragilität

„Die drei teuersten Dinge, die ein Hirn tun kann: deinen Körper bewegen, etwas Neues lernen, Ungewissheit tolerieren.“ Lisa Feldman Barrett in einem Interview mit Nele Pollatschek in der Süddeutschen Zeitung am 06.07. 2023

Die größtmögliche Unterwerfung ist der Verzicht

Ein Außenseiter mag auf den Wegen der Anpassung so weit gehen wie er nur kann, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Jedwedem damit verbundenen Gewinn schlägt ein deprimierender Selbstbestimmungsverlust entgegen. Didier Eribon lehrt: Alle Kampagnen „sind Kämpfe um die Wahrnehmung der Welt“. In den sozialen Medien schalten sich die Legionen der traditionell Ungehörten ein. Die Heftigkeit der Auftritte kommt aus ungeschultem Durchsetzungswillen. Sie bewirkt eine Herabsetzung der Standards. In dieser Geschichte spielen die sogenannten sozialen Medien noch keine Rolle. Das Internet steckt in den Kinderschuhen. Es gibt keine mobilen Telefone. In seiner persönlichen Veranda-Schaukel kauernd, mustert der Kardiologe Tayfun Yıldız die Schlüsselbeinfragilität von Issas Dekolletee. Seine Ziehtochter Alissa, kurz Issa, badet in der Sonne. Issas ideal modellierter Rumpf betont eine hauchfeine Goldkette, beschwert von einem Saphirtropfen. Das Kleinod - ein Geschenk von Keno - schmückt Issa noch nicht lang. Die Hausherrin serviert hausgemachten Kartoffelkuchen und - bei Luigi in Pforzheim gekaufte - Amaretti morbidi auf Rosenthal-Porzellan. Als einzige Familie im Enzkreis haben die Yıldız‘ einen wettkampftauglichen Pool im Garten. Der gebürtige Istanbuler erscheint wie eine osmanische Ausgabe des von Klausjürgen Wussow süffig verkörperte Professor Brinkmanns. Tayfun besitzt diese V-Kragensouveränität, die man sich nicht einfach abgucken kann. Seine Gattin, die schönste und sportlichste der sieben Steinbrecher-Töchter, ist im Augenblick der Ereignisse eine Vierunddreißigjährige, nach der sich die Männer den Hals verrenken; über die nicht wenige vor dem Einschlafen nachdenken. 

Veronikas Figur, das Geschirr, der Supermann, die fein gezeichnete Debütantin, das Schwimmbad sind in dieser Reihenfolge gut, teuer, beeindruckend, grazil, gigantisch.

Das sind Kampfansagen. Die Botschaft lautet: bloß, weil einer nicht gleich ertrinkt, heißt das noch lange nicht, dass er bei uns mitschwimmen kann.

Mutter und Tochter tauschen sich gereizt aus. Issa erträgt Veronikas straffe Jugendlichkeit kaum; diesen Willen, der Schwerkraft des Alterns zu trotzen. Warum kann sich diese Frau nicht so benehmen wie andere Mütter auch? Tayfun schaltet sich ein und klemmt sich dazwischen. Er liebt die Rolle des Vermittlers beim Dauerstreit seiner Frauen.

Aus den Augenwinkeln registriert er eine Ameisenkolonne auf seiner Terrasse. Der Roten Feuerameise gelang erst vor Kurzem die Überquerung des Mittelmeers. Sie setzt nun ihre Invasion auf europäischen Boden fort. Wieder so ein weitgehend unbeachteter Angriff auf endemische Lebensformen.

