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2024-06-26 20:53:00, Jamal

Vorbemerkung

Ein Ortsverein der SPD liefert der Geschichte den Grund und das Zentrum. Im Bürgerhaus einer Siedlung, die ein tausend Jahre altes Straßendorf seit den frühen 1960er Jahren mit erheblichen Störungen der vertrauten Abläufe erweitert, kommen Arbeiter, Angestellte und Handwerker auch deshalb zusammen, um ihrem nicht selbstverständlichen sozialdemokratischen Selbstverständnis einen geselligen Rahmen zu geben. Sie tragen nach außen, was die meisten für sich behalten: ihre politischen Überzeugungen. Als Sohn des Ortsvereinsvorsitzenden erlebt der Erzähler eine waschechte sozialdemokratische Sozialisation in einem Klima hart geführter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach dem Abitur leistet er Zivildienst bei der Arbeiterwohlfahrt in der Abteilung Essen auf Rädern. Erst jetzt hat er seine erste richtige Freundin, die Tochter der Nachfolgerin seines Vaters. Simone Schilling wurde in Berlin geboren und kam im Schlepp der Mutter, die einen akademischen Ruf erhalten hatte, nach Kassel. Sie verliebte sich in die nordhessische Landschaft. Zwei Jahre lebt sie mit dem Erzähler in einem ehemaligen Jagdhaus der Försterei Fahrenbach im Kaufunger Wald. Nach der Trennung des Paars zieht der Erzähler nach Veckershagen auf das Gehöft der Familie Schäfer. Der letzte männliche Nachkomme musste in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden. Der Erzähler hat eine neue Freundin, Gerda aus Helsa. Sie spielt die Wäscheruffel in einer Southernrockband, die aus einer evangelischen Hausmusikgemeinschaft hervorgegangen ist. Der beste Freund des Erzählers ist Tille Freyschmidt, ein frei umherschweifender Regionalreporter. Auch der Erzähler macht Provinzjournalismus.

 Natürlich wussten auch unsere Genossen, dass „die historische Normalität des globalen Turbokapitalismus die Krise“ ist, und der Neoliberalismus, der damals noch anders hieß, „das Leben in eine Ware verwandelt“ (César Rendueles). Trotzdem durfte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden.

In den Augen meines Vaters war der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) „eine Modeerscheinung“. Eine leise Verachtung für „die Kommunisten spielenden Studenten“ sprach sich aus, wenn sich die Genossen des sozialdemokratischen Ortsvereins nach einer Sitzung noch zwischen Tür und Angel, das heißt zwischen den Klos im ersten Stock des Bürgerhauses, das Jahrzehnte als Volksschule gedient hatte und vom Kohortenmief imprägniert war, und einem umgewidmeten Klassenzimmer, das einige aus der Kindheit kannten, auf einem hallenden Korridor mit quietschendem Linoleumboden, stets auf die gleiche Weise merkwürdig unterhielten. Heute weiß ich, worum es ging, darum nämlich, Traditionen nicht ins Sediment sinken zu lassen, sondern sie fleißig im Gedächtnis und folglich am Leben zu halten.

Der blaue Himmel über der Ruhr

„In den 1970er Jahren“, so Wolfgang Streeck, „ging das Kapital der wiederaufgebauten Industriegesellschaften daran, sich aus der nationalen Nutztierhaltung herauszuarbeiten.“ Da endete die soziale Marktwirtschaft, auch wenn sie noch Jahrzehnte später beschworen wurde. Die SPD meiner Kindheit war ein Relikt aus der Zeit vor dem Godesberger Programm. Sie bestand tatsächlich aus Arbeitern, wenn auch nicht nur. Kein Lehrer, kein Arzt, kein Anwalt gehörte dazu. Nach oben aus riss allein der Unternehmer Brinkmann, der nach dem Supermarktleiter Wagner mein zweiter Arbeitgeber wurde. Ich grub Brinkmanns Blumenbeete um und zog einen Versorgungsgraben von der Kasseler Straße bis zu seinem Haus. Schließlich legte ich den feuchten Frontsockel frei und verlegte eine Drainage. Da war ich vierzehn und stolz auf meine Schwielen. Meine Einnahmen und Ausgaben musste ich vor meinem Vater schriftlich verantworten. Das wurde abgezeichnet. Gern beobachteten mich Parteigänger des KBW - „Kommunistendarsteller“ in den Augen meines Vaters - bei der Arbeit. Sie agitierten hämisch über den Zaun. Ich traf sie wieder und wieder in Kneipen und auf Konzerten. Sie lösten sich in der Normalität auf; während mein Vater zumindest in der Nachbarschaft legendär wurde. Der eiserne Fritz hatte allen die Stirn geboten, mit nicht mehr Rüstzeug als Sinn für und Freude am Mittelmaß.

Mittelmaß war für uns nicht mittelmäßig. Das Machbare war die heilige Kuh der SPD. Machbar war der Umzug aus einer Waschbetonsiedlungswohnung in den Fertigbau. Fertigbauhäuser waren der letzte Schrei und wurden von Schülern, Studenten und anderen Hiwis binnen vierundzwanzig Stunden bezugsfertig gekloppt. Gestern noch Mieter, heute schon Hausbesitzer auf dem Weg zum Eigentum. Das war machbar, angesichts „der atomaren Bedrohung“, die für Endzeitstimmung sorgte. Die Rote Armee stand vor der Tür in Thüringen, und der Amerikaner wollte auf deutschem Boden gucken, was nukleartechnisch in der Vorhölle des Kollektivselbstmords möglich war. Schon Strauß hatte als Verteidigungsminister Mittel aus dem Giftschrank der Menschheit geordert, ungefähr zu der Zeit, als Willy Brandt den „blauen Himmel über der Ruhr“ forderte. 

