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2024-05-05 15:19:10, Jamal

Daily Super High

„The day you’re born is not the day you grow, it’s the day you evolve. The revolution is up to you.“ Goitsemang Mvula

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„Wenn man etwas erfolgreich umgestalten will, muss man so weit gehen, dass die (Nachfolger) nicht mehr umkehren können.“ Deng Xiaoping

Am Ziel ihrer Träume angekommen wähnt sich die schwäbische Backpackerin Doris Steinbrecher, als sie auf Honolulu einen traumhaften Luxus-Retreat entdeckt. Als Schwangerschaftsvertretung für eine Yogalehrerin dockt sie an. Bald darauf wird sie selbst schwanger - von einem kenianischen Guru, der die Geburt seines Sohnes nicht mehr erlebt. Keno wächst in einem Regime uferloser Weiblichkeit und in einer Riesenkrippe auf. Ein Dutzend lediger Mütter managt den spirituellen Hotspot. Zur Grundversorgung gehört das tägliche Super-High. Die Frauen feiern Flow-Orgien.

Im Dunstkreis der rigoros empowerten Frauen wirkt Severin Hænning aka Swami Singh als perverser Einflüsterer. Auch er hätte Kenos Vater werden können. Seinen Ruf als Honolulus authentischster Yoga-Berserker verdankt der Däne nicht zuletzt einer abgekupferten Pumpgun-Rhetorik. Da seine längst verstummten Vorbilder niemals populär gewesen sind, erscheinen Severins Nachahmungen originär. Der Scharlatan weiß sich zu tarnen.

Seine Performance trieft vor Kitsch. Selten bemüht er sich um zutreffende Vergleiche. Seit Jahrzehnten reicht dem Guru Gauguin als Referenz. Severin fehlt die Redlichkeit, um zu der Erkenntnis aufzuschließen, dass Gauguins Südseerauschmotive vor allem das koloniale Kolorit von ‚Französisch-Polynesien‘ und eine unerträgliche Orientverklärung konservieren.

Severin bleibt dabei: die schönste Deutsche in seinem Revier, dem Rēna Mūna - Regenmond-Retreat, lagert so malerisch wie ein Modell von Gauguin auf Bast. Ihr Tahiti Touch prädestiniert Doris für die Hauptrolle in allen Animier-Streifen, die Severin drehen lässt.

Honolulu und Tahiti liegen 4200 Kilometer voneinander entfernt.

Mit den Schönsten die Reichsten anlocken; der skandinavische Swami nutzt eine perfekte Kulisse. Das Anwesen übertrifft landschaftlich und architektonisch alle einschlägigen Anlagen in den ozeanischen Weiten. Doris spürt die Aufmerksamkeit des Meisters. Sie setzt sich noch ein bisschen elegischer in Szene … am vorläufigen Ende einer Reise um die Welt, auf der sich bislang vor allem mittellose Rucksackreisende von der flippigen Schwäbin hingerissen zeigten. Doris genießt den Komfort nicht mit den Rechten eines Gastes. Die Aushilfsyogalehrerin bestimmt der heimliche Entschluss, sich nicht aus dem Paradies vertreiben zu lassen.

Zum Standardangebot gehören Plein-air-Repetitorien. Aktuelle Themen bieten Inner Engineering, Buoyancy, Reinforcement, Nutrition, Bio-Tensegrity, - Innere Ingenieurskunst, Auftrieb, Verstärkung, Ernährung, Biotensegrität.

Oma und ich in den 1980er Jahren © Jamal Tuschick

Im Flutlicht des magischen Frühlings ‘69

„Yoga war von Anfang an abhängig vom Handel … genau wie Kaffee … oder Religion. Missionare, Seefahrer, Söldner und Kaufleute haben auf ihren Reisen … nicht nur Waren, sondern auch Wissen transportiert. Yoga ist also seit jeher Gegenstand eines Kulturaustausches gewesen.“ Kristin Rübesamen

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In Rückblenden beleuchte ich den Werdegang von Doris Steinbrecher. Sie erlebt ihre Yoga-Initiation Ende der 1960er Jahre. Fürchtegott, der Sohn von Oma Erika, wird ihr erster Lehrer.

Ein öder Wohnzimmersommersonntagnachmittag Ende der 1960er Jahre. Die Schokoladentorte und der unmanierlich-interessante Anblick von Oma Erikas dünnem Sohn versöhnen Doris mit der Langeweile. In der Plattentruhe steigen und fallen die Schallplatten in einem magischen Geschehen. Rudi Schuricke ist Oma Erikas Mann am Mikrofon. Rudi Schuricke war ein Star von „Hitlers Hitparade“ - so der Titel eines Films von Oliver Axer und Susanne Benze. Erika Hölzenbein ist nicht Doris‘ Oma, sondern die Schneiderin ihrer Mutter. Fürchtegott sitzt anders als normale Leute. Oma Erika moderiert den Eigensinn ihres Sohnes verständnisheischend. Zum Glück macht er nicht nur Yoga, sondern ist auch Finanzbeamter, übrigens in Ludwigsburg.

Im Augenblick ist Yoga noch eine seltsame fremde Welt für Doris. Doch ahnt sie was. Erikas Wohnzimmer bleibt unter der Woche geschlossen. Die meisten Möbel und so auch das Sofa sind so lange abgedeckt. Am meisten interessiert Doris eine Schallplattenvitrine mit Intarsien. Die Vitrine firmiert als Truhe und glänzte neben einem Vertigo. Oma Erikas Alltag spielt sich in der Küche ab. Da bäckt sie für den Besuch Pfannkuchen oder füllt mit dem Teig die Negativform eines schweren, jugendstilistisch verzierten Waffeleisens.

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Ein Vorstadtsonntagvormittag im Flutlicht des magischen Frühlings Neunundsechzig. Die dahinplätschernden Routinen am Saum der Seligkeit enden je für Dorothea Hölzenbein, eine so perfekt ins Bild vom perfekten Haushalt passende Person, dass sie eine Jeans für sich nicht passend findet.

Eher unabsichtlich, aber auch nicht ganz zufällig beobachtet Doro durch einen Türspalt eine Szene im Arbeitszimmer ihres Mannes. Vom Anblick seiner neuen Schülerin gedopt, legt der Steuerspezialist und Yogaexperte Fürchtegott Hölzenbein eine irritierende Hilfsbereitschaft an den Tag. Fürchtegott gehört dem soeben gegründeten Berufsverband der Yogalehrenden (damals noch Yogalehrer) in Deutschland, kurz BDY, an.

Ich will ihn nicht verzeichnen. Fürchtegott ist kein Bürokrat auf der Matte; kein esoterischer Spießer. Seine Gründlichkeit verbietet ihm jedwede Frivolität. Fürchtegott bleibt auch in dem Fach seiner Passion bis auf die Knochen seriös. Doch löst das fügsame Mädchenfleisch unter seinen Händen Empfindungen aus, die Doros hygienische Feierabendroutinen torpedieren. Ich muss Sie hoffentlich nicht daran erinnern, was eingedrehte Lockenwickler für Auswirkungen haben können.