Im Feuerkreis der Fahrgeschäfte

„Kaum lässt er nach, dreht sie ihr lieb sein lauter.“ Loislane

Zum Randgeschehen. Der von mir verehrte Flaco beschwert sich über die ausladende Lebensweise des Steinbrecher-Klans und seiner Satelliten. Ihn stört Tayfuns V-Kragensouveränität und Veronikas einfallsloser Edelboutiquenschick. Unter den Krusten der Ehe-Gegnerschaft liegt eine antike Schicht der Zuneigung. Die kleinen Sensationen haben etwas von archäologisch-akkuraten Freilegungen. Doch da ist auch Kurt, den die Leute Smartie nennen. Smartie ist der glücklichste Mensch auf Erden. Das Glück arbeitet wie ein Motor in ihm. Er verdient sich ein Taschengeld mit dem Zusammenschieben von Einkaufswagen. Sein Zimmer betrachtet er als TV-Studio, in dem laufend volkstümliche Hitparaden stattfinden. Smartie liebt Blasmusik und Volksfeststimmung. Das dröhnende Festzelt, die knarrenden Bohlen, ausschwenkende Kellnerinnen. Im Feuerkreis der Fahrgeschäfte wird die Dorfjugend seit Jahrhunderten erwachsen. Nebenbei gefragt, wie kommt, ich wende mich noch einmal explizit an Flaco, kulturindustrieller Erfolg zustande. Es ist die „Komplexion von handfestem Plot … und destillierbarer Idee“, sagt Adorno. So entstünde die Suggestion, „dass auf den sozialen Kommandohöhen noch Leben sei“. Skrupellose Schreiber verweben „den Schleier der Personalisierung“ mit der Weltgeschichte. Oft erzähle ich, wie sich Klinikchef Tayfun Y. jeden Morgen in seinem Pool in Form bringt. Zur gleichen Zeit absolviert Tayfuns Nachbar Helmut S. in einem städtischen Bad das Pensionärspensum. Er nötigt sich, als gäbe es sonst nichts mehr auf der Welt. Er betrachtet sich wie man eine vom Einsturz bedrohte Baracke betrachten könnte.

Im Wasser spielt er mit der Gedankenlosigkeit und Fetzenhaftigkeit von Spruchweisheiten und Halbsatzbinsen, die aus den Ätzbädern unangenehmer Erinnerungen aufsteigen. Alles halb so. Nichts wird so. Morgen ist auch noch. Früh krümmt sich. Was du heute kannst. Fast nichts formuliert sich zu Ende im Dauerlauf von Rollwende und Tauchphase. Fast nichts mehr ist der individualisierenden Rede wert, es sei denn die Frühstückseikonsistenz.

Jederzeit könnte Helmut, was auch immer, ebenso gut lassen.

„Ein alter Mann, der immer noch denkt, ist eine Groteske. Greise müssen fertig sein“, sagt ein Dichter. In der räumlichen und zeitlichen Umgebung der Ertüchtigungen überkommt Helmut eine trockene Geilheit. Die Libido kriecht in veralteter Frische hinter ihrem Ofen hervor. Helmut animiert sich mit Müttern, die zuhauf unter sich und den Rentnern sind, bis die Schule aus ist und ein Radau der losgelassenen Pubertät den nächsten Umsturz ankündigt. Hallende Wasserklangbilder untermalen die Stunden des geschwätzigen Ausschlusses elementarer Störungen. Helmuts vom Chlor und von der Anstrengung getrübter Blick schnappt aus Versehen nach einer Person mit dem Bewegungsbild eines Kampfhundes. Wie sie zurückguckt, das findet Helmut übertrieben bissig. Er sucht Trost in der Mütterlichkeit einer Zwanzigjährigen, die sich ungezwungen ihres Bikinioberteils entledigt, um ein Baby an die Brust zu legen. Wie gerne wäre Helmut an der Stelle des Babys.

Die Bourgeoisie im Sattel

Angeregt von ratz, schiebe ich zwischen die Folgen des Fortsetzungsromans „Schwäbischer Flow-Markt“ eine Improvisation über ein Werk des gerade verstorbenen schottischen Autors John Burnside. Die Idee ist, mit Burnside so dicht wie möglich an den ‚Bigger Splash auf Schwäbisch‘ heranzurücken. 

Die Mutter hört Radio, der Vater sieht fern. Der Rundfunk ist das intensivere Medium. Er setzt mehr Marken, beschriftet und illustriert die Kindheit und Jugend der Nachkommenden mit gereimten Merksprüchen und klandestinen Botschaften im Kassiber der Verse.

John Burnside imaginiert sich erinnernd als „entwurzeltes Kind“ unter scharf richtenden Rabauken von „satyrhafter Zudringlichkeit“. Die Henker und ihre Schergen betreiben das Geschäft der Entrechtung mit großer Hingabe. Der Verfolgungsdruck befördert die Bedrängten in Alfred Lord Tennysons lyrisches Land der „Lotosesser“, wo „alle Dinge ruhen und dem Grab entgegenreifen“. Burnside erzählt von John Mason. Den Tropf begnadigt die finale Niedertracht eines „rücksichtsvollen Attentäters“. In der Formulierung verneigt sich die Geläufigkeit vor einer Wahrheit. 

