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2024-06-29 09:03:04, Jamal

Side Thrill

„Sex ist ein stabiles System egoistischer Formen, die um die Sonne der Eitelkeit kreisen.“ Pola Oloixarac

Sie klimpert ein bisschen mit ihrem Erfahrungskleingeld. Die Liebe verbannt sie in die Dimensionen eines Fingerhuts. Persephone schmückt der Chic einer obsoleten Eleganz. Die geborene Rostockerin trägt ein himmelblaues Kleid mit V-Ausschnitt und unregelmäßigem Saum aus Crêpe Georgette.

Sie setzt den Fuß auf den Schemel, um den Schuh zu bewundern, den der alte Svevo ihr lüstern-devot auf den Fuß gezogen hat. Die Perversion als Profession; der Fußfetischist und Stiefellecker als Schuhverkäufer mit eigenem Geschäft von Gaspares Montanas Gnaden. Gaspare ist der Pate von G. Vielleicht holen wir doch noch mal kurz aus für die Säumigen in dieser Kunstkapelle.

Gaspare dient dem Ideal eines modernen Paten als Vorbild. Er diversifiziert sogar Morde, bis er vorderhand so legal operiert, dass staatsloyale Richter und Staatsanwälte seine Freundschaft nicht verschmähten. Man kennt und schätzt sich. Gaspare brilliert als Mäzen und Mentor. Aber das alles soll uns heute Morgen nicht beschäftigen.

Affiziert von einem neuen Nebenreiz (side thrill) analysiert Persephone Svevos mediokre Geilheit. Soll er mir doch die Füße küssen. Mit Kies gefüllte Blumenkübel gliedern die Verkaufsfläche wie einen Hindernisparcours. Raumspray-Aromen schmälern die Lufthoheit des vielschichtigen Lederwarengeruchs. Persephone zeigt Svevo ihre Erreichbarkeit, neugierig auf die Aszendenten des Fetischs. Svevo braucht keine zweite Einladung. Er sperrt seine Angestellten in Schubladen, bedankt sich leise und heiser bei der Großzügigen, und nimmt dann behände Persephones rechten, noch bestrumpften Fuß in den Mund. Im zweiten Akt leckt er nun nackte Zehen. Zu seiner Regression gehört auch der Blick unter Persephones Rock. Mehr braucht er nicht. Svevo fragt Persephone, ob sie beleidigt sei, wenn er vor ihr in einen Schuh ejakuliere. Er formuliert es anders, meint es aber höflich.

„Ganz im Gegenteil“, verkündet Persephone erheitert. Übrigens trägt sie weiße Cosplay-Dessous im Anime-Stil.

Svevo trollt sich. Eine Verkäuferin nimmt, fast tragisch verlegen, seinen Platz ein. Persephone will etwas Freundliches zu ihr sagen, aber nichts hilft. Die vorhersehbare Pointe: Als es ans Bezahlen geht, erklärt die Verkäuferin, dass die Rechnung bereits beglichen sei. Persephone bleibt ungerührt und gut gelaunt. Sie schlendert zur nächsten Eisdiele. Sie bestellt den größten Becher. Kalorienzählen kommt für sie nicht infrage. Sie mag es, wie sich ihr Bauch leicht vorwölbt.

Kosmische Vertrautheit

Geboren und aufgewachsen in Rostock. Die Eltern – beide Professoren mit Ostprägung – hatten bei der Namensgebung zweifellos etwas monströs Ehrgeiziges im Sinn: Die mythische Persephone war das Ergebnis göttlichen Inzests. Demeter, ihre vielleicht nicht so bekannte Mutter, verdankt ihre Geburt einer erotischen Kollision zwischen den Titanen Kronos und Rhea. Kronos war dafür berüchtigt, seine Nachkommen zu fressen. Er hatte nicht immer Erfolg damit. Persephone wurde aus der Geschwistervereinigung von Demeter und Zeus geboren. Folglich steht Persephone für Macht auf göttlicher Ebene.

Persephones Domäne ist eine Kombination aus Glamour und Hochkultur. Seph – für diejenigen, die ihr sehr nahe stehen – vollführt die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben auf einer schmalen Linie zwischen Melancholie und Leichtigkeit. Die Männer, mit denen Persephone ausgeht, sind Meister der degoutanten Selbstinszenierung; Snobs, die an jeder Getränkeauswahl etwas auszusetzen haben. Eine Weinkarte ist für sie nur ein Vorwand für eine Exegese. Sie verunglimpfen Kellnerinnen mit olympischem Eifer. Ihre hochmütige Gemeinheit trägt das Markenzeichen der Pedanterie. Sie parfümieren ihre Arroganz. In ihrer Gegenwart kann Persephone keinen Aperol Spritz bestellen, ohne dass man ihr sagt, dass ihre Entscheidung sie zu einer Person der Vergangenheit macht. Sie lacht über die geschliffenen Darbietungen derer, die immer die teuersten Sachen bestellen, um keinen Zweifel an ihrem Status zu lassen. Persephone fischt ihre Liebhaber mit der nötigen Gleichgültigkeit aus diesem Becken. Sie verdient zwar wenig, schwimmt aber dennoch im Pool der Geldleute in einem ganz besonderen Refugium an der Ostsee. Eine Rostocker Mafia, bestehend aus ehemaligen DDR-Staatssicherheitsangestellten und anderen Ex-Ostblock-Haien, teilt sich das Territorium mit Gangstern, darunter sind auch lateinamerikanische Drogenbarone und andere La vida loca-Vertreter. Kolumbianische Kartelle entdeckten bereits die DDR als sicheren Hafen. Die Polizei beschlagnahmte tonnenweise illegale Waren, und Pablo Escobars Motto plata o plomo – Silber oder Blei – entweder du nimmst Bestechungsgeld an oder du wirst erschossen – landete unter den Top Ten der Leipziger Slogan-Olympiade. Biedere Rauschgifthändler bezogen Quartier an der Ostsee. Kleine, dicke Männer traten auf, die wie Pinguine watschelten und das Gehabe von Bürgermeistern an den Tag legten. Sie ließen sich und ihre Familien von britischen Söldnern bewachen. Gemächlich versuchten sie, die kolumbianische Justizministerin Mónica de Greiff zu töten. Auf ihren Kopf war ein Preisgeld von zwei Millionen Dollar ausgesetzt. Die Lebensspanne der Politikerin war Gegenstand einer Wette.

Auf einer Party umarmt die Philologin Persephone den Sicherheitsexperten Delaware überfallartig. Sie kann sich den Verzicht auf den Vorlauf einer zivilen Kontaktaufnahme selbst nicht erklären. Sie nötigt Delaware, auf sämtliche Präliminarien zu verzichten. Die beiden ziehen sich in das Schlafzimmer ihrer Gastgeber zurück. Dies ist bilateral mit dem Gefühl dringlichster Zärtlichkeit verbunden. Er herrscht kosmische Vertrautheit, pures Gattungsglück. Die Tiger im Dschungel feiern auch keine Verlobung. Sie sehen sich und erkennen sich in ihrer Schönheit.

Staubwunder und Schreiblust

Das magische Momentum des Menschseins besteht darin, dass ein Mensch ein anderes Lebewesen übernehmen kann, mit einem Blick, einer Geste, einem Wort, einem Geruch, einem Dekolletee. „Verführung ist die wahre Gewalt“, sagt Schiller.

Persephone verzehrt ein Post-Doc-Stipendium an einer norddeutschen, im Mittelalter gegründeten und von bedeutenden Absolventen geadelten Universität. Die Zeit läuft ab zwischen Langeweile und Zerfall. Kein Schimmer vergangener Größe hellt den Betrieb auf. Der pompös-marode Festungsbau ist ein Phantom der Grandiosität. Es gibt einen toten Trakt voller Staubwunder und mumifizierter Mäuse. Ein Garn der Gleichgültigkeit webt dem Klandestin-Labyrinthischen einen Schutzmantel. Persephone schlüpft täglich durch ein Knopfloch wie durch ein Fenster der Zeit und erkundet im toten Trakt die Schichten einer versunkenen Welt.  

Persephone braucht das Stipendium nicht. Die allgemeine Unzulänglichkeit bietet sich ihr als poetischer Gegenstand an. Man muss sich Persephone als glücklichen Menschen vorstellen. Nach einem vorhersehbaren Desaster startet sie in einem Anfall subtiler Hemmungslosigkeit den nächsten Versuch. Kaum verhüllt erzählt sie dem Dozenten Ned die Geschichte des Tages in einer E-Mail. Die beiden haben erst seit wenigen Wochen Kontakt. Bisher verbindet sie nicht mehr als reine Campus-Kommunikation. Die schriftliche Version des verpatzten Kleinstadtabenteuers lässt Persephone an ihrem Schreibtisch erschauern. Die Schreiblust verschafft ihr den freifraulichen Kick, der im direkten Kontakt mit dem Lektor Tillmann in der Wohnung seiner Oma nur auf dem Umweg einer Manifestation zustande kam. Das war eine Landung mit dem Notfallschirm.