Destroy the limiting belief in your mind

Eine der Standardschoten, mit denen Motivationstrainer ihre Klientel einstimmen, verdankt sich dem Ausnahmegewichtheber Wassili Alexejew (1942 - 2011). Ich verzichte auf die Einzelheiten, die hier wohl niemanden interessieren, und konzentriere mich auf den psychologischen Kern. 1974 übertraf Alexejew eine Marke auf Weltrekordniveau vermutlich nur deshalb, weil er ausgetrickst worden war. Seine Trainer hatten eine Hantel mit 250 Kilo beladen, gaben aber gegenüber dem Athleten ein geringeres Gewicht an. Seither kursiert die Episode als Paradebeispiel für die Überwindung einer mentalen Sperre. Angeblich sei Alexejew bis zu dem Rekord felsenfest davon überzeugt gewesen, an einer unverrückbaren Grenze scheitern zu müssen. Natürlich ist das die Geschichte vom Glauben, der Berge versetzt.

Der Guru im Gatten

Der Finanz- und Yoga-Experte Fürchtegott Hölzenbein macht eine Tür auf und Doris Steinbrecher überschreitet die Schwelle. Sie steht am Anfang einer Verwandlung. Doch wie stets ist nicht alles reinsten Wassers. In der Gruppe, die sich wöchentlich im evangelischen Gemeindehaus trifft, entbehrt Doris die Exklusivität. Alles erscheint ihr flacher, weniger edel, sobald die Leiber sich tummeln und das Profane triumphiert. Edel ist ein vorsichtiges Wort für heilig. In Fürchtegott den Priester einer eigenen Religion zu erkennen, gelingt Doris mühelos.

Sie schwärmt und fürchtet sich.

Die Einzelstunden mit dem Meister folgen eigenen Gesetzen. Sie finden in Fürchtegotts häuslichem Arbeitszimmer statt. Der Hausherr betreibt Abschottung im Verhältnis zur Ehefrau, die den Guru im Gatten nicht zu erkennen vermag. Vorsichtshalber verliebt sich Doris in Fürchtegott. Der unbeholfene Spielzug verschleppt das Ungute im Spektrum zwischen Mundgeruch, Schweißgestank und der fürsorglichen Hand viel zu oft in der Nähe weiblicher Sekundärmerkmale. Doris fühlt sich mitunter an Hilfestellungen ihres Sportlehrers Haug von Tettnang erinnert. Der Nachfahre eines schwäbischen Rittergeschlechts beherrscht die Schliche des dezenten Übergriffs. Einschlägige Vorwürfe würde er sich vehement verbitten und mit rechtlichen Schritten drohen und jeder Schmälerung seines großen Namens notfalls in der Manier seiner Vorfahren entgegentreten.

Da traut sich Doris nichts zu sagen. Fürchtegott steht aber auf einem anderen Blatt. Mit der ersten Yoga-Sequenz, die er Doris nahebringt, macht er ihr sein erstes Geschenk. Eine neue Welt öffnet ihre Pforten für die Eleve.

Randnotiz

Die erste bemannte Mondlandung am 20./21. Juli 1969 im Rahmen der Apollo-11-Mission vereint die Welt vor den Bildschirmen. Die maschinelle Überwindung menschlicher Beschränkungen fasziniert auch Doris. Die Wallfahrt zum Mond erlebt sie als Hochamt in ihrem Elternhaus. Es wird Zeit, dass wir über ihre große, im Enzkreis an allen Ecken präsente Familie reden. Doris ist weiß Gott kein Einzelkind. Sieben Schwestern rivalisieren im Bund der Steinbrecher-Töchter. Sechs werden erfolgreiche Männer heiraten. Nur Doris wird durch den Rost gediegener Bürgerlichkeit fallen.  

25 Jahre später - Reuige Rückkehr

Jeden Abend untersucht sie ihren Sohn. In den Achselhöhlen und im Schambereich fahndet Doris nach den Verursachern von Hirnhautreizungen. Die Angst vor Frühsommer-Meningoenzephalitis sitzt tief im mütterlichen Fürsorgekörper. Sie mischt sich mit diffusen und konkreten Befürchtungen und einer ewigen Hinterkopf-Litanei. Den Druck verstärken im Augenblick Nachrichten von Milzbranderregern, die ewig im sibirischen Permafrost eingeschlossen waren und in diesem viel zu heißen Sommer aus aufgetauten Kadavern entweichen. Rasend schnell greifen die Anthrax-Sporen um sich. Sie dezimieren Rentierherden und ihre Hirten. Indigene Gemeinschaften müssen evakuiert und unter Quarantäne gestellt werden.

Gletscherschmelzen treiben Pandemien an. Achtundzwanzig bis eben unbekannte Virus-Gruppen fanden Wissenschaftler im Tauwasser. Dazu kommen steinalte Spielarten von Pocken, Spanischer Grippe und Beulenpest.

Lausen nannte Doris‘ im nächsten zum Kloster von Maulbronn gehörenden Ort geborene Oma Schäufele die Zeckeninspektion. Mütter lausen ihre Kinder und, wenn es sich ergibt, auch die Kinder anderer Leute. Zur großmütterlichen Kernkompetenz zählten lauter Warnungen. Nach dem Verzehr von Kirschen durfte kein Wasser getrunken werden. Beschworen wurde das vermeintliche Gift der Vogelbeere. Eine versunkene Welt aus Vorhaltungen, Binsen und Kalendersprüchen: ein rationalisierter Aberglaube offenbarte sich im Unwiderruflichen, egal ob vom Wetter oder von der Kindererziehung die Rede war. 

„Hal-lob-lob-lob.“

Das ist der Koppel-Ruf. Das Anwesen von Doris‘ Eltern heißt im Familienmund Koppel. Kenos Großmutter ruft den Enkel zum Abendbrot. Der Knabe genießt die Privilegien eines Kronprinzen, während seine Mutter und deren im Augenblick abwesende Liebhaber Raimund Freitag als Geächtete zu keiner Mahlzeit ins Haupthaus eingeladen werden. Noch nicht mal zum Sonntagskaffee.  

Keno entwischt seiner Mutter. Er fegt durch die Tür in die Freiheit eines guten Lebens. Eine Maus schießt über schrundige Dielen und verschwindet unter einer verschrammten Kommode. Doris weist ihren Widerwillen ab. Nach ihrer reuigen Rückkehr wurde ihr und dem Anhang ein Verschlag zugewiesen. Die Bude über dem Stall ist eine Strafe. Doris ist bereit zur Buße. Sie weiß, dass man sie trotzdem bockig und undankbar findet.

Sie streckt sich. Flexibel ist Doris in jeder Hinsicht. Es bleibt ihr nichts anderes übrig. Lustlos gibt sie Kurse an der Pforzheimer Volkshochschule. Erbittert wischt sie Böden. Doris‘ beste Jugendfreundin ist nun ihre beste Arbeitgeberin. Michaela Frankenstein treibt das Yoga-Business mit Impertinenz auf die Spitze. Ihrer effektiven Ausstrahlung zum Trotz ist Michaela depressiv und alkoholkrank.