Ist Paul ein Opfer, das der robusten Gemeinschaft gebracht werden muss. Burnside bietet dieser Deutung ein Forum. Er schildert ein weibliches Pendant, wieder auf einer Folie der unausgeführten Existenz. Er beschreibt Menschen, die gewaltsam von Einzelnen, mit allgemeiner Zustimmung davon abgehalten werden, etwas zu sein. In diesem Kontext gesellt sich zur geschminkten Frauenfeindlichkeit, noch als Leiche muss das Opfer einen erotischen Mehrwert generieren, die koedukative Feindseligkeit gegenüber männlicher Schwäche

Burnside beschwört eine archaische Ordnung herauf, in der jede Generation einen Gesellschaftspakt schließt, der auf allen Ebenen bestätigt wird. Der Verhandlungsstil ist hart - expect no mercy.

Kenos Attentäter heißt Klaus Bosch. Er ist ein Neffe von Issas leiblichem Vater Henner B. Klaus beleidigt den auf Honolulu als Sohn eines kenianischen Gurus geborenen Schwaben mit noch lange nicht verbotenen Worten. Ich gebe nicht eines wieder. In der kleinen, idealen Welt, in der Keno sich anschickt, wie sein Opa hervorzustechen, wirkt Issa wie eine Spindel, um die sich vieles dreht.

Klaus rivalisiert mit Keno. Es geht aber nicht nur um Issa und Keno, der Rassismus steckt fest im Mark des Bosch‘en Familienknochens. Henner wird Veronika niemals verzeihen, dass sie ihm den türkischen Quacksalber (aka die international renommierte Koryphäe) Tayfun vorgezogen hat.

Der Krampf geht weiter. Die Generationen lösen sich ab. Klaus und Keno bereiten sich auf ihre künftigen Rollen vor. Keno ist kein John Mason. Opas Liebling beschäftigt sich von morgens bis abends mit Muskelaufbau. Er trainiert mit allem, was schwer ist. Er schießt mit Pfeil und Bogen. Fast täglich schwimmt er dreitausend Meter. Er reitet mit Issas Mutter, seiner Tante Veronika aus. Sie ist eine der besten Reiterinnen des Landes. Niemand besteigt eleganter ein Pferd. Veronika verkörpert die Bourgeoisie im Sattel.

Der Fetischcharakter einer noblen Ausstattung. Veronika sucht und bietet Körperkontakt bei jeder Gelegenheit. Sie imitiert ihre Tochter, lockt den Adoleszenten mit Scharaden.

Das Begehren der anderen

Der See ist ein geflutetes Tagebaurestloch; gesäumt von einer bewaldeten Senke. Im Sommer sind seine Ufer überlaufen. Neben den Jugendlichen, die mit ein paar Handtüchern auskommen, errichten Personen mit totaler Tagesfreizeit regelrechte Lager. Sie kampieren und biwakieren im Kreuzfeuer der Ablehnung. Im bürgerlichen Nachwuchs steckt schon alles, was sie deklassiert.

In der Steilwand über dem See ist eine Höhle. Hinein gelangt man durch ein überwuchertes Schlupfloch.

Keno beobachtet ein Liebespaar, dass sich an einer entlegenen Uferstelle unbeobachtet wähnt. Er sieht eine Weile fern.

Er kennt die beiden vom Sehen. Das ist in dieser Gegend unvermeidlich. Es gibt keine Anonymität. Jedes Verstolpern hat einen redseligen Zeugen. Trotzdem zielt so vieles auf das Verbergen. Könnte Keno hellsehen, wüsste er, dass ihn mit dem fremden Begehren bald etwas verbinden wird.

Ein Ausblick in die Zukunft

Nachts seilten sie sich an der Wand ab, bis zu einem Plateau wenigstens zehn Meter über dem Wasserspiegel. Am Ufer brannte kein Lagerfeuer, wie sonst zu dieser Jahreszeit. In der Ferne schlug ein Hund an. Das Gebell kam aus den Zwingern einer Polizeihundestaffel.    