Im Präsens der Pleite

Tillmann hat es geschafft. Er arbeitet bei Suhrkamp in Berlin. Aus der Flut unverlangter Einsendungen spielt ihm eine Praktikantin ein Manuskript zu, mit träumerisch-handschriftlichem Begleitschreiben direkt aus seiner Geburtsstadt. Wer mich groß herausbringt, den werde ich lieben. Ich will schließlich nicht allein im siebten Himmel wohnen. Tillmann findet den Brief verheißungsvoll. Die gemalten Buchstaben sind heiß; er hält eine Pheromone-Bombe in Händen. Zwei Wochen später trifft er Persephone persönlich. Schauplatz der Plötzlichkeit, von Tillmann falsch gedeutet, ist die modrig-vernachlässigte großmütterliche Bleibe mit der unvermeidlichen Plastiktischdecke auf dem Küchentisch. Der Mief aus Alter und Armut bildet in der Dunkelbude eine eigene Emission. Tillmann hat die Witwe in der Nachbarschaft untergebracht. Er fühlt sich erhaben, schließlich weiß er besser als die meisten wie lost man in G. ist. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, dass für Persephone die Inszenierung an erster Stelle steht. In ihren Augen ist Tillmann gleichermaßen Mitspieler und Zuschauer. 

Während sie eine geschönte Fassung ihrer zerstörten Inszenierung verfasst, überträgt sich ihre Schreiblust auf Ned. Seine Antwort kommt so schnell wie ein Rückstoß. Persephone flüchtet in ihre Yoga-Routine. In der Froschposition gesteht sie sich ein, dass sie gerade mit etwas Unerwartetem konfrontiert wurde.

Persephone und der Dozent

Stellen Sie sich einen steigenden Hengst vor, der auf seinen Hinterhufen bramarbasiert. Der mächtige Rumpf, die starken Vorderläufe ragen auf. Enorme Kräfte werden freigesetzt und dem vierbeinigen Fortbewegungsprogramm entzogen. Der aufrechte Gang erlaubte es Homo erectus, sein größtes Gelenk frei zu nutzen. So gelangte er an die Spitze der Pyramide: in einer Verbindung dieser Freiheit mit einem Gegenstand. Mit dem Speer erreichte der Steinzeitgenosse Weiten und Geschwindigkeiten, die erst im Verlauf der Neuzeit übertroffen wurden.

Persephone schreibt mit, eine Studierende, verliebt in einen (gewiss nicht) unerreichbaren amerikanischen Dozenten … in einer abgetakelten, ostdeutschen Kleinstadt, in der abends die Bordsteine ​​hochgeklappt werden. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Satin-Camisole und einen geschlitzten grauen Kaschmir-Bleistiftrock. Persephone spricht stark an auf Neds Stimme, sein expressives Deutsch, die Mulden und Hügel seiner Aussprache.

Sie ist so schön. Unfassbar wie ein Spinnennetz. Sobald man es berührt, reißt es. Auf der Linie Bewusstsein - Information - Energie kann Persephone die Schlagzahl jederzeit erhöhen. Vorherbestimmung ist das eine, Fitness das andere. Niemand raucht (nicht einmal eine Zigarette) oder trinkt (ernsthaft) in dieser Geschichte. Wenn ein Cocktail zum Kleid passt, nippt Persephone am passenden Glas. Dies wird als Geste betrachtet und unter Accessoires abgelegt. Persephone ist keine Eskapistin. Sie überlebt sozial in ihrer Welt, weil sie keine Signale ihrer Obsessionen aussendet. Die Probanden bemerken die Devianz nicht. Das orgiastische Erleben einer sekundären Attraktion (Nebenreiz) mit Ned auf einer Universitätstoilette bleibt unbemerkt. Vorausging eine von Neid vorgetragene Erzählung, in der ein New Yorker, angeregt von Ralph W. Emersons Naturbetrachtungen, alles hinter sich lässt, um auf der Suche nach einer ursprünglichen Beziehung zur Natur einen Außenposten der blutleeren Zivilisation in Missouri zu erreichen. Das Bretterbuden-Ensemble Miller’s Crossing entstand als Bisonjäger-Habitat. In der Handlungsgegenwart von 1880 gibt es da immer noch nicht mehr als Boarding House, Mietstall und Saloon. Dem Frontier-Genre haftet bereits ein nostalgischer Gloom an. Vorbei sind die Zeiten, als das massenhafte Erscheinen der Büffel die Prärie verdunkelte, den Boden beben und die Herzen höherschlagen ließ. Veteranen verbinden ihre lebhaftesten Erinnerungen mit den atavistische Stampeden der lebenden Fossilien. Sie memorieren Nachtfahrten durch Knochenfelder und apokalyptischen Kadaverkolonien. Ihre Beschwörungen kreisen um Schlachtfeste in der Steppe. 

Die Geschichte stimuliert Persephone bis zum Wahnsinn. Sie hat das Gefühl, jedes Organ sei in den Dienst der Sexualität gestellt. Persephone lockte Ned während der Pause an allen vorbei in den toten Flügel der im Mittelalter erbauten Universität. Der Spielraum ist endlos, ein gewaltiges Refugium, doch Persephone will die Enge einer wilhelminischen Toilettenkabine. Die männliche Automatik. Persephone widersteht dem Druck. Dessen technische Umleitung ist Chi Sao. Persephone kontrolliert das Geschehen. Sie erlebt, was sie erleben möchte.

Die Verlässlichkeit des Begehrens

Um ein subtiles Angebot zu unterstützen, trägt Persephone vor einem Klospiegel Lippenstift auf. Sie verschiebt den Hemdkragen so, dass es aussieht, als gäbe sie versehentlich etwas preis. Sie kalkuliert die Abweichung von ihrer Performancelinie mit einem Lustgewinn. Das Hemd gehörte Amos, mit dem sie in einer Wüste war. Persephone trägt es als Hommage. Mit Amos hat am Ende fast nichts geklappt, aber da war doch etwas ... eine goldhaltige Ader im Erz; eine Bonanza, die leider nicht ausgebeutet werden konnte.

Zum ersten Mal ist Persephone bereit, ihr suchtartiges Interesse an Ned zuzugeben. Das fällt ihr ein: die Verlässlichkeit des Begehrens. Ist es nicht genau das, was sie - in der nächsten Szene - neben Ned, in der Realität der farblosen, von einer albanischen Familie geführten Eisdiele neben dem Campus in dieser abgetakelten, ostdeutschen Hafen- und Hansestadt hält? Die Albaner berufen sich auf kalabresische Vorrechte. Albani ist ein italienischer Schlüsselbegriff. Es ist schreiend laut, niemand interessiert sich für das Katzentischensemble, dessen soziale Signatur offensichtlich ist. Unter dem Tisch bedrängen sich Extremitäten wie Kälberschnauzen an einem Trog. Du sagst das Richtige, du riechst richtig, jetzt gibt es nur noch eine Stelle, an der du keinen Fehler machen darfst. Warum eigentlich da nicht? Das kann doch auch schön sein. Plötzlich sieht Ned aus wie ein buddhistischer Abt. Mit der Ernsthaftigkeit einer Novizin wendet sich Persephone ihm zu. Ned zitiert Eribon: Emanzipation braucht Urbanität und Freizügigkeit. Er erinnert an Transvestitenbälle in New York als Magneten für heterosexuellen Voyeurismus. Subkulturen sind Erben uralter Lebensweisen. Eine Reflexion der Belle Époque und der Années folles beleuchtete die Ikonographie und Barmetaphorik der Pariser Treffpunkte, als James Baldwin in der Stadt war. In Gedanken führt Persephone Neds Finger. In Wirklichkeit braucht sie das nicht. Die Worte bilden einen Körper mit den richtigen Eigenschaften.

Was man vorab wissen muss. Persephone verbirgt ihre Entschlossenheit. Sie offenbart sich nicht in den Kleinigkeiten des Alltags. Was sie nicht will, ist ein schlecht nachgeahmter venezianischer Karneval mit Masken und Fackeln und abgenutztem Fetischkram. Sie will kein angestrengtes Klugscheißergehabe. Vorhin hat sie Ned in einer Vorlesung sagen hören: Concierge leitet sich ab von Comte des cierges – Graf der Kerzen. Das reichte für einen Moment zwischen Vorglühen und Nachbeben. Es gibt so viele leere Räume in dem alten Unikasten und sogar einen toten Trakt voller mumifzierter Mäuse. Persephone weiß, das Ned Pierre Bourdieus „Anamnese der verborgenen Konstanten“ studiert. Er ist also ein Komplize. Persephone sehnt sich nicht nach einem Komplizen. Sie will auf die richtige Weise falsch verstanden werden. Ned hört auf, sich vorzutasten. Jetzt sitzt er im Sattel. Persephones Gesicht täuscht eine leicht beunruhigte Aufmerksamkeit vor. Noch immer liegen zwei Lagen Stoff zwischen Neds suchenden Händen und Persephones Blöße. In der chinesischen Kampfkunst unterscheidet man zwischen Wu Sao und Man Sao. Wu Sao bezeichnet die sichernde Hand, Man Sao die neugierige Hand. Ned hat keine sichernde Hand mehr.

Das Timbre der Intelligenz

Bei manchen Menschen schwindet die körperliche Lust, wenn sie zu körperlich angesprochen wird. Sie wächst mit dem Einsatz von Stimme, Bildung und Intelligenz. Anders Inklinierte wirken sich mitunter zerstörerisch auf Leute aus, deren Lustzentrum mit Worten aktiviert wird. Wir reden hier nicht über Trash Talk. Die Krux dabei ist, dass irgendwann auch die Hirn… (wie erfahrene Sexarbeiterinnen sie nennen) zur Sache kommen müssen. Sie müssen sich ausziehen und sich aufeinanderlegen und dieses Programm kann ein absoluter Killer sein.

