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2024-06-22 11:33:57, Jamal

In „Das Schweigen der Lämmer“ erklärt Dr. Hannibal Lecter der FBI-Agentin Clarice Starling das Leben sowie die Grundlagen investigativer Interventionen.

„Oberste Prinzipien Clarice. Simplifikation… lesen Sie bei Marc Aurel nach. Bei jedem einzelnen Ding die Frage, was ist es in sich selbst? Was ist seine Natur? Was tut er, dieser Mann, den Sie suchen?“

Lecter: „Wie beginnen wir zu begehren, Clarice? Suchen wir uns Dinge zum Begehren aus? Strengen Sie sich mit allen Kräften an, jetzt eine Antwort darauf zu finden.“

Starling: „Nein. Wir können...“

Lecter: „Wir beginnen das zu begehren, was wir jeden Tag sehen.“

© Jamal Tuschick

Schwarzer Büstenhalter

Unsere Vorfahren waren Prärietiere und Höhlenmenschen zugleich. Die ältesten Verehrungsgegenstände sind Darstellungen von Geschlechtsorganen. Die Religionen zogen ihre Linien im Erkennen des Zusammenhangs zwischen Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung. Vielleicht hielten sich die Leute zunächst selbst für göttlich in ihrer unparfümierten Struppigkeit. Im magischen Denken von Heranwachsenden überlebt dieser kolonisierte Zipfel des Menschseins vorübergehend.

*

Nie krank gewesen, nie pleite. Leicht durch die Schule gekommen, lässig studiert. Mit siebenundzwanzig verdient Dick hunderttausend im Jahr. Er muss viel fliegen, er fliegt gern. Gute Hotels, gute Anzüge, gutes Essen. Abends schlendert er durch den Lebenskampf. Wenn er im Restaurant auf seinen Salat wartet, stellt er sich vor, wie Ratten im Hinterhof über die Reste herfallen.

Worum geht es, wenn man nicht auf der Plattform bleibt? Die Realität außerhalb der Medien ist ein Friedhof verfehlten Ruhms. Dick schaut bei Simone vorbei. Steht sie in einer Schlange, dann im Cocktailkleid vor einer Bar. Die arbeitende Bevölkerung kommt von einem anderen Stern. Es gibt keine Rechtfertigung für den Wohlstandvorsprung, der wie eine melancholische Felsnase den Ozean des globalen Elends überragt.

Simone fließt unter Dicks Berührungen über. Er zieht eine Zeigefingerlinie von Hüftknochen zu Hüftknochen, knapp über dem Bauchnabel. Er wirkt auf Simones Kraftzentrum ein, während ihre Erregung wie ein unter Druck gesetzter Stempel aufsteigt. Das Feuer in ihren Zellen gibt ihm ein Hausrecht.

Mit Dick mag Simone die Danach-Stimmung sehr. Danach sieht sie Dick gern an einem Tresen. Sie riecht ihre Seife an ihm. Er trägt seinen Anzug jetzt besser. Es ist noch etwas von seiner Erregung übrig, eine Spannung, die ihn vibrieren lässt.

Dick behelligt Simone nicht mit postkoitaler Erschöpfung. Sie lässt sich von den Splittern seiner Arroganz verletzen.

Er erzählt eine Geschichte. Simone reizt die Genauigkeit, mit der Dick die Verzweiflung und das Glück seiner Akteure beschreibt. Eine in den Gedärmen sitzende Verzweiflung. Ein in den Gedärmen sitzendes Glück. Beinah unfassbar. Dick präpariert Ganglien des inneren Geschehens. Er zeigt die Gefräßigkeit unserer Gattung, den gewöhnlichen Egoismus, die wenig witterungsresistenten Täuschungsmanöver. Der schwarze BH als Sensation einer ersten Nacht drapiert im weiteren Verlauf eine oft übersehene Lehne. Gleichzeitig übernimmt eine andere Verheißung die Regie. Solange wir im Saft stehen, sind wir gefährdet. Wir leben so wie man auf einem Bein wackelt. Willst du eine glückliche Ehe zerstören? fragt X. die Geliebte ihres Mannes. Die brutalste Antwort liegt auf der Hand. Wie glücklich kann eure Ehe denn sein, wenn Y. lieber zu mir als zu dir kommt. Dies als Feststellung, deshalb ohne Fragezeichen.