Das Wasser war unerwartet warm. Keno versank wie in einem schwarzen Loch, das sich über ihm schloss. Angst schoss ins Blut und beherrschte ihn noch als er wieder Auftrieb kriegte. Er schraubte sich an die Oberfläche, orientierungslos für einen Augenblick und wohl auch leicht betäubt.

Keno ist ein guter Schwimmer, aber offene Gewässer beunruhigen ihn sogar, wenn sich die Sonne darin spiegelt. In dieser Nacht fürchtete er, kaum dreißig Meter vor dem Ufer, einen Einsatz des weißen Hais in konzertierter Aktion mit dem Ungeheuer von Loch Ness. Neben ihm suchte Daniela seine Aufmerksamkeit. Sie war vollkommen entspannt. Das war ein magischer Moment, in diesen See hatte sie schon mit drei gepinkelt, nicht anders als Keno, der Issa gleich zum ersten Mal betrügen würde.

Dani wusste nicht, dass er nicht bloß auf Ahnungen angewiesen war. Er hatte sie bei einem Experiment mit Klaus beobachtet. Klaus war der Neffe von Issas leiblichen Vater. Dani legte ihre Arme um Kenos Hals. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften und wirkte wie eine Bleiweste auf dem Rumpf eines Verzweifelten. Es überstieg ihre Vorstellungskraft, dass sich dieser schwarze Muskelberg in seiner ungeerdeten Position nicht entspannen konnte. Ein neuer Tag streckte seine Fühler aus. Frühschwimmerinnen erreichten den See auf Fahrrädern. Dani und Keno vernahmen die Vorfreude älterer Frauen, die sich ganz allein in Gottes freier Natur wähnten. Sie würden im Wasser furchtlos ein Plansoll erfüllen. Sie beglückwünschten sich zu ihrem morgendlichen Tatendrang. Sie lobten den Tag. Nichts als Daseinsfreude sprach sich aus. Darein mischte sich Kraftradlärm. Wahrscheinlich vermied der Fahrer den Berufsverkehr auf öffentlichen Straßen auf einer Route im Wald.

Präsenile Gottesfurcht

Der Verzicht auf Gott schließt auch den Teufel aus. Sigmund Freud bemerkt das irgendwo. Natürlich ist man am Ende wieder da, wo der Teufel (dieser abgedankte Gott) wohnt. Es sei schade, sagt Betty vorgeblich zu ihrer miserablen Tochter Doris, dass viele erst zu Gott finden, wenn es ans Sterben geht, und sie zu alt sind, um nennenswerte Beiträge an die Kirche zu entrichten.  

Betty bildet ein Bollwerk gegen das vor einem halben Jahr wieder eingetretene Ehepaar Salome und Claus Mayerhofer. Er war Abteilungsleiter bei einem Vorzeigemittelständler, sie Rektorin einer Grundschule im Enzkreis.

Salome und Claus stellen knitternde Leinenlässigkeit zur Schau. Sie sind so viel mehr Toskana-Fraktion als es in Berlin jemand sein könnte. Seit Jahrzehnten betrachten sie die Dinge von übergeordneten Standpunkten. Sie kokettieren mit ihrer Provinzialität. Ihr Haus in gemäßigter Hanglage antizipiert den Terracotta-Schick der Brioni-Kanzler-Ära.

Die Begegnung vollzieht sich vor der Kirche von Ö…  Die Kirche okkupiert einen vorfränkischen Gerichtsplatz. Sie ist das Wahrzeichen der christlichen Überformung einer älteren Heiligkeit.

Gebieterisch überblickt die Matriarchin den Friedhof ihrer Familie. Betty hatte nie die Idee, anderswo glücklicher sein zu können als im Geburtsdorf ihrer Mutter Pauline Schäufele. Jenen Pensionären, die für ihre präsenile Gottesfurcht Aufmerksamkeit und Anerkennung ihrer vergangenen Bedeutung fordern, zeigt sie die kalte Schulter.

„Sie fürchten nicht Gott, sondern den Tod. Die Gemeinschaft Gottes haben sie nie verstanden.“

Seit Tagen präsentiert sich der Sommer als Wüstenmacher. Die Schattensilhouetten der kleinen Gesellschaft gewinnen dramatische Schärfe.