Persephone geht gerne als gut gekleidetes Aschenputtel unter die Leute. Sie genießt Situationen, die andere gähnend langweilig finden. Verführung ist eine Triebfeder ihres Daseins. Sie hat immer ein erotisches Projekt, auch in den Phasen stabiler Beziehungen. Das Rätselhafte hält sie am Laufen. Sie reagiert auf Sprache und Stimme und auf das Timbre der Intelligenz. Sie kann an öffentlichen Orten sensationelle Dinge erleben, während um sie herum nur gegähnt wird. Manchmal bewegt sie sich, als würde sie von Schleiern berührt und als gäbe es nur Fließendes und Flüchtiges auf der Welt. 

Die Rostocker Anglistin und Post-Doc-Stipendiatin Persephone und der texanische Germanist Ned begegnen sich seit zwei Tagen außerhalb ihres akademischen Alltags. Sie sitzen in einem Café am Rand des Campus, es ist trist und laut, aber das macht nichts. Die beiden sind leidenschaftlich ineinander verhakt. Wir erzählen stets, was Persephone trägt, und geben das unumwunden als Fetisch zu. Persephone trägt ein kniefreies Wickelkleid aus Seide mit Hahnentrittmuster, knackige Kniestrümpfe und kräftige Schnürschuhe. Sie spielt mit Signalen zwischen handfest und hauchzart.

Gestern Abend sind die Turteltauben zum ersten Mal erotisch auf ihre Mail-Tauschstationen gegangen. Ned reagiert auf Persephones diskrete Erkundungen eines unbekannten Terrains, als handle es sich um pure Pornografie. Persephone empfindet genauso. Beide hoffen, endlich einen Partner gefunden zu haben, der viel länger auf dem Hochseil der Erregung bleiben kann als alle Vorgänger.

Simone arbeitet gern mit Holz. Sie ist nicht ätherisch, vielmehr ganz von dieser Welt. Ihre Ästhetik verbirgt eine routinierte Abwehr von Störungen. Wer ihren Stil nicht versteht, kriegt auch sonst nichts. Persephone hat es nicht nötig, von Hinz und Kunz verstanden zu werden. Unter dem Seminartitel „Die Kunst, einen Kugelfisch zu filetieren“ könnte sie lehren, wie man das Gute nimmt, ohne sich mit dem Schlechten zu belasten.

Kugelfische sind eine giftige Delikatesse. Ihr Verzehr kann für Menschen tödlich sein. In Deutschland darf Fugu nicht zubereitet werden. In Japan gilt der Verzehr von Fugu als wichtiges Kulturgut und Luxusmahlzeit. Da lehrt man: Wenn Sie die Prinzipien beachten, werden Sie nicht nur überleben. Sie werden den Verzehr von etwas potenziell Tödlichem genießen.

Schwarzes Licht

Persephone weicht Neds Lippen aus. Mit einer Abwehrbewegung nimmt sie ihn in Besitz. Sie vermeidet das Zwangsläufige. Sie braucht eine höhere Konzentration, die immer dann verschwindet, wenn das männliche Element ungebremst die Regie übernimmt. Ned steht kurz vor einem Kontrollverlust. Persephones schwarzes Licht leuchtet in seinem Feuer. Die Lust zerreißt sie und doch befiehlt sie Ned aufzuhören.

„Nicht so und nicht hier.“

Ned will die Frau aus der Welt holen und in seine Höhle sperren. Du gehörst mir. Persephone ist gerührt von der Vehemenz. Neds Bereitschaft, wie ein Vulkan auszubrechen, verwandelt ihre Zärtlichkeit in Erregung. Angstkristalle funkeln auf den Gipfeln. Ja, sagt Persephone, obwohl Ned gar nichts gesagt hat, ja, ich habe dich verstanden und ich sage vorläufig ja.

Im nächsten Augenblick verfliegt der Rausch. Persephone und Ned streben auseinander, jeder in einen anderen Winkel. Unterwegs denkt Persephone an ihren Liebhaber mit den geringsten Einsätzen. Ben kommt mit seiner eigenen, gut versteckten und selten herausgeforderten Unzulänglichkeit nicht klar. Seine Frau hat einen Sohn mit einem anderen Mann. Sie arbeitet in der Firma des Vaters des Kindes. Ben hätte sich gern in Academia versteckt. Die intellektuelle Welt als Hort der Inkompetenz. Dafür hat es nicht gereicht. Ben arrangiert alles geschickt. In der Perfektion seiner Arrangements ist er zu seiner eigenen Leidenschaft geworden. Er geht spazieren, wenn andere mit geplatzten Rohren und anderen Alltagsproblemen zu kämpfen haben. Sein vermeidender Lebensstil führt zu seelischem Muskelabbau.

Ben dient Persephones Wintergartenromantik. Er besitzt in Zingst auf dem Darß ein Ferienhaus mit Wintergarten. Ab und zu nutzen Persephone und Ben die Suite für eine erotische Séance. Es gefällt Persephone, sich in einem Ensemble von Kübeln wie auf einem klassischen Tatort-Drehort zu präsentieren. Ben darf sie erst einmal nicht anfassen. Er darf aber seiner sexuellen Frustration Ausdruck verleihen und die Unerreichbare so kläglich wie ein Knabe im Stimmbruch besingen. Persephone trägt ein schwarzes Seidenkleid und schwarze Dessous. Keine Reizwäsche, sondern die bürgerliche Variante für den Geschäftsverkehr. An Ben reizt sie nichts mehr als seine gierige Ergebenheit. Nach einer ausgefeilten Choreografie lässt sie ihn übers Stöckchen springen. Sag Abrakadabra. Sag Simsalambim. Das kann jedes Kind. Und im Gegenzug darf mein Liebling die Schokolade direkt aus meinem Bauchnabel lecken. Ich präsentiere dir das Design meiner Intimfrisur, du musst nur noch ein paar Mal Abrakadabra und Simsalabim sagen. Später sucht Persephone die Stille an einer Ecke des Anwesens. Der Garten endet auf Klippen über dem Meer. Die Sterne spiegeln sich in der Ostsee. Persephone tastet sich zu einer Felsnase vor, von der Vorsehung informiert, dass alles gut wird. Der Wind trägt ihr den Duft von Moschusmalven zu.

Erregungsmaterial

Jemand steht nackt und bereit vor dir und es interessiert dich nicht. Ein Rock wird angehoben, du siehst, wie zufällig auch immer, den Übergang zwischen Strumpf und Schenkel, und fängst an zu brennen. Persephone lauscht den Worten ihres aktuellen Lieblingsliebhabers in einem Seminarraum, der nach Schimmel und alten Socken riecht. Der Gestank macht sich mit der Zutraulichkeit einer jungen Katze bemerkbar, die das Böse noch nicht kennt. Seit zwei Tagen existieren Persephone und Nat in einem Tunnel der sich selbst erschöpfenden Rücksichtslosigkeit. Sie sind allen anderen Partnern gegenüber rücksichtslos. Sie wurden einfach zurückgelassen, hingehalten, abgehängt und ohne jeden Anschein von Respekt aufgegeben. Persephone und Nat erschöpfen sich gegenseitig. Sie vögeln sich mit gnadenloser Intensität, ohne den Akt zu vollziehen. Sie sind so heiß aufeinander, es genügt ein Blick da, wo in kalter Gewohnheit eine tausendmal höhere Dosis eine solche Wirkung verfehlt.

Das eigentliche Ding aber bleibt die Sprache. Wenn Persephone in der Mensa textet: Ich drehe mich für dich auf den Bauch und gewähre dir in aller Ausführlichkeit den Blick auf meinen gespaltenen Mond, berichtet Ned aus dem Sprachlabor von einem fast peinlichen Moment. Laut Karl Valentin hat alles drei Seiten. Eine positive, eine negative und eine lustige. Ihm sei gerade etwas unterlaufen, dass er der lustigen Seite des sexuellen Dauerfeuers zurechnen möchte.

Persephone versorgt Ned mit Erregungsmaterial. Das ist kein Altruismus; sie überlässt der Konkurrenz keinen Zentimeter. Die Wälle sind geschliffen. Jetzt baut Persephone ihre Befestigungen aus. Ned ist in jeder Hinsicht wertvoll. Millionär von Geburt. Ein Gelehrter. Seine Art, sich zu bewegen, verhehlt seine Vorsprünge. Die Dynamik des Reichtums auf seiner Seite und die Gediegenheit von Persephones bürgerlichem Background geben der Erotik Schub. Persephone ist dies ein wenig peinlich.

Ihrer Liebe zum stummen Zwiegespräch frönt sie in allen akademischen Settings. Sie schreibt: Wir sind Meister der Manifestation. Wir schöpfen aus Phantasie und Wirklichkeit. Wir bauen etwas, das perfekt für uns ist. Rote Rosen sollen es regnen (Hildegard Knef). Für uns gibt es kein Prêt-à-porter. Wir machen es nicht unter Haute Couture. Wie willst du mich, gerade jetzt? Du weißt, ich kann nicht widerstehen. Gegen meinen Willen bewegt sich meine Hand zu meiner Muschi. Es ist ein magischer Vorgang. Das übersteigt meine Selbstbeherrschung. Ich sitze hier tropfnass in einem Raum mit dreißig Leuten. Die Phantasielosigkeit stinkt. Die geistige Armut stinkt. Selbst wenn ich mir dich auf der Toilette vorstelle, reißt der Faden der Erregung nicht. Es tut mir leid, dass ich so drastisch bin. Ich kann gerade nicht anders. Und ich will es auch nicht. Ich denke, dass das, was ich gerade erlebe, mir in vierzig Jahren mir meine Abende versüßen wird. 

Neds Antwort ist ein fader Aufguss seiner leidenschaftlichen Ausbrüche. Ist eine unangemessene, geradezu beleidigende Reaktion auf Persephones Verausgabungsbereitschaft und ihrem Willen, Ned auf die Spitze ihrer Pyramide zu stellen und da anzubeten. 

