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2024-06-19 06:08:49, Jamal

„Die Schönheit der Formulierung eines barbarischen Tatbestands enthält Hoffnung auf die Utopie.“ Bertolt Brecht
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„Der Zweck macht den Stil.“ BB

Um 1980 © Mara Neusel

Sina

Sina wollte für sich wenig mehr als das Nötigste, sie gehörte einem Armutsorden an. Sie arbeitete als Aufsicht in einem Museum und in der ambulanten Altenpflege. Sie ließ sich außerdem für alles Mögliche engagieren. Man nahm sie gern, ihre Gewissenhaftigkeit war beispiellos. Es dauerte, bis ich in Sinas Mienenspiel einen Widerschein ihrer Verbohrtheit entdeckte. Sina schwelgte in der Opulenz von Aldi. Unauffällig machte sie sich schick, wenn wir in die Alte Oper oder in die Festhalle gingen. Sie verbarg nicht ihr Rasierzeug, aber den Lippenstift und ein paar andere Dinge aus der Drogerie bekam ich lange nicht zu sehen. Auf ihre Art verschleierte sich Sina. Ich erklärte, dass man in anderen Städten angenehmer arm sein könne als in Frankfurt. Sina ignorierte das.

Für mich hatte Sina die Schönheit einer Windjammergalionsmadonna. Ich zog gern mit ihr um die Häuser, sie amüsierte sich am Wasserhäuschen (so sagt man in Frankfurt zum Kiosk) nicht weniger als in Jimmy’s Bar, eine legendären Spot im Hessischen Hof. Sie kippte die Kurzen zwischendurch, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war für sie selbstverständlich.

Sina hatte das Saufen von einem Onkel gelernt, der auf dem Friedhof ihrer Heimatgemeinde die entscheidende Kraft war. Er oszillierte zwischen Faktotum, Randfigur und Grenzgänger. Den Nachwuchs lehrte er Kneipenspiele. Er stellte seinen Raum für Experimente zur Verfügung und bot Verstecke an. Er nahm sich das ein oder andere heraus, ohne dass sich die Übergriffe ernsthaft beanstanden ließen. Heute wäre so eine Figur undenkbar.  

Sina und ich waren zusammen bei „Deep Purple“. In der amtierenden DP-Besetzung spielten Ian Gillan, Ian Paice, Roger Glover, Don Airey und Steve Morse. Gillan war schon zweimal aus- und dreimal eingestiegen. Brecher aus der Wetterau unterhielten sich über seine Stimme. Besorgt erwogen sie, ob er noch so hoch wie einst singen könne und wie weh ihm das hohe Singen tun würde. Sina lachte sich einen Ast. Sie tanzte um mich herum, als erklärte Feindin halber Sachen. Nur Paice war schon am Deep Purple-Anfang dabei gewesen. Ein Zeitfenster öffnete sich zu „Highway Star“, dem ersten Lied auf „Machine Head“ von 1971, in der LP-Version (mit dem Hinweis auf „Monoabspielbarkeit“ auf dem Cover - und der grafischen HörZu-Ecke) 6.05 Minuten lang. Der amerikanische Gitarrenpilot Morse spielte den Traversenverbund von der Hallendecke. Manchmal stand er so allein und grandios da wie Jesus.

Sina und ich waren im Olymp unserer Götter. Wir wussten beide, dass Ritchie Blackmore „Smoke On The Water“ lausig fand. Der besungene Rauch zog einst über den Genfer See. Deep Purple brachte ihre von zehntausend Tanzkapellen verschlissenen Titel auf Vordermann. „Space Truckin“ klang kathedralisch. Ich assoziierte damit ein Orgelkonzert, dass ich in der Kathedrale von Sevilla (Santa María de la Sede) erlebt hatte.  Deep Purple spielt an einer Schnittstelle sakraler und säkularer Musik. Am Bass regierte ein Verwitterter, Glover sah aus wie ein vom Galgen geschnittene Pirat. Die antiken Gefechte zwischen Orgel, Airey saß vor einer Hammond-B3 (mit Leslie-Lautsprechersystem) und Gitarre (ehedem Jon Lord versus Blackmore) wiederholten sich zum Schein.

„Ich danke dir“, sagte Sina nach dem Konzert bescheiden. Nur als Beschenkte wollte sie am Leben in der Beletage teilnehmen.

„Möchtest du nicht endlich ein bisschen egoistischer werden?“ fragte ich. Ich hatte noch einen Termin, eine Mitternachtslesung in einer aufgelassenen Schleifmaschinenfabrik. Sina musste um sechs aufstehen, sie begleitete mich trotzdem. Die Veranstalter spekulierten auf epochale Effekthascherei. Auf die Sensationen von Auf- und Zugängen einer alten Werkshalle. Wir beschritten Industrieparkett aus ölgesättigtem Stirnholz. Wie zischende Diener standen Heizpilze zur Verfügung, vorgelesen wurde aus Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“. Ab und zu sang eine Sopranistin Brechtlieder.

Irgendwo sagt Bertolt Brecht: „Die Schönheit der Formulierung eines barbarischen Tatbestands enthält Hoffnung auf die Utopie.“

Ich verlor mich im Anblick der Träger, monumentaler Muttern und erstaunlicher Nietenmuster. Wie schön die Farbe abblätterte. Tische waren mit zerschnittenen Brautkleidern drapiert. Die Sängerin trug ein ärmelloses Kleid in arktischer Kälte. Sina grub sich bei mir ein.

„Du bist so weit weg“, klagte sie.

Ich hatte für uns Parkas gekauft, regelrechte Zelte mit Pelzrändern. Wir waren ganz für uns an einem Rand des Geschehens. Niemand scherte sich um niemanden. Das war ein günstiger Augenblick, um unsere Playlist zu erweitern. In meinem mimischen Vokabular gab es eine Aufforderung zum Tanz, die nur Sina verstand.