Die Expertinnen bewegen sich in Grauzonen der Hochstapelei. Während sie sich mit Drogen in Gang halten, suggerieren sie der Kundschaft, den Aktivismus der Selbstheilungskräfte so mühelos wie turbomäßig mobilisieren zu können.

Der Duft des Göttlichen

„Wann immer es wehtut, gehe ich einen Schritt weiter.“ Isabelle Lehn

In den 1980er Jahre vagabundiert die Aussteigerin Doris Steinbrecher durch Asien und Ozeanien. Im Dunstkreis verspäteter Hippies und früher Raver bewegt sie sich auf einem transkontinentalen Party-Trail. Über Wasser hält sich die Meisterschülerin des Yoga-Pedanten Fürchtegott Hölzenbein mit Beach Yoga, manche sagen Bi... Yoga. Doris gehört inzwischen zur Easy-Flow-Fraktion. Sonne und Strand, Mond und Sterne. Sex auf Acid. Joints zum Frühstück. The Paradise to go. Kein Gipfelsturm im Himalaya. Keine Exerzitien. Keine Klosterklausur. Keine religiösen Klimmzüge. Keine Kontemplation über die beflügelnde Meditation hinaus. Doris klappert Backpacker-Hotspots ab und frönt der Sundowner-Romantik. Jeder Abend bietet ein furioses Naturschauspiel. Eben noch färbt sich der Horizont, man traut sich kaum zu sagen, in welchen Farben, so kitschig ist das, im nächsten Augenblick leuchten die Sterne so, dass sich Doris in den Weltraum gezogen fühlt.

Im Rausch der getunten Sinne wähnt sie sich unter dem Himmel eines anderen Sterns. Ein Mix aus Spiritual Stretching und Tauchen hält sie in Form. In der Lodge eines Hotels auf Pulau Mabul - einem Tropentraum vor der Nordostspitze Borneos - trifft sie den Australier Jon. Umstellt von Kinokulissen bemüht sich das Zufallspaar um eine adäquate Performance.

Die Riffkante der Küstenlinie fällt steil ab. Das Revier wird von Fledermausfisch- und Barracuda-Schwärmen besucht, wie man sie sonst nur auf offener See trifft. Doris taucht ein in die Unterwasserwelt der Celebessee, einem Randmeer des Pazifiks. Der periphere Ozean breitet sich in einem Becken aus, das an Stellen über sechstausend Meter Tiefe erreicht. Schildkröten ziehen an der Verzauberten vorüber. Die lebenden Fossilien zeigen sich gleichgültig gegenüber den vorsichtigen Berührungen ihrer wie Flügel im Wasser schwebenden Flossen.

Jon ist längst nicht mehr an ihrer Seite, als Doris in einem Yoga-Retreat auf Honolulu die Lage peilt. Über dem Geschehen vor Ort thront ein kenianischer Charismatiker hoch in seinen Siebzigern. Er überwindet Doris' Widerstände. Auf einem Parcours degoutant ausgeleierter Routinen verführt er die Neue, die nicht erkennt, dass ihr latenter Weltschmerz und ihre manifeste Wehmut ein Wetterleuchten ihres Heimwehs anzeigen. Die sexuelle Supernova des greisen Gurus vollzieht sich unter sämtlichen Vorzeichen einer End-Spannung. Er stirbt glücklich. Erst nach seinem Tod bemerkt Doris, dass sie von dem alten Sack geschwängert wurde. Sie findet Aufnahme in einer höchst effektiven Gemeinschaft. Die Kombi aus Geschäftstüchtigkeit und Spiritualität kennt Doris von daheim. Ihr Vater, der kaum alphabetisierte Selfmade-Millionär und Seelenberserker Anton Steinbrecher, verkörpert die Dualität von derbem Materialismus und krachender Esoterik.

In der Obhut kluger Frauen kommt Keno zu Welt. Während seiner ersten Lebensjahre sieht er einer glänzenden Zukunft auf Hawaii entgegen. Doch dann dreht sich das Rad. Bei einer Stippvisite im Ashram von Poona begegnet Doris der schwäbische Gottessucher Raimund Freitag. Doris und Raimund hätten sich in ihrer nordwürttembergischen Ursprungsumgebung leicht treffen können, es gibt zahllose Kontaktpunkte. Die Bandbreite reicht von einer Diskothek in Calmbach über Ausflugsziele auf dem Dobel und in Neuenbürg bis zu einer Rauschgifthöhle in Mühlacker. Beide reagieren eher verhalten auf den Ashram-Chef Chandra Mohan Jain aka Acharya Rajneesh aka Bhagwan Shree Rajneesh (ab 1989 Osho). Knall auf Fall beschließen sie ihre Rückkehr nach Deutschland.

Die Väter der Propheten

Eishaie erreichen ihre Geschlechtsreife im Alter von hundertfünfzig Jahren. Im Schneckentempo wachsen sie bis zu der Größe Weißer Haie. Es kursiert die Vermutung, dass sich im Arktischen Ozean Exemplare der Erforschung verweigern, die schon in der Kolumbusära existierten. In einem Grönlandwal, den man in diesem Jahrtausend gewaltsam auf Eis legte, fand man Harpunenspitzen, die verrieten, dass das Tier im 19. Jahrhundert seinen Jägern entgangen war. Obwohl Grönlandwale kaum natürliche Feinde haben, „bleibt ihr Überlebensprogramm immer in Alarmbereitschaft“ (David A. Sinclair).

Rückblende/1977

Die bleierne Zeit liegt in den letzten Zügen. Doris bessert im Pforzheimer Tonträger ihr Taschengeld auf. Die klamme Kundschaft kann da ohne Kaufzwang stundenlang Platten hören.

Kein Kaufzwang. Das ist die Geschäftsidee. Doris‘ Chef Bernie Dalinger ist ein verklebter Typ, ewig ungekämmt, verpennt und verpeilt. Trotzdem bestens informiert. Bernie sitzt jeden Abend im Treff und genießt sein Unternehmerglück im Kreis der Propheten. Diese Leute machen Ansagen und behalten Recht. Sie sind nach dem Abitur ohne Auszeit und Studium durchgestartet, selbstverständlich unter Umgehung staatsbürgerlicher Pflichten.

Die Väter der Propheten lassen ihre Beziehungen spielen. Sie sind mit ihren Söhnen auch schon bei befreundeten Sparkassenleitern (Tennisfreunden) vorstellig geworden und haben Kredite losgeeist: für eine neuartige Dämmstoffproduktion, für die Umgestaltung einer aufgelassenen Fabrik, für einen Weinhandel, der vierzig Jahre später als Mutterhaus von zig Filialen in aller Munde sein wird. Die Propheten verkörpern die nächste Generation des badisch-schwäbisch-bodenständigen Mittelstandes.

Michaela Frankenstein besucht Doris im Tonträger. Die beiden kennen sich aus Fürchtegott Hölzenbeins Yoga-Kurs im evangelischen Gemeindehaus von Mühlacker. Michaela hat einen totalitären Vater. Sie darf nicht jobben. Auch ihre Mutter ist dem „Haushaltsvorstand“ unterworfen. Sie trägt ihm die Schlappen nach und heftet sie an seine Füße. Vater Vincent gibt den bibelfesten Tyrannen in der Strickjacke. Er hält sich an eine anachronistische Verbotsliste und kritisiert die Manieren der Freundinnen seiner Tochter. 