Wir machen es kurz und klären einfach auf. Seit einigen Stunden belastet Ned die späte Einsicht, dass Persephone ihn jederzeit denunzieren kann. Plötzlich erkennt Persephone den Grund für Neds Krise. Mit Vorsicht kann sie überhaupt nichts anfangen. Sie sehnt sich nach seinen Worten, so wie sie am Anfang kamen, ungefiltert, angstfrei, überflutet von Hormonen. 

„Ich lege mein Leben in deine Hand, um dich zu beruhigen", schreibt sie am späten Nachmittag. Beide sind im selben Institut an unterschiedlichen Orten. In einer halben Stunde wollen sie zusammen Käsebrötchen essen. Die Betreiberin der Cafeteria ist berühmt für ihre Käsebrötchen und ihren Kakao. Die Studierenden lieben Frau Schneider.

Lass uns spielen, bettelt Persephone in Gedanken, Nat beißt sofort wieder zu. Die Antwort kommt so prompt wie sein Vertrauen. Persephone antwortet zufrieden: „Dann machst du es genau so, und ich werde mich daran erinnern, wenn ich eine alte Schachtel bin und niemand mehr das mit mir machen will." Das schreibt sie zwar. Sie hat aber etwas anderes im Sinn. Persephone will eine ikonografische Situation mit ausgefallenem Setting ohne Penetrationssex. Während sie darüber nachdenkt, wie sie Ned am besten auf Linie bringt, treibt ihre Lust sie wieder die Wände hoch. Sie zieht sich zurück in eine Kammer im toten Flügel der im Mittelalter schlossartig erbauten Universität. Mit einem Stuhl verkeilt sie die Türklinke. Aus einer aufgerissenen Fischdose stinkt Vergammeltes. Ein halbblinder Spiegel lehnt an einer Wand. Persephone denkt an eine Zeile von Joyce... „der zerbrochene Spiegel einer Magd" schien dem Dichter die Signatur seiner Heimat Irland zu sein. Insektenmumien lagern in Spinnweben. Simone entdeckt geflochtene Sarkophage; Kunstwerke der Natur. Sie schlüpft aus ihrer Jeans und zieht ihr Höschen bis zu den Knien herunter. Sie stützt sich auf einen antiken Schreibtisch und beugt sich vor. Sie verbietet sich, sich selbst zu berühren. Stattdessen strebt sie nach einer vollständigen Manifestation. Das gelingt ihr zum ersten Mal. Persephone erlebt eine Premiere in der Rumpelkammer. Sie spielt nicht nur mit einem Gedanken. Sie gibt nicht nur Ihrer Phantasie Raum. Der Gedanke schafft eine zweite Realität, in der das Subjekt glaubt, alles erleben zu können, was Menschen möglich ist. Der manifestierte Raum sieht aus wie der reale.

Emotionale Halbdistanz

Was zuvor geschah - In einem Anfall subtiler Hemmungslosigkeit beginnt Persephone eine Korrespondenz mit einem amerikanischen Dozenten, dem sie bislang nur förmlich begegnete. Auf einem zweiten Parcours regiert sie bereits auf eine Antwort, die noch gar nicht eingetroffen ist. Sie erleidet einen süßen Schmerz, weil Konventionen ihr nicht mehr als eine förmliche Anrede erlauben. Ihre Regression platziert ein Dutzend unsichtbarer Herz-Emojis hinter Neds Namen. Persephone spürt das fremde Schreibtischfieber durch sämtliche Wände der Stadt. Es treibt ihr Verlangen an.

Neds erste Antwort - Besonders schön finde ich: „Nach einem derart seelisch tiefschürfenden Austausch war sie aus trauriger Erfahrung darauf vorbereitet, von seiner Erscheinung enttäuscht zu sein." Der Körper muss mitspielen, und sei es nur als Phantasie. Wenn der Geist die erste Voraussetzung für Sex ist, dann strapaziert die Idee das Klischee einer Beziehung à la Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Aber Simone ging gern und zeitweise sogar lieber mit Nelson Algren aus, mit dem es gewiss kein intellektuelles Vorspiel gab. Vermutlich braucht die Erzählerin, die Worte fühlt, ein doppeltes Imago. Ein furioses Gehirn, das bis auf ihr Skelett durchgreift und sie erschauern lässt wie die Heldin in einem englischen Roman aus dem frühen 19. Jahrhundert erschaudert, und jemanden, der eine Einladung in eine Eisdiele so unschuldig aussprechen kann, dass die Erzählerin sich in der Vorstellung verliert, er könne, während er über Oscar Wilde spricht, ihre Schenkel so berühren, dass sie Gefahr liefe, den Strohhalm in ihrem Eiskaffee zu zerbeißen. Fast noch bemerkenswerter ist, dass die Frau den Worten des Mannes zu folgen vermag; das ist das Ergebnis einer interessanten Spaltung. Ein kluger Kopf weiß, dass Oscar Wilde kein Meister der Kunst um ihrer selbst willen war, Stichwort L’art pour l’art, wie oft behauptet wird, sondern eine treibende Kraft der Schwulenemanzipation unter schwierigen Bedingungen. Er reüssierte als Schriftsteller und scheiterte als Mensch. Didier Eribon spricht in seinen ‚Reflections on the Gay Question‘ von ‚homosexuellen Codes‘ im Kreis um Oscar Wilde. Menschen wollen sich äußern. Repression diktiert den Text der Verbergung. Gleichzeitig entsteht ein Gegendiskurs zur Pathologisierung der Sexualität, in der Homosexualität als Verfolgungsgrund gesehen wird.

Entflammt, ja in Flammen gesetzt, schreibt Persephone umgehend zurück. Danke, Ned, für die interessanten Brücken, die du zwischen meiner verpatzten Lovestory und unseren literarischen Idolen baust.

Noch vor Mitternacht trifft die nächste Textladung ein. Persephone ist entzückt. Es müsste sie irritieren, dass sie in einem fremden Menschen so schnell so viel auslösen kann. Es irritiert sie nicht. Sie schaltet alle Lichter aus. Nur die Displays auf ihrem Tisch erhellen den Raum. Sie spürt die Essenz ihrer Lust. Eine Leere füllt sich. In einer Vorstellung nimmt sie Ned in sich auf, in ruhiger Bereitschaft ... im Oxytocin-Modus ... wie im lustvollen Halbschlaf auf einem kühlen Laken in einer warmen Nacht. Wann war sie jemals so erregt gewesen wie in der emotionalen Halbdistanz zu Ned?

Gebot der Not/Gebot der Tugend

Aurora R., die als Wanda von Sacher-Masoch berühmt wurde, erzählt in ihren Memoiren die Geschichte einer Deklassierung. Auroras Vater stammt aus einer bedeutenden Stuttgarter Familie. Seine Aufgaben als Militärbeamter erfüllt er so mustergültig, dass ihn sein Vorgesetzter, namentlich Prinz Alexander von Württemberg, seines Zeichens Kommandierender in Graz, privilegiert. Aurora schreibt, ihr Vater habe in dem Prinzen einen „warmen Gönner gefunden, der ihn seines militärischen Dienstes fast ganz enthob und eine Art Intendanten seines Hauses aus ihm machte". Nach Alexanders Abberufung bleibt sein Untergebener in Graz. Bald kommt es zu einem Ehezerwürfnis in Auroras Elternhaus. Die Tochter ertappt ihren Vater beim Tête-à-Tête mit einer Sexarbeiterin. Die Klosterschülerin ekelt sich vor dem schwülen Interesse der Beichtväter an ihren Sünden. Sie durchschaut die lüsterne Grundierung serieller Absolutionen. Die Bigotterie würde sie weniger stören, wären die Geistlichen ansehnlicher. Aurora träumt von einem schönen Mann in der Rolle des Ablass-Matadors. Die Schülerin interessiert sich für den gesellschaftlich umtriebigen Leopold von Sacher-Masoch. Der Sohn des Grazer Polizeichefs besitzt auf den ersten Blick sämtliche Vorzüge eines Junggesellen. Ihn ziert eine blendende Herkunft und ein solides Vermögen. Dazu kommt persönlicher Erfolg als akademischer und belletristischer Schriftsteller und eine verheißungsvoll große Bugwelle. Der Mann überstrahlt seine Umgebung. Aurora begleitet den Abstieg ihrer Mutter als mittellos-geschiedener Frau. Das Elend schließt sie in die Arme. Aurora wird zur Beute für die leichte Muse von Klatsch und Tratsch. Sie verfängt sich in den Fallstrecken einer vorgeblichen Freundin, die wir Frau F. nennen wollen. Frau F. war früher schön und hält sich immer noch dafür. Aurora versteht den Trugschluss. Sie ist längst alt genug, um zwischen Esprit und Verstand unterscheiden zu können. Manche Leute sind ungemein geistvoll, aber von jedem praktischen Nutzen ihrer Intelligenz abgeschnitten. Sunzi sagt: „Man kann wissen, wie man siegt, ohne fähig zu sein, es zu tun." Frau F. bewegt sich auf einer schiefen Bahn. Sie applaudiert sich selbst und verlacht die Konventionen. Von Aurora lässt sie sich katholisch unterweisen. Sie geht zur Beichte, prahlt mit Sünden und lacht sich hinterher schlapp. „Sie muss sich die Hüfte halten", schreibt Aurora, wenig begeistert von dem Gebrauch, den Frau F. von einem vertrauensvollen Umgang mit der Arglosen macht. Endlich beginnt die Mutwillige eine Korrespondenz mit dem stadtbekannten Ritter Leopold. Da jener seine sexuellen Präferenzen literarisch preisgibt, weiß Frau F., wie sie ihn zu fassen kriegt. Sie macht den bekennenden Masochisten (noch gibt es das Wort nicht) heiß und amüsiert sich über dessen schriftlichen Sublimierungen. L. geht vollkommen ungeschützt vor. Er gibt sich eine Blöße nach der nächsten. Und doch ist es Frau F., die schließlich ihren Ruf in Gefahr sieht; während Aurora für kleines Geld Soldatenwäsche flickt. Die Nähmamsell versteht es indes, als herkunftssouveräne Inhaberin bürgerlicher Spielräume aufzutreten. Solche Scharaden faszinieren. Die Heldinnen riskieren einiges beim Gesellschaftsspiel. Sie geben sich nicht leicht geschlagen. Ihre engen wirtschaftlichen Verhältnisse sind das eine. Das andere ist ihr Witz.