„Der Strahlenkrieg“, so unvermeidlich er schien, fand nicht statt. Stattdessen löste sich der Korpsgeist der alten SPD auf und diffundierte zwischen Dorf und Siedlung in der Anpassung an eine neue Zeit. Die Vermögensumverteilung hatte so weit stattgefunden. Die Bildungsreform griff. Wer zu blöd war, dem konnte auch die SPD nicht helfen. Die klügsten Köpfe verschworen sich im Ringverein der Windsurfer. Ihr Zauberwort hieß „Lebensqualität“. Nun ging es um Gleitzeit und Teilzeit und karibische Urlaubsziele. Aber das waren keine geborenen Mittelständler, die ihre Surfbretter auf den Dächern großer Audis transportierten und Langstreckenflüge aus eigenem Erleben kannten. Das waren Männer, die mit vierzehn in die Lehre gekommen waren und sich sonst wie oder eben auf dem zweiten Bildungsweg flottgemacht hatten. Der zweite Bildungsweg war die Bildungsreform vor der Friedeburg’schen Bildungsreform. 

In der Machtmühle

„Der Neoliberalismus kam mit der Globalisierung.“ Wolfgang Streeck

Kein Genosse versprach sich von Öffnungen etwas Gutes. Die von meinem Vater geführten Siedlungs- und Dorfsozialdemokraten waren Fetischisten „gewachsener Verhältnisse“ in einer Welt mit autofreien Sonntagen und Vollbeschäftigung. Mein Sinnbild dieser Ordnungskategorie war der Kleingarten in seiner Kolonie. Die Kolonisten hatten Kaninchen gezüchtet und miniaturisierte Landwirtschaft betrieben, solange die Hungersnot groß gewesen war. Manche hatten in ihren Gärten verbotenerweise auch der Wohnungsnot getrotzt. Nun kaufte man alles billig beim Konsum und konnte sich in seinem Garten der Zierde widmen. Mein Gewährsmann für diesen Kosmos war Onkel Willi. Der Polsterer arbeitete im Staatstheater und hatte den Krieg noch in den Knochen. Willi war nicht evakuiert worden, wie die anderen Kinder in seiner Straße. „Die (in drei Nächten aufeinanderfolgenden) großen Angriffe“, auch das eine stehende Wendung, hatte er im Rübenkeller einer schwer beschädigten „Pappschachtel“ überlebt. Pappschachteln nannte man Mitte der 1930er Jahre in den Kasseler Zuchthausschatten gestellte Zweifamilienhäuser, in den möbliert vermieteten Mansarden wohnten Junggesellen, die oft auch Handwerksgesellen waren. Die Häuser sahen in ihren schnurgeraden Reihen so aus, als könnte ein Wind sie wegtragen. Es gab keine psychoanalytische Aufhellung des Grauens. Niemand wusste, was ein Trauma war. Was blieb, war das Ressentiment. Es wurde eingehegt von den Gewerkschaftsschulungen im Haus der Jugend und den parteipolitischen Ansagen in der Löwengrube. Hätten in Willis Umgebung nicht Sozialdemokraten mit der Faust in der Tasche das Dritte Reich überstanden, um gleich danach, noch im Geist des Sozialismus, den Arbeiterkampf wieder aufzunehmen, wäre Willi kein Linker geworden. Seine politische Sozialisation war reine Anpassung an die Verhältnisse gewesen. Dieser nie begriffene Opportunismus hatte eine interessante Spaltung hervorgebracht. Willi sprach wie ein „ewig Gestriger“ und fand lebhafte Zustimmung bei politisch ungebundenen oder offensiv reaktionären Kolonisten. Er nahm „kein Blatt vor dem Mund“.

Es war wichtiger einer von uns zu sein, als klar in der Birne. Wenn „unsere“ Genossen soffen, tranken sie gern mal einen. Soffen die anderen, waren es Säufer. In diesem Karree freiwilliger und unfreiwilliger Selbstbeschränkungen war „ein Blick über den Tellerrand“ ausgeschlossen. Die Genossen rechneten mit einem wohlwollenden Staat, der sich seine Steuerungsmöglichkeiten zu ihren Gunsten nicht nehmen ließ. Die Kapitulation des Staates vor dem Kapitel vollzog sich zwar öffentlich, wurde aber so abgehandelt wie Willis Ausfälle. Der Staat war nämlich auch einer von uns. Die SPD steckte in der Machtmühle, man durfte es ihr nicht schwerer machen, als sie es ohnehin schon hatte. „Jetzt, wo wir an der Reihe sind.“ Die Genossen sahen wohl und sahen nicht, dass sich auch eine sozialdemokratische Regierung nicht gegen den globalen Wettbewerb stemmen konnte. Es ging um die internationale Wettbewerbsfähigkeit und um die Lohnkosten. Wir waren zu teuer.