Gegen Vincent hilft nur träumen. 

Jeder Jahrgang hat seinen Selbstmörder. Martin Rohleder lehnte sich mit Rimbaud gegen die Verhältnisse auf. Er lebte bei einer abgedrehten Oma und einem auf LSD-Trips in sein eigenes Sonnensystem vorgedrungenen Opa in einem Knittlinger Widerstandsnest. Michaela kommt gerade von der Beerdigung. Sie eist Doris los. Solange die Freundinnen sich etwas zu erzählen haben, vertritt Bernie die Aushilfe. Das gehört zum Laissez-faire. Die Separatistinnen tasten sich durch das Unterholz ihrer Gefühle. Sie bemerken nicht, dass sie beobachtet werden. Fürchtegott Hölzenbein verbringt einen Brückentag auf der Pirsch. Er stellt allen möglichen Leuten nach. Sich selbst auf dem Laufenden zu halten, ist eine Obsession des pietistischen Esoterikers. Er führt sich zurück auf jene dreitausend Waldenser und Hugenotten, die im August 1698 im Gefolge des niederländischen Diplomaten Pieter Valkenier aus dem Piemont nach Süddeutschland kamen und so auch in das Herzogtum Württemberg. Ihre „Kolonien“, am Reißbrett entworfene Sieldungen, heißen bis auf den heutigen Tag Klein- und Großvillars, Pinache, Corres und Serres.

„Klassisches Tantra ist für Menschen gedacht und konzipiert, die ein aktives Leben führen, die Arbeit und Familie haben. Es ist nicht-transzendental und schließt jeden Teil der menschlichen Erfahrung ein. Es erkennt die Göttlichkeit in der gesamten Realität an.“ Christopher Wallis

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„Die Erfahrung unserer Realität … stellt sich für einen befreiten und erwachten Menschen völlig anders dar als für jemanden, der sie aus der Sicht seiner Konditionierungen erlebt.“ CW

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„Ich fühlte eine unglaubliche, unbeschreibliche Energie in meinem Herzen.“ CW

Kraftvolle Infusion der Gnade

Das Leben vollzieht sich im dreifachen Prozess von Schöpfung, Stillstand und Auflösung. Seinen Grund findet dieser Vorgang im Nichts, das zugleich „ultimative Leere und vollständige Fülle ist“. Das überliefert Christopher Wallis als Quintessenz der Lehre des im 10. Jahrhundert in Kaschmir wirkenden Philosophen, Dichters und Mystikers Abhinavagupta. Wallis sagt dem Erleuchteten nach, er habe den tantrischen Spielraum vollkommen genutzt und „die totale Integration und Erweiterung aller Ebenen des eigenen Wesens“ erlebt.

Zitate aus Christopher Wallis, „Licht auf Tantra. Die Philosophie hinter dem modernen Yoga“

Abhinavagupta reagierte in seinem Hauptwerk „Licht auf Tantra“ zumal auf zwei Traditionslinien, die ihn prägten - Trika und Krama. Die Überführung divergierender Anschauungen in einen Hafen der Harmonie vollendet sich, so Wallis, in der Trika-Krama-Synthese.

„(Darin) gibt es keine Reinheit und Unreinheit, keinen Dualismus und keinen Non-Dualismus, kein Ritual noch dessen Ablehnung.“

Wallis beschreibt Vormomente der Tantrik-Praxis auch am Beispiel seines eigenen Erwachens. Er versteht Śaktipāta als „reale, universelle, kulturübergreifende … Erfahrung“. Seine erste „Erfahrung von Śaktipāta“ schildert er als Adoleszenzereignis. Nach einer „langweiligen“ Meditation bemerkte er, „dass sich scheinbar die ganze Welt verändert hatte“.

„Ich fühlte eine unglaubliche, unbeschreibliche Energie in meinem Herzen.“

Ihn erfüllte eine Liebe, die sich nicht in Einzelheiten verhakte. Wallis begriff sie als das „Realste“, „was in der Wirklichkeit da war“. 

Von Śaktipāta aufgeschlossen zu werden, kann voraussetzungslos jeder/m widerfahren. Deshalb charakterisiert Wallis das Erwachen als eine „kraftvolle Infusion der Gnade“. Seit den schwülen Offenbarungen im Dunstkreis des Yoga-Pedanten Fürchtegott Hölzenbein erwartet Doris diesen Gnadenakt. Erleuchtungssehnsüchtig war sie ein Jahrzehnt über die transkontinentale Heerstraße yogamatter Wahrheitssucherinnen getrekkt. Seit ihrer kaum freiwilligen Rückkehr unterrichtet Doris spirituelle Gymnastik an der Pforzheimer Volkshochschule. Als ledig gebliebene, sozial desaströs instinktlose Schwester führt sie ein Schattendasein im Kreis der krachend lebhaften, formidabel aufgestellten Steinbrecher-Töchter. Ihr nach allen Seiten hin gefährdeter Abschnittsgefährte Raimund verstärkt die isolierende Trostlosigkeit. 

Sohn Keno distanziert sich von der trostlosen Mutter.  Doris bekam Keno von einem greisen kenianischen Guru, der die Geburt des Jungen nicht mehr erlebte. Raimund spielt keine Rolle bei der Erziehung. Der Steinbrecher-Klan wirkt sich in seinem Verbreitungsgebiet massiv aus; Keno hält sich an die vitale Verwandtschaft. Er vagabundiert durch die Haushalte seiner Tanten, wenn er nicht bei den alle übertreffenden Großeltern residiert.

Es gibt niedrige und gleichrangige Angehörige. Viele Männer, die für Kens Opa Anton arbeiten, gehören zur weitläufigen Verwandtschaft. 

Es geht darum, jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen, erklärt der große Organisator. Anton bereitet Keno auf Führungsaufgaben vor. Der Knabe erhält Unterricht in der Reitschule Mack. Die beste Reiterin der Familie kriegt den Auftrag, Keno auf Herz und Nieren zu prüfen. Hunderte von (im Reiterstübchen auf Tafeln verrottenden) Ehrenzeichen und wenigstens hundert auf Regalen glanzlos gewordene Pokale erinnern an Veronikas Erfolge als Springreiterin.

