MenuMENU

zurück

2024-06-24 19:09:58, Jamal

Kein Prinz

Am ersten Tagungsabend beschwerte sich Madeleine über meine Zurückhaltung. Ich hatte es vermieden, mit den richtigen Fragen und Einwürfen die Diskussion in Gang zu bringen. Das hatte sich Madeleine selbst zuzuschreiben. In einer Troika gemeinsamer Interessen und Idiotien war es Madeleine, Roland und mir zwei Jahre gelungen, unsere Freundschaft nicht der Liebe wegen aufs Spiel zu setzen. Nun hatten Madeleine und Roland fadenscheinig nicht die Freundschaft, wohl aber ihre Liebe zu etwas Unverbindlichem und Vorübergehendem erklärt. Schon bald wolle man wieder in das ursprüngliche Kerngehäuse der Vertraulichkeit zurückkehren; ich möge mich nur gedulden. Ich empfand Madeleine und Roland als Abtrünnige, obwohl ich der Abgesprengte war. Schon im Kindergarten war mir aufgefallen, dass es Prinzessinnen und Schleppen-Trägerinnen so wie Prinzen und Steigbügelhalter gibt. Nie stand außer Frage, dass ich kein Prinz war. Das wurde so deutlich angezeigt wie die Uhrzeit am Kirchturm. Ich strebte ohne Vorbildung in die Rolle des Beraters einer Prinzessin. Waren die Konstellationen fixiert, vergaßen alle die Bedingungen ihres Zustandekommens. Dann war man befreundet und hatte Rechte. Es musste einem zugehört werden. Man war in der elternhäuslichen Umgebung der Freundin halbwegs willkommen und genoss Anspruch auf einen Platz am Esstisch. Ich habe oft und mit gutem Appetit in der Gesellschaft unzufriedener Väter gegessen. Ihnen war ich nicht unterlegen. Sie waren schon dabei, Sediment zu werden. Ich wusste nicht, ob Madeleine und Robert ihre Liebe oder unsere Freundschaft herunterspielten. Ich verstand nicht, wie sie nach all den Freundschaftsbeweisen im Nagelbett der körperlichen Nähe so heiß aufeinander sein konnten. Ich ignorierte meine eigene Strategie. Jeder Versuch einer körperlichen Annäherung hätte die Freundschaft zerlegt. Andererseits durfte ich nicht nur, sondern sollte sogar in der riskanten Zone Zelte der Zurückhaltung aufbauen. Genau wie Roland, nur anders. Die erste Tagungskatastrophe begann mit einem Blechschaden; verursacht von einem Fahrer ohne Führerschein. Der widerrechtlich geführte VW-Variant gehörte dem Freund einer Tagungsteilnehmerin. Silvia hatte Jürgen ans Steuer gelassen. Sie war in Jürgen verliebt, aber mit dem Variant-Fahrer zusammen. Achim studierte Maschinenbau, verbrachte seine Freizeit in Kneipen und gehörte zu einer wilden Horde. Das waren aus (selbst im Vergleich mit Kassel) kleinen, vor allem ostwestfälischen und südniedersächsischen Städten Zugezogene. Sie pflegten abseitige Vorlieben für Kreisligaereignisse. Manche übten handwerkliche Berufe aus, unverbunden mit den Abitur-Gärtnern und -Schreinern, die - das Programm der Grünen vorwegnehmend - auf der Verzicht-Schiene unterwegs waren. Kein Achim übte freiwillig Verzicht. Die meisten waren mit zweiundzwanzig aufgeschwemmt und konditionsschwach und trotzdem von sich eingenommen bis zum Anschlag. Wieso war Silvia mit Achim zusammen? Er hatte ihr das Auto, sie Jürgen das Steuer überlassen. Jürgen hatte einen Volvo auf dem Parkplatz der Tagungsstätte touchiert. Ein emotionaler Blow-out trieb die Jungsozialisten ins Freie. Die vierzig Tagungsteilnehmer schlugen sich wie ein Mann auf Jürgens Seite. Das Politische war privat, und Jürgen war einer von uns. Wir bemerkten den Wanderer erst, als er sagte: „Ich habe alles mitangesehen.“