Gespaltener Mond

Jemand steht nackt und bereit vor dir und es interessiert dich nicht. Ein Rock wird angehoben, du siehst, wie zufällig auch immer, den Übergang zwischen Strumpf und Schenkel, und fängst an zu brennen. Persephone lauscht den Worten ihres aktuellen Lieblingsliebhabers in einem Seminarraum, der nach Schimmel und alten Socken mieft. Der Gestank macht sich mit der Zutraulichkeit einer jungen Katze bemerkbar, die das Böse noch nicht kennt. Seit zwei Tagen existieren Persephone und Nat in einem Tunnel der sich selbst erschöpfenden Rücksichtslosigkeit. Sie sind allen anderen Partnern gegenüber verbrecherisch gleichgültig. Die Unglücklichen wurden einfach abgehängt und aufgegeben. Persephone und Nat erschöpfen sich gegenseitig. Sie ... sich mit gnadenloser Intensität, ohne den Akt zu vollziehen. Sie sind so heiß aufeinander, es genügt ein Blick da, wo in kalter Gewohnheit eine tausendmal höhere Dosis solche Wirkung verfehlt.

Das eigentliche Ding aber bleibt die Sprache. Wenn Persephone in der Mensa textet: Ich drehe mich für dich auf den Bauch und gewähre dir in aller Ausführlichkeit einen Ausblick auf meinen gespaltenen Mond, berichtet Ned aus dem Sprachlabor von einem fast peinlichen Moment. Laut Karl Valentin hat alles drei Seiten. Eine positive, eine negative und eine lustige. Ihm sei gerade etwas unterlaufen, dass er der lustigen Seite des sexuellen Dauerfeuers zurechnen möchte. Persephone versorgt Ned mit Erregungsmaterial. Das ist kein Altruismus, sie überlässt der Konkurrenz keinen Zentimeter. Die Wälle sind geschliffen. Jetzt baut Persephone ihre Befestigungen aus. Ned ist in jeder Hinsicht wertvoll. Ihrer Liebe zum stummen Zwiegespräch frönt Persephone in allen akademischen Settings. Sie schreibt: Für uns gibt es kein Prêt-à-porter. Wir machen es nicht unter Haute Couture. Wie willst du mich, gerade jetzt? Du weißt, ich kann dir nicht widerstehen. Gegen meinen Willen bewegt sich meine Hand zu meiner .... Es ist ein magischer Vorgang. Das übersteigt meine Selbstbeherrschung. Ich sitze hier tropfnass in einem Raum mit dreißig Leuten. Die Phantasielosigkeit stinkt. Die geistige Armut stinkt. Selbst wenn ich mir dich auf der Toilette vorstelle, reißt der Faden der Erregung nicht. Es tut mir leid, dass ich so drastisch bin. Ich kann gerade nicht anders. Und ich will es auch nicht. Ich denke, dass das, was ich gerade erlebe, mir in vierzig Jahren meine Abende versüßen wird. Neds Antwort ist ein fader Aufguss seiner leidenschaftlichen Ausbrüche. Ist eine unangemessene, geradezu beleidigende Reaktion auf Persephones Verausgabungsbereitschaft und ihren Willen, Ned auf die Spitze ihrer persönlichen Pyramide zu stellen. Seit einigen Stunden belastet Ned die späte Einsicht, dass Persephone ihn jederzeit denunzieren kann. Plötzlich erkennt Persephone den Grund für Neds Krise. Mit Vorsicht kann sie überhaupt nichts anfangen. Sie sehnt sich nach seinen Worten, so wie sie am Anfang kamen, ungefiltert, angstfrei, überflutet von Hormonen. „Ich lege mein Leben in deine Hand, um dich zu beruhigen", schreibt sie am späten Nachmittag. Beide sind im selben Institut an unterschiedlichen Orten. In einer halben Stunde wollen sie zusammen Käsebrötchen essen und Kakao trinken. Lass uns weiterspielen, bettelt Persephone in Gedanken, Nat beißt sofort wieder zu. Die Antwort kommt so prompt wie sein Vertrauen. „Und wenn ich dich ..." Persephone antwortet zufrieden: „Dann machst du es genau so, und ich werde mich daran erinnern ...“

Verspielte Grausamkeit

Der eher untüchtige, seinem Wesen nach feuilletonistische Leopold von Sacher-Masoch liebt den Casinoton im Habsburger Empire Stil. Er pendelt zwischen halluzinierten Passagen, stupidem Schreibfleiß und erotischen Schmetterbällen. Süffiger Schmiss. Bellizistische Bonmots. Eine martialische Manier, und jede Menge Zinnsoldaten; jedes Regiment, ein aus dem Silbersee der endlosen Kindheit geborgener Schatz.

„Unter den Sachen, die mein Mann von seinem Vater mitgebracht, befanden sich einige Kisten, die seine Armeen enthielten. Die beiden Brüder hatten als Knaben leidenschaftlich Soldaten gespielt; die Freude an diesem Spiel wuchs mit ihnen groß.“

Aurora sortiert mit dem Vater ihrer Kinder die Komponenten von Spielzeugbataillonen. Das ist eine Beschäftigung, auf die dann auch sie den größten Ernst verwendet. Mit echten Soldaten spielt Ritter Leopold Billard. Aurora begleitet ihn ins Billardlokal (vor der nächsten Kaserne). Die Offiziere in Leopolds Dunstkreis überbieten sich darin, das Spiel der Frau zu verbessern. Sie charmieren die allenfalls beinah Bürgerliche und zupfen an den Schicklichkeitssäumen. Der Billardtisch lädt zu Schlangenbewegungen ein.

In der Kaserne und darüber hinaus kursieren Einlassungen zur leiblichen Vorzüglichkeit der Frau von Sacher-Masoch. Aurora bekommt davon Wind und reguliert ihre Verhältnisse, indem sie nicht mehr mitspielt. Ihr Pragmatismus besitzt die Effizienz eines Gleitmittels aus dem Themenkreis der Dissimulation. Stets findet Aurora quicke Lösungen für Miseren.

Triebverzicht als Verrat an sich selbst - Alles scheint gut, doch plötzlich reißt der Faden. Unter einer fadenscheinigen Ausrede sagt Ned eine Verabredung per SMS ab. Persephone ist schockiert. Zum ersten Mal seit drei Tagen ist die Verbindung auf dem Drahtseil der sexuellen Spannung unterbrochen. Persephone fühlt sich betäubt, zerlegt, verletzt, gedemütigt, erledigt. Sie ist einfach nur ein Häufchen Elend. Ned kann das nie wieder gutmachen. Es ist, als würde man jemanden aus großer Höhe fallen lassen. Persephone flüchtet vor ihrer Depression ins Campuskino. Studierende versammeln sich ungezwungen und vertraut im Vorführraum. Es fühlt sich an wie ein Stammestreffen. Persephone beneidet jedes einzelne Paar. Alle plaudern, rascheln und beantworten Telefonanrufe, während „Chronique sexuells d'un famille au jourdhui" läuft. Dies ist ein Film für die ganze Familie. Eine Ehefrau und Mutter machen sich Sorgen um das Sexualleben ihres verwitweten Schwiegervaters. Ihre innere Freiheit hat etwas Utopisches, und darauf zielt der Film ab: eine Familienutopie, die Wilhelm Reichs Einsicht Rechnung trägt, dass Triebverzicht ein Verrat an sich selbst ist.

Im nächsten Moment sind Persephone und Ned wieder vereint. Zum ersten Mal erlebt sie ihn betrunken. Ned war in einer Bar. Warum nicht? Persephones Erleichterung ist grenzenlos. Sie verzeiht Ned sofort alles. Es stellt sich die Frage: „Zu dir oder zu mir?" Das hatten sie noch nicht. Die Aussicht auf eine gemeinsame Nacht ... Dazu morgen mehr.

Fehler auf der erotischen Tastatur

Aus Persephones akademischen Aufzeichnungen - Zweifellos führt Leopold von Sacher-Masoch Regie. Er formt Aurora (der künftigen Wanda von Sacher-Masoch) nach seinen Vorstellungen. Leopold ist, das wird oft übersehen, Ausstattungsfetischist. Er baut Tableaus auf - auch in seinen Briefen an Aurora, die man richtig als Anweisungen für eine künftige Routine versteht.