„Die tantrische Revolution (vor tausend Jahren) brachte ihren Anhängern ähnlich befreiende Erneuerungen wie so mancher politische Umbruch in Europa viele Jahrhunderte später. Sie räumte auf mit den Vorstellungen eines patriarchalischen Kastensystems und lehrte Freiheit, Gleichheit und Integration, basierend auf dem gemeinsamen göttlichen Ursprung aller Wesen.“ Diana Sans

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„Wir wachsen durch dieselben Hindernisse, die uns zu Fall bringen.“ Yoga-Sprichwort, überliefert von Christopher Wallis

Verfehlter Pfad

Sie sickerten an Binh Phu vorbei, einem Dorf in der Provinz Dinh Tuong, siebzig Kilometer vor Saigon. Eine Vorstellung des Feldtheaters der Nationalen Befreiungsfront bannte die Aufmerksamkeit des Volkes. Ein gelber Stern auf blaurotem Grund markierte den Spielplatz. Jemand rief: „Hoan ho hoa binh“ - Es lebe der Frieden. 
Für Binh klang das wie Hohn. Er gehörte zur Lực lượng đặc biệt, einer Spezialeinheit der südvietnamesischen Army of the Republic of Vietnam. Auf der Gegenseite operierte die Nordvietnamesische Volksarmee. Deren sogenannte Provisorische Revolutionsregierung hatte sich in der Gegend längst festgesetzt. Binh vermutete eine Lockheed YO-3 im Himmel über dem Kommando, ein leises Flugzeug. Near-silence. Die Männer glitten zum Fluss, in dessen Delta sie operierten, sie bewegten sich in einer Kraterlandschaft mit unschönen Grüßen der B-52. Die Anspannung verwandelte versehrte Palmen in zugespitzte Totempfähle. 
„Giang Song“, sagen Vietnamesen zu ihrer Heimat - Berg und Fluss. Binh roch Terpentin in den Schwaden auf dem Mekong. Wenige Jahre später gelangte er als Schiffbrüchiger vor Malaysia erst an Bord des Hospitalschiffs Helgoland und dann in das Grenzdurchgangslager Friedland. Die Eingliederung der vietnamesischen Boatpeople in die deutsche Gesellschaft vollzog sich geräuschlos. Doris Steinbrecher begegnete dem freundlich-zurückhaltenden Migranten zum ersten Mal in Fürchtegott Steinbrechers Yoga-Gruppe im evangelischen Gemeindehaus ihrer Geburtsstadt. Doch gab es keine Achtsamkeitsakademie und kein Flow-Center in Mühlacker. Binh verhehlte sein Potenzial. Er verbarg sich förmlich vor den Anfängerinnen mit ihren kulturell determinierten Anlaufschwierigkeiten. Das westliche Ego stand ihnen im Weg. Abhinavagupta schildert die souveräne Yogini als eine Person, die ihre Standpunkte „nicht von der Masse der törichten Lehren in dieser Welt in Zweifel ziehen lässt“. Ihre Position gründet in der „wahren Natur der Dinge“. Auf einem Vorhof der Erleuchtung erlebte sie zum ersten Mal die Gnade. Christopher Wallis spricht von einem „Vorgeschmack auf die Perspektive eines radikal befreiten Bewusstseins“. 

Gnade erwartet jede Person, die sie empfangen kann. Eine Voraussetzung für das Glück, Gnade zu erleben, liegt in Aufhebungen der Differenzen zwischen Weltlichem und Spirituellem mit jeder Faser des Seins. Wer sich aber unbeirrbar in der Verfolgung eines eigensinnigen Plans zeigt, mit der Idee, zu wissen, wer er ist, verfehlt den Pfad der Gnade. Doris verstand Binh als zweiten Navigator auf ihrer Expedition ins Ungewisse. Gemeinsam genossen Doris und Binh einen Schauer erregenden Kirchenorgelrausch. Eine Meisterin spielte sich in Form, und die Liebenden gewannen ein weiteres Weißt-du-noch. Binh fiel kein Zacken aus der Krone, wenn Doris ihn an jedem Schalter überholte, um den zahlenden Part zu übernehmen. In ihrer Nähe war Geld (im Damals ihrer Stellung als Millionärstochter) so unvermeidbar wie Kuhscheiße auf dem Weg zur Weide. Binh bat Doris, keine Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. So viel Macho-Ego war dann doch in der transzendierten Persönlichkeit. Wir wittern, warnen, werben und tarnen nach den Vorgaben unseres genetisch-sozialen Strichcodes.

Nackt war die Welt für beide wieder in Ordnung.

Innere Sonnenfinsternis

Ursprünglich wollte ich den Lebenslauf der schwäbischen Yogini Doris Steinbrecher nur schlaglichtartig beleuchten. Doch ratz meinte, sie würde gern mehr über Doris‘ ersten Liebhaber Binh erfahren. Das Interesse der Leserin haucht der Figur Leben ein. Es verändert die Spielanordnung.

1972 erfüllten amerikanische Einheiten in Vietnam „ein Wochensoll an toten Feinden“. Ermordete Kinder listeten sie als Vietkong, Doris las davon auf einer Wandzeitung im Jugendzentrum von Mühlacker. Sie brannte darauf, mehr über „das Töten am Fließband eines verbrecherischen Krieges“ zu erfahren.  

Zur gleichen Zeit in Quảng Trị - aus diesem Krieg werden keine Erinnerungsvereine mit Pauken und Trompeten hervorgehen, dachte Staff Sergeant Amsterdam Vaughan. Es wird alles gleich vergessen oder für immer Schande sein. Okra und Schwarzaugenbohnen - Amsterdam stammte aus einer Schwarzbrenner-Dynastie in Ferriday auf der Louisiana-Seite des Mississippis. Er dachte an einen Technicolor-Rausch der 1950er Jahre mit John Wayne an Deck eines Flugzeugträgers vor einer zerschossenen Küstenlinie und unter einem Himmel voller Leuchtspuren und Kamikaze-Piloten auf Speed. Neben Amsterdam rastete Binh Văn Hương. Der Second Lieutenant öffnete ein Auge. Feuerschiffe strichen über Wipfel, ihre Flügel segelten. Feuerschiffe - fliegende Kanonenboote - Gunships. Die Gunships rasierten einen Dschungelsaum und schossen Bäume zu Fetzen. Während der Tet-Offensive war Amsterdam von Splittern einer Claymore-Mine getroffen worden. Man hatte ihn in Japan zusammengeflickt.   

Viele blieben im Dreck liegen. Binh hatte Trooper erlebt, die vor Erschöpfung schwachsinnig geworden waren. Manchen Männern fehlte die Kraft, sich eine Fliege von der Nase zu wedeln.  

Ein Maschinengewehr sang sein Lied. Männer rutschten wie losgelassene Puppen zurück in ihre Löcher, die Feuerschiffe drehten ab. Ein amerikanischer Lieutenant fiel auf die Knie, er sah verärgert aus. Amsterdam sagte: „Scheint kein Spiel für höhere Chargen zu sein.“

 Eine innere Sonnenfinsternis verdüstert Doris zum Ausklang der 1970er Jahre. In ihrer Ursprungsumgebung entdeckt sie nur Enge und Tristesse. Im Anschluss an einen Familienkrach zieht sie Knall auf Fall von Ö… an der Enz nach Frankfurt am Main. Am Tag ihrer Ankunft findet sie ein strahlend helles, unüblich großes Zimmer in einer Wohngemeinschaft. In der ersten Nacht wird Doris zur Geliebten des löwenmähnigen Philosophiedozenten Wolf von Löwenstein. Vor Ablauf ihrer ersten Frankfurter Woche steht Binh auf der Matte und belächelt Wolfs schäumenden Herrschaftsanspruch. Im Ornat magischer Gewissheiten nimmt Binh seinen Platz ein. Er liebt Doris unter ihrem persönlichen Himmel aus durchhängenden Tüchern, während in der Küche die Genossen streiten. Melodien der Angst untermalen ihre Gereiztheit. In manchen Wohngemeinschaften sind die Türen ausgehängt, das kommt für Doris nicht in Frage. Ihr selbstbewusster Orgasmus lässt die Wohngemeinschaft aufhorchen, man guckt, wie Wolf es aufnimmt.