Doris sucht nach einer Formel für ihre Empfindungen und bleibt am Kitsch einer stummen Selbstanklage kleben. Sie entnimmt dem grollenden Muttertext bloß den Tipp, wie man Rührkuchen akkurat anschneidet. 

Sakraler Schrottplatz

Veronika Y. ruht auf einer ergonomischen Gartenliege, während ihr Lieblingsneffe in perfektem Kraul Bahnen in ihrem wettkampftauglichen Gartenpool zieht. In einer Blitzphantasie sieht sie sich mit Keno am Tresen der Bahnhofsgaststätte von Mühlacker. Wegen der Eisenbahnknotenpunktfunktion und der amerikanischen Garnisonen überall im Land bricht da jedes Wochenende der Wahnsinn aus. Eisenbahner demonstrieren mit ihrer Brotdosenbräsigkeit gegen den Aufruhr. Keno war noch nie im Loch. Er steht auf Fitness. Nach exakt zweitausend Metern entsteigt er dem Becken mit Bewegungen wie aus der Werbung. Keno absolviert sein Programm so gewissenhaft, als stünde er unter der Aufsicht einer Bundestrainerin. Nachdem alle Punkte abgehakt sind, kanalisiert Keno das Interesse der promovierten Archäologin. Für die Schule braucht er eine Kurzfassung zum Stichwort Pompeji. Die vom Schlamm eines Vesuvausbruchs im Jahr 79 unserer Zeitrechnung konservierte Stadt Pompeji entwickelte sich aus einem Weiler, den der Bruch von Artefakten bezeugt. Expertinnen sprechen von rund dreißigtausend Scherben, die in dem seit der Bronzezeit besiedelten Latium im Dunstkreis des inzwischen trocken liegenden Vulkankratersees Lago di Castiglione und in nächster Umgebung der italischen Stadt Gabii aufgelesen wurden. Sie stammen von Gefäßen, die bei Ritualen im lokalen Sanktuarium Verwendung fanden. Der sakrale Schrottplatz ergab sich aus der Regel, dass heilige Gegenstände im geweihten Bezirk bleiben mussten. Da wir den Ritus-Kode der Prä-Pompejischen Bevölkerung nicht kennen, bleibt uns der einfachste Aufschluss verwehrt. Veronika hat das ihrer Tochter Issa schon einmal vor Ort und am Beispiel der Entdeckungs- und Ausgrabungsgeschichte der Villa dei Misteri erklärt. Die unweit der Porta di Ercolano gelegene Anlage verdient sich ihre besondere Prominenz mit Fresken, die eine dionysische Mysterien-Erzählung überliefern. Gabriella-Pironti, Professorin für antike griechische Religionsgeschichte, findet es problematisch, „dass die meisten Archäologen … den antiken Polytheismus unbewusst als ein (monotheistisches) Nebeneinander konzipieren“. Star des Fries-Ensembles ist Dionysus. Die römischen Adaptionen des griechischen Ackergottkultes erzeugten gesellschaftliche Spannungen. Eine unter dem Bacchus-Siegel vereinte, einigermaßen klassenlose Exzess-Gemeinschaft sorgte 186 vor unserer Zeitrechnung für einen Skandal im Themenkreis der religio prava - verkehrten Religion. Das Verbot des Bacchanal-Kultes begleitete ein kassenrübergreifendes Strafgericht. War die Mysterienvilla der klandestine Schauplatz einer illegalen Praxis? Zeigte das Bandgemälde eine Initiationsstätte an? Eine kultische Flüsterkneipe? Die Forschung dementiert das Phantasma der okkult-sakralen Nutzung. Die Anordnung der Räume widerspricht jeder Vorstellung von Heimlichkeit, Separation und Exklusivität über das herrschaftlich-repräsentative Wohnen in einer Villa mit Meerblick hinaus. Amedeo Maiuri liefert eine plausible Erklärung. Bei der Szenenfolge handelt es sich um eine gesellschaftlich vermittelnde Interpretation, der mit Dionysus identifizierten Mysterien. Entschärfte Bacchus-Ritualvereine unterliefen das im Weiteren lax gehandhabte Verbot. (Zitate und Erkenntnisse aus Gabriel Zuchtriegels erhellendem Werk „Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt“)