In Leopolds erotischer Sphäre dreht sich die größte Spindel um das Setting. Der Renaissancekamin und die klassische Lektüre gehören zum physischen und psychischen Interieur. Der Schriftsteller agiert wie ein Schaufensterdekorateur, der in dicken Socken durch die Auslage wuselt. Eine Marmorvenus lässt er sagen: „Ja, Sie waren ganz verliebt in diese Toilette.“

Der Sklave schreibt seiner Herrin jedes Achselzucken vor. Auf Leopolds Algolagnie-Parcours wechselt Wanda - wie in einer Schmierenkomödie - dreimal den Pelz. Sie muss ihn zufriedenstellen. Er belehrt sie. Kunstgeschichtlich beschlagen, fällt es Leopold nicht schwer, die Kreuzungen zu eruieren, auf denen profane Motive mit ihrer Überhöhung in Einklang gebracht werden.  Auch als Gepeitschter verzichtet er auf kein Standesvorrecht. Jederzeit kehrt er den galizischen Edelmann und Gutsherr mit einer Neigung zur Pedanterie hervor. Leopold besteht auf einen getakteten Alltag und befolgt lauter praktische Vorschriften im Spektrum zwischen Ertüchtigungsspaziergang, Gymnastik und Diät.

Weiter in der Gegenwart - die Aussicht auf die erste gemeinsame Nacht bringt Persephone dazu, die Bedingungen besprechen zu wollen. Sie will nicht überrumpelt werden. Sie hasst es, wenn ein Betrunkener glaubt, er könne sie benutzen, selbst wenn sie in ihn verliebt ist. Das soll mit Ned nie passieren. Er ist ein Riese, der größte Fisch, den Persephone je an Land gezogen hat, aber das gibt ihm nicht das Recht, gewöhnlich zu werden. In Gedanken erklärt sie ihm: Ich brauche dich so sehr für ein gutes Leben. Ich bin sicher, dass du der perfekte Mann für mich bist. Aber du musst verstehen, dass ich dich nicht mehr lieben kann, wenn du einen Fehler auf der erotischen Tastatur machst. Das wird immer in meinem Kopf sein, wie der hallende Furz einer Person, von der mir übel wird.

„Ich würde dich gerne zu mir einladen", sagt Persephone, „wenn du ein Spiel mit mir spielst, bevor wir zusammen einschlafen."

Ned ist nicht auf der Höhe. Die Erschöpfung reißt und nagt an der Haut unter seine Augen. Vielleicht verlangt Persephone einfach zu viel. Hat nicht jeder das Recht, ab und zu aus der Rolle zu fallen? … Ned kommt zur Besinnung. Er schüttelt den Durchschnittstypen ab und nimmt wieder seinen Platz als Ausnahmeerscheinung in Persephones Leben ein. Im Hof ​​unter ihrem Küchenfenster streiten sich zwei Nachtgestalten. Einer nennt sich Fürst der Finsternis. Igor verwandelt das Haus, in dem Persephone wohnt, seelenruhig in eine Hehlerhöhle. Er handelt mit Sachen aus sogenannten Haushaltsauflösungen. Haushaltsauflösung ist ein Wort für Einbruch und Diebstahl.

Welt ohne Privatsphäre

Aus Persephones Aufzeichnungen - Ritter Leopold korrespondiert ausführlich in alle Richtungen. Er hält sich jede Woche einen Tag für die Perepiska frei. Das Interesse zumal der Brieffreundinnen erlebt Leopold als Widerhall seines literarischen Rangs. Das Echo der Reputation birgt die Gefahren des Sirenengesangs. Leopold zieht exzentrische Persönlichkeiten an, die Exaltation mit Genie verwechseln. Sie kompromittieren sich wie im Fieber. Aurora, von Sorgen verschlissen und der unentwegten Posaunentheatralik des Gatten bis zur Abneigung entfremdet, fungiert als Postmeisterin mit Zensurgewalt. Briefe, die ins Haus kommen, sieht sie vor dem Angeschriebenen. Sie liest dann doch nicht alles, was der Gatte verzapft. Einem Fräulein v. O., das sich bei Leopold bereits in festen Händen wähnt, antwortet sie persönlich. Der drastische Ton verfehlt nicht seine Wirkung.

Weiter in der Handlungsgegenwart - Persephone füllt Tagebuchseiten mit ihren Erlebnissen, die seltsamer nicht sein könnten. Mit den flüchtigsten Bekannten beginnt sie E-Mail-Konversationen, die oft nicht aufhören, wenn sie - jedes Mal mit der gleichen Freude - darauf hinweist, das sie eben ihren Lingerie-Status modifiziert hat, und zwar - das ist wichtig - extra für die Person, die sie schriftlich anspricht. Das Schreiben ist notwendig, um ein gewisses, keineswegs unübertroffenes Vergnügen zu destillieren. Wir reden von einer Variante. Aber sehen wir uns diesen Punkt noch einmal im Detail an. An manchen Tagen amüsiert und erregt sich Persephone in Korrespondenzen mit drei Brieffreunden. Sie könnte die Passage an einer Stelle kopieren und an zwei einfügen. Sie könnte sich viel Schreibarbeit sparen, aber darum geht es nicht. Es geht darum, jedes Mal neu zu schreiben: Ich habe gerade ... ich habe es für dich getan. Du siehst mich auf meinem Bürostuhl sitzen. Soll ich ...? Gefällt dir die Idee, dass ...? Persephone ist sich nicht bewusst, wie kompromittierend solche Mitteilungen in einer Welt ohne Privatsphäre sind, in der jeder ausgeschlafene Zwölfjährige weiß, wie er seine Nachbarn effektiv ausspionieren kann. Wenn ein Mann so unhöflich ist, dass er explizite Kommentare fragwürdig findet, hält Persephone ihn für einen Spielverderber.

Jetzt sitzt sie in einem Büro der Firma, in der sie jobbt. Sie trägt ein hautenges ärmelloses Wickelkleid mit einem verschlungenen Muster auf nachtblauem Grund. „Kunst lebt vom Zwang und stirbt an der Freiheit", sagt André Gide. Setzen Sie an die Stelle von Kunst Sex. Wer glaubt, ohne Formalisierung kalkulieren zu können, geht risikobereit in Vorleistung. Man lockt das unbekannte Wesen auf der anderen Seite des Geschehens aus seinem sozialen Schneckenhaus, indem man sich ein paar Freiheiten herausnimmt. Der Mann, mit dem Persephone gerade spricht, befindet sich auf der amerikanischen Seite des Atlantiks und hat keine Ahnung, wie das Leben in der nordostdeutschen Kleinstadt ist, in die es Persephone verschlagen hat. Gary arbeitet in einer Behörde, aber wir dürfen nicht sagen, in welcher. Im Internet kursieren Fotos von ihm. Auf einem zweiten Bildschirm sieht Persephone Gary auf einem Golfplatzfoto. Die Aufnahme zeigt Lässigkeit und Reichtum, aber auch etwas, das darüber hinausgeht... wir nennen es maritime Markigkeit.

Der gebildete Eros

G. im ersten Jahr der Pandemie - Jeder Fünfte endete im Mittelalter als Seuchenleiche. Persephone liest das in dem Sammelband „Corona und wir". Wir sehen sie an ihrem Institutsschreibtisch. Vor dem Fenster überragt eine Castanea sativa das Dach. Bei offenem Fenster greifen Zweige in den Raum. Manchmal verliert Persephone das Gefühl für äußere Begrenzungen. Dann ergibt sich zwischen dem Himmel, der Kastanie und ihr eine hochsitzartige Lage. Sie trägt ein tintenblaues Satinkleid, einst gekauft für einen Auftritt als Brautjungfer. Auch diese Ehe hat nicht gehalten. Der Hochzeit waren ein paar triste Jahre gefolgt. Die Freundin kommt immer mal wieder nach G., um sich auszuschütten. Iris genießt die Abende auf der Reeperbahn von G., einer dreihundert Meter langen Amüsiermeile mit vier Bars und einem Kult-Establishment. Darin dreht sich ein antikes Karussell. Am Ende landen die Freundinnen stets in Persephones Küche und huldigen einer milden Form des Katzenjammers.

In Erwartung des nächsten Zellfeuers sitzt Persephone am Rechner. In seinem Beitrag „Demografische Katastrophen der Menschheit" erinnert Matthias Glaubrecht, dass „Hungersnöte, Krankheiten und klimatische Veränderungen" von jeher die Menschheit begleiten. Populationseinbrüche gehören zum evolutionären Programm. Engländer sind sich heute ähnlicher als sie es vor den schlagartigen Reduktionen von 1340 und 1660 waren. Persephone gönnt sich eine Supermarkt-Mandelcreme mit Kirschkompott. Von ihr unbemerkt kommt der Himmel zu Besuch und nimmt seinen Platz im Sessel ein. Die Tür geht auf, eine Kollegin entschuldigt sich für ihr versehentliches Eindringen. Sie trägt eine Maske und bietet so einen erschreckenden Anblick, bevor sie verduftet. Die Welt rätselt. Die Koryphäen des Seuchenmanagements laufen sich erst noch warm. Shut- und Lockdown-Szenarien sind in der Erprobungsphase. Noch halten viele Leute Corona für etwas, dass nur die anderen kriegen. Westliche Experten stufen das Corona-Risiko in ihren Ländern als „mäßig" ein. Gemeinsam mit dem Rest der freien Welt kritisieren sie die Chinesen. Mit erträglicher Verspätung schaltet sich der Chatpartner ein. Er ist Engländer, heißt Mick auch als bürgerliche Person und handelt mit Rechten. Persephone ist ihm auf einer Messe vor zwei Tagen nicht bloß über den Weg gelaufen. Sie wiederholt die Spielregeln. Kein Sichtkontakt. Nur Text. Mit einem Orgasmus prämiert wird die Narration. Mick schlägt erst einmal die distinguierten Aspekte seiner Persönlichkeit nach außen. Ihm schwanen noch Unterschreitungen des zivilisatorischen Standards und andere Versäumnisse bei der letzten Begegnung. Er arbeitet sich aus der Schamphase. Er will es nicht vermasseln. Die deutsche Brillenschlange soll ihm so lange wie nötig die Stange halten. Er hat nur noch fünfzehn Minuten Mittagspause.