Schmiedeeiserne Glockenleuchte

Ö…1996 - alles funktioniert noch, tut aber weh. Doris beherrscht das Yoga-Vokabular in jeder handelsüblichen Größenordnung. Manchmal glaubt sie, von Śaktipāta aufgeschlossen worden zu sein.

„Śaktipāta bezeichnet im Hinduismus die Übertragung (oder Verleihung) von spiritueller Energie auf eine Person durch eine andere oder direkt von der Gottheit.“ Wikipedia 

Dann überkommen sie wieder Zweifel. Doris beobachtet die Luftspiegelungen ihres täglichen Unglücks am Küchentisch ihrer Beinah-Schwägerin Renate. Mit dem Willen zur richtigen Aussprache spricht der Vater ihres Lebensgefährten Raimund Fremdwörter besonders falsch aus. Savoir-vivre ist ein Zungenbrecher. Savoir-vivre hat man nicht zu haben.

Der Fisch aus der Konserve genügt nicht nur, vielmehr gibt es nichts Besseres nach dem Latrinen-Menetekel von „der schlechten Zeit“, die im Kopf des Witwers weitergeht, mit Feuerstürmen, Brandleichengestank und Hunger.

Die Haltbarkeit von Lebensmitteln in Büchsen ist ein unerschöpfliches Thema. Mit den Konservenbatterien in den Kellerregalen überstehen wir jederzeit einen nuklearen Winter.

Der Hering aus dem Glas und das halbe Hähnchen aus dem Wienerwald sind nicht nur kulinarische Höhepunkte, sondern auch Hostien des Gedenkens an den ausgestandenen Hunger. Die größte Delikatesse ist das Kotelett mit Möhrchen-Gemüse, zubereitet von Raimunds Schwester, in dessen Haus der Greis sich allmählich verkrümelt. Doris entdeckt Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn, die sie aus der Fassung bringen. In der letzten Zeit verschleiert sich Raimunds Indolenz mit einem beinah bürgerlichen Auftritt. Raimund trägt die dezent weitergereichten Kurzarmflanellhemden von Antons reichstem Schwiegersohn bis zur Fadenscheinigkeit auf. Tayfun Yıldız, verheiratet mit Doris' sportlichster Schwester Veronika, verkörpert die international renommierte, kardiologische Koryphäe an der Spitze der Schwarzwaldklinik in echt. In seinem Kraichgauer Genesungsestablishment erscheint er wie eine osmanische Ausgabe des von Klausjürgen Wussow süffig verkörperten Professor Brinkmanns. Leben in Weiß. Der gebürtige Istanbuler gibt den Weltmann in Schwaben. Spießig findet er geil. Deutsche Provinz, deutsche Autos, deutsches Bier; das Glück im Winkel der Reihenhaushälfte mit Jägerzaun und schmiedeeiserner Glockenleuchte über der Haustür. Das restaurierte Milchhäuschen. Die Wiederbelebung dörflicher Gemeinschaftsbacktraditionen. Wochenmärkte und Hofläden. Gelangweilte Hausfrauen in Hotpants vor antiken Eiscafés. Tayfun besitzt diese V-Kragensouveränität, die man sich nicht einfach abgucken kann. Ihn erregt es zuverlässig, in seinem 1963er-Porsche 901 (ab 1964 911) die Landstraße direkt unter dem Bodenblech zu spüren. Von dem Oldtimer (mit einem luftgekühlten Sechszylinder-Boxermotor) wurden bis zur Umbenennung lediglich zweiundachtzig Exemplare verkauft. Wer weiß sowas überhaupt noch?

Prekäre Heimkehrerin

Mit Dank an Musenzeit, die mich mit ihrem Interesse auf diese Textwolke beförderte. Es riecht nach frisch gemähtem Gras. Obst hängt zum Greifen nah in Bäumen und Büschen. Mit halbem Ohr registriert Keno Geräuschschwaden. Das Terrassen-Parlando seiner Verwandten schwänzt er. Abgasschlieren wehen vorüber.

Kenos Mutter, die Yoga-Lehrerin Doris S., versucht sich - nach zehn Jahren auf einem transkontinentalen Flow-Trip - in ihrer Ursprungsumgebung wenigstens auf Volkshochschulniveau zu etablieren. Sie haust auf dem Dachboden eines Stalls. Den Pferden unter ihr wird mehr Bedeutung beigemessen als der prekären Heimkehrerin. Gleichzeitig erlebt ihr - mit einem Kenianer gezeugter - Sohn als Enkel des furiosen Selfmade-Millionärs und Herrenreiters von eigenen Gnaden Anton Steinbrecher einen Aufstieg. Das zweisprachige Kind avanciert zum designierten Nachfolger des Chefs.

Alle nennen Anton Chef.

Nach harten Dortmunder Volksschuljahren als Legastheniker kam Anton mit dreizehn in eine Elektrikerlehre. Der Geselle hätte als Double von Johnny Weissmüller auftreten können. Er heuerte auf einem Frachtsegler an. Mit bloßen Händen stieg er in vereiste Wanten. Den Ärmelkanal überquerte er in einem Einbaum der Rosenheimer Faltbootwerft Klepper. Er stellte ein paar Rekorde auf. Geld verdiente er, wo immer sich eine Gelegenheit bot, und so auch im Straßenbau. Auf dem Schwarzwälder Dobel errichtete der Westfale beinah im Alleingang einen Aussichtsturm. Er blieb in der Gegend.

Der junge Anton spielte seine körperliche Superpräsenz herunter und trat mit ausgedachter Grandezza auf. Aus allem Aufgeschnappten lernte er etwas fürs Leben. Jede Geschichte hatte ihre Moral. Anton glaubte an sich. Er konnte andere begeistern. Schon mit fünfundzwanzig, noch lebte er sparsam zur Untermiete, besaß er ein Pferd und ein Motorrad. Er freite das in badischen Gazetten hymnisch besungene ‚Schwarzwaldmädchen‘ Elisabeth ‚Betty‘ Britsch. Die national erfolgreiche Schwimmerin und Feldhockeyspielerin war ein Pforzheimer High Society-Schwarm. Motorisierte Verehrer standen Schlange. Honoratiorensöhne rissen sich um Betty, aber das Rennen machte ein ungebildeter Mann aus kleinen Verhältnissen.

Anton brauchte keinen bedeutenden Vater, um bedeutend zu sein. Schließlich entdeckte er den rossnärrischen Unternehmer in sich. Auf seinem Hof, der Koppel, versorgt er sieben Trakehner, die er täglich an der Lounge bewegt. Sein Lieblingsenkel lebt im Schlaraffenland.