Kehren wir noch einmal zum schwarzen BH zurück. In einem Moment ist der BH – als Accessoire einer sonst nackten Frau – das einzige, was die plötzliche Aufmerksamkeit eines zuvor ambivalenten Mannes garantiert, im nächsten Moment lockt der BH keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor.

Zur Stunde der gelösten Krawatten präsentieren sich  Simone und Dick im „Kling Klang“. Die Bar ist nach einem Hit der ostdeutschen Band „Keimzeit“ benannt. Auch das ist für die Westdeutsche Simone interessant genug, um es zu wissen. Sie sitzt zwischen Dick und Nasri. Solange man sehr jung ist, passiert Sex im Schatten eines Himalaya-Gebirges aus Widersprüchen. Außerhalb des Sex ist fast nichts richtig. Das führt unweigerlich in die Sackgassen des Discount-Existentialismus.

„Im Persischen haben alle Wörter einen Schatten“, sagt Nasri.

Er verblüfft Simone mit dem Wort Artikulationsfitness. Nasris Mutter war Analphabetin und hatte ein Gedächtnis wie ein Mörder. Sie entwöhnte ihren Sohn mit Opium.

„Als Kind war ich unglaublich belesen.“

Nasri verwaltet Portfolios exzentrischer Kunden, die unter spirituellen Vorzeichen und als Kunst Geld verdienen. Doch diese Dagobert Duck/Howard Hughes-Typen sind in ihren übertriebenen Ängsten immer ein wenig lächerlich.

*

In einer französischen Provinz werden Rentner für malerische Darbietungen bezahlt. In Spitzenzeiten des täglichen Touristenansturms treten sie als unverwüstliche Vertreter des ländlichen Frankreichs auf. Sie spielen Boule und trinken Pastis. Vor allem aber lassen sie sich fotografieren, ohne Anzeichen von Gereiztheit zu zeigen. Das berichtet der Soziologe Rachid Amirou.

Blaue Augen. Schneewittchens Haut und schwarze, kaum bändigbare Locken. Aine verkörpert den Typus mit ihrem ganzen begehrenswerten Wesen. Sie arbeitet im „Kling Klang“ und egal, was sie tut, um sich abzulenken, es gelingt ihr nicht. Sie hat immer nur Dick im Kopf, ohne zu merken, dass Dick sie nicht nur manipuliert, sondern auch stimuliert. Das Feuer in ihren Zellen inspiriert Aine. Niemand hat je eine fähigere Kellnerin gesehen.

Die sehnsüchtige Melodie in jedem irischen Shanty als Duft; das ist es, was Aine verströmt. Sie ist geschmückt mit dem Chic einer veralteten Eleganz. Sie trägt ein himmelblaues Kleid mit V-Ausschnitt und unregelmäßigem Saum aus Crêpe Georgette. 

Betrunkener Sex unter einem Halbmond und zwischen den Mülltonnen hinter dem „Kling Klang“. Im Viertel bricht das Gefüge einer brüchigen Gemeinschaft zusammen. Die Leute wissen einfach nicht mehr, was sie tun sollen. Sie machen sich gegenseitig Szenen. Dann kommt die Polizei und die letzten Jammerlappen, die nicht völlig am Ende sind, ziehen fremde und ihre eigenen Kinder aus dem lebensgefährlichen Verkehr in unaufgeräumte Korridore.  

Über Simones inneren Kaskaden strömen exkulpierende Wasser der Erinnerung. Der Sonnenpfeil eines Lichteinfalls führt sie zum ersten Kuss. Ein sternenübersäter Himmel hier, eine Rechenmaschine da, und dort der brüllende Fernseher vor dem eingeschlafenen Vater. Auf seiner Brust bebt das auf hochwertig getrimmte Leseclub-Buch; die goldenen Letter erhaben auf dem Cover.