"What are you wearing?"

"I'm naked under a blue dress, the hem of which I'm now lifting. I'm doing this for you. I want to turn you on."

"Are you alone in the office?"

"Yes, you don't have to force yourself. We're alone and we want the same thing."

Spießerin der Unmoral

Charles Baudelaire nannte George Sand eine „Spießerin der Unmoral“. Er unterstellte ihr die Urteilstiefe einer „Gardienne“. Darüber würde Persephone kein Wort verlieren, wäre es nicht Baudelaire gewesen, der, so erklärt es Hans Mayer, „die Dialektik von Skandal und bourgeoiser Gleichschaltung im Fall George Sand“ aufdeckte.

*

Aurora und Leopold von Sacher-Masoch sind gefragte Leute. Leopold steht als Skandalautor hoch im Kurs. Die originellsten Köpfe der Epoche pilgern zu dem Schreibritter nach Graz, ohne sich an dessen bodenständigen Überspannung zu stören. Bodenständig, so formuliert Persephone, weil der räumliche Radius des Erotomanen einen stabilen Gegensatz zu seinen literarischen Ausschweifungen bildet. Das urbane Zentrum der Steiermark ist viele Jahre der Dreh- und Angelpunkt eines Autors mit europäischer Ausstrahlung.

Aurora begegnet Alberta von Maytner, die unter dem Pseudonym Margarethe Halm publiziert. Mit merkwürdigen Begründungen vermeidet die Schriftstellerin den öffentlichen Verkehr. Im Sommer ist es zu heiß, im Herbst zu kühl, im Winter zu kalt. Das Frühjahr bleibt in der Aufzählung außen vor.

Kälte macht „hässlich“. Besuch empfängt Maytner im Schlafzimmer. Ein mit Mullbahnen verhangenes Bett fungiert als pièce de résistance. So sagt es Aurora. Sie findet Maytner „noch … hübsch genug“.

Im Bett trägt die Ultrahäusliche ein „Hofkleid … (mit) ungeheurer Schleppe“.

„Ihr schwarzes Haar, das drei Tage in der Woche in Wickeln schmachten musste, war jetzt frei und flutete ihr in graziösen Wellen über den Rücken.“ 

Maytner betrachtet sich als Stammmutter einer neuen Menschheit. In ihrem Schlafzimmer empfängt sie göttliche Sendungen. Der angenehm skeptischen Aurora versucht sie esoterisch den Mund wässrig zu machen; während Leopold der Verstiegenen nach dem Mund redet. Ihm kann kein Mensch zu irre sein.

Ab und zu holt sie ein Gefühl ein, dass Persephone in Neds Gegenwart den Atem nimmt. Er sitzt an ihrem Uni-Schreibtisch. Sie steht neben ihm und betrachtet mit ihm gemeinsam die Institutslinde vor dem Fenster. Unverdrossen singt ein Amselmann sein Lied. Ohne jeden Zweifel wird Persephone nie mehr einen Mann finden, dem sie so gewogen sein kann wie Ned. Diese Einsicht zieht ihr den Magen zusammen, sie bekommt es mit der Angst zu tun. 

Sie hört sich sagen: „Ich lass‘ dich nie mehr los.“

Am liebsten würde sie fürderhin nur noch ein reizendes Bild abgeben. Persephone will ein unauslöschlicher Teil von Neds innen-weltlicher Bildergalerie werden. Er soll sie nie mehr aus dem Kopf kriegen. Für später merkt sie sich den Satz: Wir haben unsere Erregung verbraucht und sehen uns nun mit scheuen Augen an. 

Gelungene Täuschung

Manchmal cruisen sie gemeinsam in Neds restauriertem 68er-Mustang GT Fastback, Montana-grün ... und Ned sieht auch aus wie Steve McQueen als Lieutenant Frank Bullitt in der legendären Verfolgungsjagd auf den Straßen von San Francisco ... durch die nordostdeutsche Weitläufigkeit, die Persephone als Uwe Johnsons Seelenlandschaft erlebt. Sie sieht mit Johnsons Diasporablick durch die Windschutzscheibe fern. Der Mecklenburger Johnson im New Yorker Exil, der Texaner Ned auf der Mecklenburger Seenplatte ... einmal landet das Paar in einer Aue des Panketals. Persephone glaubt zu träumen, so blau liegt der Liepnitzsee in der Brandenburger Grundmoränenlandschaft. Der See füllt eine través de glaciares, eine niedliche glaziale Rinne. Buben singen böse Lieder an seinem, von urweltlichem Wurzelwerk geäderten Ufer. Ihre Bestien liebäugeln mit Fahrradfahrerwaden.

Eine Beobachtung, wie mit einem Skalpell aus dem Leben geschnitten - eine göttliche Offenbarung riss Persephones Freundin Lale einst aus dem Rinnstein und expedierte sie in die Küche des sagenhaften Vincent. Der Dinosaurier seines Fachs gehört einer Kohorte von Küchenrevolutionären an, die der molekularen Labor-Gastronomie den Weg wiesen. In der Handlungsgegenwart lässt sich der Veteran sogar in G. nur noch historisch erklären. Vincent profitiert von dem Wunsch seiner Gäste, einen Helden am Herd zu verehren. Ihr kulinarisches Halbwissen interpretiert die Restaurantküche als Raubtierkäfig mit Greifern aller Größe. Vincent spielt in diesem Szenario den König der Tiere. In Wahrheit schmeißt Lale den Laden.

So was sieht man nicht von außen. Das wäre geschäftsschädigend. Niemand fände es plausibel für die Tellerfertigkeit einer Drogenkranken, die sich täglich neu mit Rigorosität und Religion kuriert, seinen Namen auf Wartelisten setzen zu lassen und Vincents Preise akzeptabel zu finden. Der Gast zahlt für eine gelungene Täuschung. Vincent, längst vollkommen verschlissen, raucht über seinem Creuset-Equipment, der Schweiß überrennt das Donnerhaupt wie Schmelzwasser einen Stein. Asche und Schweiß fusionieren mit den Dingen in den Töpfen.

Es ist eine Schweinerei, die in einem Wunder der Suggestion zum magischen Vorgang transformiert. Nie sah ein Gast die Küche und den uniformierten Fleiß, die eiserne Routine der Mannschaft, die von Vincent manchmal wie Sklaven und manchmal wie Mitgötter behandelt werden. 

„Lass‘ uns heute Abend noch etwas machen", bittet Persephone Ned via WhatsApp, während sie die Lebensgefährtin eines anderen Liebhabers breit anlächelt. Die Frauen sitzen an verschiedenen Tischen und doch nah genug, um ihre Parfüms riechen zu können, im legendären 'Da Vincent'. Eine mörderische Spannung liegt in der Luft. Persephone kommt mit ihren Formulierungen Neds Wunsch entgegen, ihren Scharaden ein handfest-greifbares Ende zu bereiten. Persephone rührt Neds Verzweiflung, die sie heraufbeschworen hat. Er kann sich nicht sicher fühlen. Er darf sich nicht sicher fühlen. Sonst könnte er nachlassen. Er könnte seine Anstrengungen verringern; anstatt sie zu verdoppeln.

Erotisches Echo

„Warum sind wir nicht Tiere geblieben?" lässt der Dichter Thomas Brasch (1945 - 2001) eine namenlose Figur fragen. Der Fatalismus der Geschichte summt in Braschs Werk sein Lied vom Sozialismus. Der Kampf geht immer nur „um eine Niederlage". „Wer unterliegen will, muss siegen." Bitte vergessen Sie beim Lesen nicht, dass die Geschichte hauptsächlich in Ostdeutschland spielt und ihre Heldin die Tochter ehemaliger DDR-Bürger ist. 

Aus Persephones Aufzeichnungen

Zwischen Ned und mir hatte sich die Anziehungskraft längst erschöpft, als wir noch einmal zu einem Schauplatz meiner Küstenkindheit fuhren. Wir waren geimpft und maskiert. Das Pandemie-Procedere war ermüdend und kein Thema zwischen uns. In Warnemünde erinnerte ich mich an unseren Anfang so, als hätten wir alles gemeinsam in meiner Herkunftsgegend erlebt. Wir trafen einen meiner altgedienten Verehrer. In Albrechts Wohnung standen Blumen im Weizenglas. Die Blumen musste eine Frau vorbeigebracht haben. Die Vorstellung versetzte mir einen Stich. Ich widerstand dem Wunsch, Albrecht ins Gebet zu nehmen und seine Aschenbecher zu zählen. Einen hatte ich für ihn in einer Wismarer Bar eingepackt. Manchmal waren wir einfach losgefahren. Albrecht maß zwei Meter. Ein Typ wie Kretzsche Kretzschmar. In einer Schale, die ich Albrecht geschenkt hatte, vergammelte eine Avocado. Mir missfielen Streifen, die Albrecht theatralisch über die Wände gezogen hatte. Albrecht legte eine Platte auf. „Etwas Besseres hast du noch nie gehört", sagte er, und ich wusste gleich, dass er recht hatte.