Keno hat ein Schwarzenegger-Poster im Reiterstübchen an eine Wand gepinnt; selbstverständlich in Absprache mit Anton. Bodybuilding ist allgemein verschrien. Über Arnold Schwarzenegger machen sich die Leute lustig. Sie halten ihn für dumm. Seine Schauposen werden spotteifrig nachgeahmt. Dies geschieht in einem Kraft verherrlichenden Milieu. In der männlichen Dimension des Dorfes dreht sich viel um Schlagkraft und Kraftfahrzeuge. Schwarzeneggers amerikanische Karriere nimmt ihm sein Stigma nicht ab. Niemand ist bereit, auch nur drei Groschen auf den Millionär zu setzen. Betty und Anton stoßen sich nicht an der Muskelmanie des Enkels. Das alte Paar vereint sich auch in dem Wissen und der Gewissheit, dass der Junge nicht ganz dicht ist, aber doch ein ganz Lieber. Tröstlich findet es die Vorstellung, Keno bis zum Schluss in konkreter Versorgungsreichweite zu haben. 

Operettenhafte Großartigkeit

„Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen.“ Thomas Bernhard

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„Im Kampf der Generationen verbünden sich die Enkel mit den Greisen.“ Jean-Paul Sartre

Trabantenhaft kreist Keno um Anton. Der Alte und sein Enkel existieren in einer Symbiose. Abgesehen von Ehefrau Betty gibt es nur eine Person, die Anton so nahekommt: Lieblingstochter Veronika. 

Veronika ist ihrem Vater genauso ergeben wie Keno. Bis heute wagt es die promovierte Hausfrau noch nicht einmal heimlich, die operettenhafte Großartigkeit des kaum alphabetisierten Patriarchen lächerlich zu finden. Ein Aberglaube verbietet es ihr, Dinge auch nur zu erwägen, die der väterlichen Macht und Magie einen Verlust zufügen könnten.

„Ole O‘Cangaceiro / Wir reiten Tag und Nacht / Und wir hören in den Stürmen / Wie die ganze Hölle lacht.“ Helmut Zacharias

Täglich schlingert Veronika über ein territoriales Minenfeld. Die permanenten Machtergreifungen des Vaters geben ihren Manövern immer noch die Richtung vor. Als Mädchen trug Veronika die Uniformen seiner Leidenschaften. Sie changierte in den niedlichen und den zünftigen Varianten. Der Pflug von einem Mann, ewig in Breeches, wünschte sich die sportlichste seiner Töchter grenzenlos tüchtig. Veronika spielte den fehlenden Stammhalter. Wie irre uns das heute vorkommt. Ein Mann mit sieben Töchtern beklagt einen Mangel, der sich darin erschöpft, keinen Sohn zu haben.

Mit Veronika ging Anton zum teuersten Ausstatter und ins beste Fachgeschäft. Stets bemühte sich die Eigentümer persönlich um den hohen Besuch. Der gelernte Elektriker Anton bläute dem Stammhalterersatz ein erfundenes Standesbewusstsein ein. Er nahm Veronika mit, wenn einer seiner Pächter schlachtete. Die Bauern stießen mit Wein aus Flaschen ohne Etikette an. Eine genossenschaftliche Abfüllanlage stand neben der Raiffeisen-Filiale.

Die Lagerfeuer- und Bratapfelabende; Kommunionen von Rauch und Nachttau … und dem brünstigen Gerede der Zureiter, Hoferben und selbstständigen Handwerker, die um die herangewachsenen Schwestern mal mehr und mal weniger willkommen herumscharwenzelten, bevor die Jungakademiker des Enzkreises Witterung aufnahmen und die Werbung auf ein anderes Niveau hoben. Fast alle Töchter des westfälischen Sturkopfs Anton sind mit württembergischen Leistungsträgern der ersten Kategorie verheiratet. Nur Kenos graustichige Mutter blieb ledig. 

Erfundene Zitate

„C.G. Jung begründete mit Jean Gebser die Vorstellung, dass die ersten Menschen in Ekstase badeten, und dass dieser transzendente Sinneszustand der wahre und natürliche sei.“  Roland Paulsen

Zweihunderttausend Jahre lang kannten wir kaum eine Form der Vorratswirtschaft, heute eröffnen wir Sparkonten für Ungeborene. Wir müssen bei der Wahl des Essens täglich viele Entscheidungen treffen, die uns lange der Mangel abgenommen hat. „Die Wahlmöglichkeiten, die uns Kultur und Technologie in Massen bescheren, unterwandern das Leben“, sagt der schwedische Soziologe Roland Paulsen. Ein Pferdehof bedeutet vor allem Arbeit. Müsste der westfälische Pascha Anton Steinbrecher seine Leute normal bezahlen, könnte er einpacken und wieder auf Trebe gehen. Gern erzählt er von den Clochards, mit denen er als junger Mann unter Pariser Seine-Brücken kommunistische Lieder sang, bevor er sich im Dritten Reich gleichschalten ließ. Er trennte sich von seiner Mähne, legte den Schillerkragen ab und die Feldkoppel an. Die nächsten zwölf Jahre trug er Uniform, angeblich in heimlicher Opposition.

Doch danach fragt keiner. Anton ist eine Ikone des Wirtschaftswunders, ein Selfmade-Millionär wie aus dem westdeutschen Nachkriegsbilderbuch. Der hünenhafte Dortmunder wirkt unter Schwaben wie Gulliver im Land der Zwerge. Weil das mit dem Siedeln im Osten nicht geklappt hat, siedelt Anton im schwäbisch-badischen Grenzland nahe einem Dorf, das Jahrhunderte dem Kloster Maulbronn zukam. In einem unterirdischen Gang fand man Säuglingsskelette in Beinhausstärke. Antons Frau Elisabeth ‚Betty‘, geborene Britsch, kam zwar in Pforzheim zur Welt, ihrer Familie, der Küchenmeister- und Schmied-Stamm der Schäufeles, stammt aber aus Ö… und Umgebung. Die Schäufeles sind ein „zähes Geschlecht“. Das hört Anton jeden Tag von seiner Oma. Er ist das Ohr seiner Oma.

„Der Nachname Schäufele stammt aus dem Schwäbischen … und ist ein Familienname, der sich auf … Kleingrütter bezieht. Ein Kleingrütter ist ein beeidigter Küchenmeister (in diesem Fall des Klosters von Maubronn) … variable Mengen an Fleisch (wurden im) Verkaufskorb - dem Schäufele - transportiert.“ Quelle:  https://www.igenea.com/de/nachnamen/s/schaufele

Um einen Betrieb wie die Koppel am Laufen zu halten, braucht man pferdeverrückte Mädchen.

Koppel heißt das wie ein Aussiedlerhof frei in der Landschaft liegende Anwesen der Familie Steinbrecher.

Solche verausgaben sich im Stall und auf der Weide für Gotteslohn. Sie helfen bei den vielen Ernten, machen Heu, verarzten Mensch und Tier mit somnambuler Hingabe. Ihr Altruismus macht aus ihnen Erscheinungen. Gebührend bewundern sie die rüden Platzhirsche und spenden den Nachhumpelnden Trost. Mann darf sie drücken, aber natürlich haben sie ihren Favoriten unter den Mühsamen und Beladenen. Sie tun gern, was andere nur machen, wenn man sie dafür bezahlt.

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Auch Iris lässt sich mit Antons Reitsport-Hokuspokus einseifen und abspeisen. Das ist eine Mischung aus esoterischem Geraune, platten Sprüchen, erfundenen Zitaten und ungekennzeichneten Aneignungen des geistigen Eigentums veritabler Denker.

Familienmeute

„Die Sonne schien an dem Abend noch lange nach Einbruch der Dunkelheit.“ Musenzeit

„Auf unseren Reisen durch die Welt stießen wir immer wieder auf Leichen im Besichtigungsangebot.“ Gabriele Koubek

In den 1950er-Jahren entstand in und an der Enz ein Fluss- und Lichtbad. Eine beinah unberührte Ursprünglichkeit säumt die Anlage im Spektrum zwischen Straßenranddschungel, Böschung und Luftwurzellabyrinth.

Karibisch findet Keno die Augenblicksstimmung. Er verbirgt sich vor der Familienmeute im Unterholz. Seine Mutter Doris krault jenseits der Flussbadgrenzen.

Die Duschen und Umkleiden befinden sich in einer karmesinroten Baracke. Wie ein Schildhäuschen steht die Pommesbude auf der Liegewiese. Die Kinderschlange davor verändert ständig ihre Gestalt.   

Raimund präsentiert seinen Vorturnerkörper im Lotussitz. 

Doris und Raimund sind sich in Poona über den Weg gelaufen. Sie hätten sich auch bei einem Kraichgauer Weinfest kennenlernen können. Raimund stammt aus Knittlingen - der Geburtsstadt des Magiers Johann Georg Faust. Doris wurde im Kreiskrankenhaus Mühlacker geboren. Siebzehn Autofahrminuten verstreichen zwischen den Städten, wenn man sich an die Straßenverkehrsordnung hält.

Die gemeinsame Heimat war ein Argument in der Fremde. Zu Hause zieht das Argument nicht mehr. Auch die von Osho gepredigte Göttlichkeit der Sexualität, Stichwort From Sex to Superconsciousness, verliert in dem umgebauten Schober, den sich Doris und Raimund mit einer Fledermauskolonie und noch viel mehr nachtaktiven Geschöpfen teilen, ihre kosmische Dimension.  

Sogar Betty nennt ihren Mann Chef. Im Kreis ihrer auf Handtüchern lagernden Nachkommen ruht sie auf einer Campingliege. Die Mutter von sieben Töchtern bringt das Kunststück fertig, das Gewese prahlender Boomerinnen gleichzeitig missbilligend und mit altruistischem Behagen zu betrachten.

Betty studiert eine verbotene Vertraulichkeit. Neben Raimund hockt Iris beinah abstandslos. Die Anziehungskraft plättet den Schicklichkeitssaum. Iris gehört zur Familie. Seit ihrer Kindheit verbringt sie mehr Zeit auf der Koppel als bei ihren Leuten. Iris liebt Pferde und die Großzügigkeit der Haushaltsführung ihrer Gastgeber. Ihr Bikini exponiert ausladende Hüften und einen flachen Rumpf. 

Betty mustert Raimunds von innerer Leere verödeten, blöd-stolzen Züge. Sie fürchtet und verachtet die infamen Ausflüchte, mit denen sich Raimund über die Runden bringt.

Doris taucht auf. Unbesorgt wringt sie ihr Haar vor Raimunds Füßen. Sie wirkt völlig arglos. Sie hat Iris aufwachsen sehen. Für Doris ist Iris ein ausgebeutetes und erschreckend anspruchsloses Mädchen.

Kontemplation und Ekstase

Was zuvor geschah

Die Familie Steinbrecher hat sich fast vollständig in ihrem Luft- und Flussbad an der Enz versammelt. Die Anlage verdankt sich dem alten Anton Steinbrecher. Der große Organisator (und passionierte Reit- und Wassersportler) war in den 1950er Jahren die treibende Kraft beim Bau einer Singularität, deren Geheimtippcharakter bis in die Handlungsgegenwart bewahrt wurde.

So geht es weiter

Der Steinbrecher-Klan beansprucht vor Ort das Hausrecht. Für einen Steinbrecher gibt es kein Schlangestehen an der Pommesbude. „Unsere Ernährung bestimmt, wer wir sind“, behauptet Henry Mance. Der Journalist bezieht sich auf Feinberg & Mallatt, die eine Theorie entwickelten, nach der das Bewusstsein eine Funktion der Jagd ist. Das Bewusstsein kam ins Spiel, „damit die ersten Raubtiere ihre Beute erlegen und die ersten Beutetiere ihnen entkommen konnten“. Der Neurologe Todd Feinberg und der Evolutionsbiologe Jon Mallatt vertreten die Auffassung, dass alle Tiere mit einer Wirbelsäule „einen Erfahrungsbegriff haben“.

Bereits die ersten Wirbeltiere brauchten für ihre „hochauflösenden Facettenaugen“ eine Verarbeitungszentrale. Sie machten sich ein Bild von der Welt, im Prinzip nicht anders als wir. Mance spricht martialisch von einem „Wettrüsten“ mit der Vorgabe einen Vorsprung bei der „Verarbeitungsgeschwindigkeit“ herauszuschlagen. 

Eine beinah unberührte Ursprünglichkeit säumt das Luft- und Flussbad im Spektrum zwischen Straßenranddschungel, Böschung und Luftwurzellabyrinth. Karibisch findet Keno die Augenblicksstimmung. Er verbirgt sich vor der Familienmeute im Unterholz.  

Die verstohlene Kommunikation zwischen dem Lebensgefährten seiner Mutter und einer jungen Frau, die Keno täglich auf dem Hof seiner Großeltern sieht, entgeht dem Verborgenen nicht. Er beobachtet Iris mit dem irritierten Blick des Heranwachsenden am Ende der kindlichen Strecke. Unbegreifliche Empfindungen pflügen die inneren Schonungen.

Eben ist Doris über alle Barrieren hinausgeschwommen, ohne ihre Überschreitungen der Baderegeln auch nur realisiert zu haben. Zwar ist die ledige Yogalehrerin aus der Art geschlagen, aber eben doch ganz und gar eine Steinbrecherin, wenn es um Natur- und Bewegungsgenuss geht. 

Doris legt den Badeanzug ab. Nichts stört ihre Ungezwungenheit. Sie ist die Unglückliche unter ihren Schwestern. Doch gibt es Momente seelischer Weite, die ihr ungewöhnliche Spielräume eröffnen. Sie ignoriert Raimunds heiß erwidertes Interesse an Iris. Ihre Leidenschaft hat den Nullpunkt unterschritten. Doris schließt die Augen und gibt sich einem Tagtraum hin. Mit einem Mann, der an ihren verflossenen vietnamesischen Liebhaber Binh erinnert, erlebt sie eine Kernschmelze.

Kontemplation und Ekstase.