Tagsüber waren Ned und ich Freunde. Wir aßen am Strand. Nachts war unser Verhältnis einfacher und komplizierter. Besser als nichts, dachte ich, so wie man stolpert. Als wir mit Albrecht nach Hamburg fuhren, wurde mir klar, dass es nie mehr gewesen war. „Ich werde nicht schlau aus euch", sagte Albrecht auf Sankt Pauli. „Wie steht ihr zueinander?" Was sollte ich sagen? Ned sagte nichts. Er trug Sachen, die ich für ihn ausgesucht hatte. Wir kamen kauend aus einem Döner- in einen Plattenladen. Albrecht wollte mir die beste Platte der Welt schenken. Angeblich war es in Moskau gerade wärmer als in Hamburg. Ned und ich fuhren nach Husum. Ich kannte wen in Schobüll. Der war nicht da. Ned sagte: „Überleg dir was.“ Also fuhren wir nach Laboe. Ich fotografierte das U-Boot am Strand. Ich hob nicht eine Muschel auf. Wir setzten uns in ein Café zu lauter (nach den Hygienevorschriften) abgekapselten Brillenkettenträgerinnen. Plötzlich fiel mir auf, dass ich seit drei Tagen nicht mehr auf dem erotischen Hochseil balanciert hatte. Ich fühlte mich vernichtet. Sollte mich am Ende mit Albrecht mehr verbinden als mit Ned? Immerhin hatten wir eine Gothic-Rave-Phase und die Strandsex-Initiation im Kohorteneinklang durchlaufen. Albrecht war mein Zeuge, als ich von der Magistrale abwich auf Saumpfade der Nebenreize. In seiner Gegenwart baute ich die ersten Kammern zur Erzeugung erotischer Echos. Er könnte mich jederzeit unmöglich machen. Sein Persephone-Archiv ist der reine Giftschrank, und doch erregt mich die Vorstellung, dass Albrecht Fotos von mir wie seinen Augapfel hütet, die mich kompromittieren.

Phonetischer Hochmut

Warum vertrauen wir? Wo wurzelt das Gefühl?

Niklas Luhmann beschreibt Vertrauen als „einen Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität". Persephone gefällt die mechanistische Erklärung.

Die männliche Perspektive

Die Verheißungen von Academia sind wahr geworden. Persephone ist jetzt eine Kongresspersönlichkeit. Sie hält Vorträge, die über ihr Fach hinaus Beachtung finden. Sie schlägt Angebote aus. Sie will in G. bleiben, Professorin werden und schließlich den Fachbereich leiten. Wie gesagt, sie entstammt einem Professorenhaushalt, für sie ist eine Universität ein wabenförmiges Gebilde, in dem sie gleichzeitig Biene und Imkerin sein kann. Zwei Konferenzen liegen zeitlich und räumlich so nah beieinander, dass Persephone zwischen den Schauplätzen zu pendeln beabsichtigt. Asim (ein Künstler, von dem noch die Rede sein wird) begleitet sie zur ersten Station. Die zweite erreicht sie allein, angeblich nach einem finalen Streit. Ich bin ihr vorausgeeilt und hole sie am Bahnsteig ab. Wir gehen sofort auf mein Hotelzimmer. Champagner lagert im Badewanneneisbad. Wir bewegen uns auf einer bewährten Route, darauf achte ich. Ich benetze Persephones Bauchnabel. Sie soll nicht glauben, dass ich ihr etwas verüble. Niemand versteht sie besser als ich. Wir kommen beide aus Rostock. Wir sind aufgewachsen mit den Erzählungen von den ersten Westreisen unserer Eltern, noch unter dem Eindruck, nicht zu wissen, „wo Italien liegt". Geprägt hat uns die elterliche Entwurzelung und Erbitterung und das Gefühl, in undurchsichtigen Verhältnissen die Fahne des Anstands auf dem Fundament einer Erziehung zur Gemeinschaftlichkeit hochzuhalten. Dazu kam die Erotisierung von Verlusten in tribalistischen Verherrlichungsszenen einer verlorenen Zeit. Persephone ist sich ihrer Liebe zu mir gerade vollkommen sicher, so wie sie sich zwei Wochen später ganz sicher sein wird, dass zwischen uns nichts mehr sein kann. Zwischen den Sätzen „Ich folge dir, hörst du?" und „Wir dürfen uns nicht wiedersehen“ liegen am Ende nur zehn Tage.

Persephones Perspektive - Du hast es so gesehen und keine andere Deutung zugelassen. Du glaubtest, alles im Griff zu haben. Ich sage dir, wie du dich wahrnimmst. Ich komme aus einem guten Stall, ich habe eine gute Ausbildung, einen guten Kopf ... Ich kenne alle und alle kennen mich. Ich hätte mehr aus mir machen können als Sportler, aber beruflich habe ich keinen Millimeter verschenkt. Das stimmt auch alles. Bloß ist das nicht mehr als eine Schliere auf der Windschutzscheibe im Vergleich mit Superpower-Verbindungen. Menschen wie ich führen zwei Leben. Einerseits sind sie in der Gesellschaft und tragen sich da so vor, dass manche denken, was für eine geile ... Alle registrieren den hohen Status, den selbstbewussten Auftritt, die teuren Klamotten. So oder so triggert sie der phonetische Hochmut. Sie vernehmen die Appelle der Hochsprache und stehen unbewusst stramm. Sie sind Untergebene von Geburt. Das wird ihnen nie klar. Sie sterben mit einem falschen Gefühl von Gleichheit.  Es tut mir nicht leid, das sagen zu müssen. Du hattest nie eine Chance.

Data Mining

Persephone hat nicht richtig verstanden, was Mick beruflich macht. Bis eben hielt sie ihn für einen Rechte-Händler. Jetzt erfährt sie, dass er nicht-kinetische Waffen baut. Sie ist vollkommen overdressed in dem griechischen Kiez-Asyl bei ihr um die Ecke. Das ist ein Ort zwischen Wärmestube und Spielplatz. Ein öffentliches Wohnzimmer für die prekäre Nachbarschaft. 

„Um eine nicht-kinetische Waffe zur … Dekonstruktion (einer) allgemeinen Wahrnehmung zu entwickeln, muss man zuerst genau wissen, was Menschen motiviert“, erklärt Mick. Er unterscheidet die Nutzlast von Träger- und Targeting-Systemen. Im Informationskrieg ist die Nutzlast nicht kinetisch wie etwa der Sprengstoff einer Rakete. Sie kann ein Gerücht sein, das mit einem mehrheitsfähigen Narrativ koinzidiert. Jemanden unanständig, zynisch, misogyn und homophob zu nennen, entspricht dieser Kombination von Mutmaßung und Kultur.

Aus Micks Aufzeichnungen – An manchen Tagen nahmen wir zehn Millionen Dollar ein. Nicht nur Akteure der Trump-Liga beschworen uns, ihr Geld zu nehmen. Wir waren so übersteuert, dass wir es nicht nötig fanden, jedem etwas anderes zu erzählen. Wir unterstützten feministische Kampagnen, während wir gleichzeitig Evangelikale im Kampf gegen die gleichgeschlechtliche Ehe aufrüsteten. Notdürftig maskierte russische Regierungsstellen wollten wissen, was Leute in Ohio oder Indiana von Putin hielten. Jedes Dorf wurde global gedacht. Wir entdeckten pro-russische Hillbilly-Nester irgendwo in Kentucky. Es gab keine traditionellen Polit-Plattformen mehr. Milieuanalysen halfen kaum, Übereinstimmungen zu verstehen. Wir befragten Wähler der Liberaldemokraten. Da fanden zum Beispiel ein Landwirt in Norfork, dessen konservatives Repertoire offensichtlich erschien, mit einem fashion-visionären Kombattanten im Kulturkampf von Shoreditch und ein Professor in Cambridge auf der Präferenzschiene zusammen. Aber was verband sie? Ich mache es kurz. Tatsächlich einte sie ihr psychologisches Profil. Alle drei waren offen, exzentrisch und verbohrt. Offen übrigens in der Kombination mit eher unverträglich.

Wir mussten lernen, geo- und demografische Informationen neu und vorderhand paradox zu verknüpfen. Gegensätze und Gemeinsamkeiten verbargen sich hinter den alten Hauptmarken, die ihre basale Aussagekraft im Spektrum von Stadt – Land, reich – arm, gebildet – ungebildet etc. eingebüßt hatten. Der gemeinsame Nenner war die Betrachtungsweise. Wir erhoben sie zur Geschäftsgrundlage. Wie funktioniert Data Mining? Wie viel psychologische Manipulation steckte hinter der Wahl von Trump und dem Brexit-Referendum? Es war ein Zusammenspiel von Facebook, WikiLeaks, russischen Diensten und Hackern aller Gewichtsklassen. Identität ist eine Ware im digitalen Datenhandel. Wir tanzen alle nach der Algorithmen-Pfeife. Ein Smash Point war, einen Kanal schiffbar zu machen, der politisch noch nie genutzt worden war. Wir starteten eine Graswurzel-Revolution als Basis für basales Engagement. Man konnte sich mit einer kleinen Sache ohne nennenswerte Reichweite einklinken und wurde zielgruppengerecht versorgt.

Blowback

„Die sanfte Bigotterie geringer Erwartungen.“ - George W. Bushs Redenschreiber Michael Gerson soufflierte seinem Chef die Formulierung zur Herabsetzung der Demokratischen Partei. Deren altruistische Agenda übertreibe die Fürsorglichkeit und leiste dem sozialen Versagen Vorschub. 

Was zuvor geschah - Persephone hat eine Affäre mit dem Londoner Data-Miner Mick. Bei jeder Gelegenheit landet er in Rostock-Laage, wo ihn Persephone in Neds klassischem Ford Mustang abholt. Im Augenblick befassen wir uns mit Micks Aufzeichnungen aus der Goldrausch-Ära der Social-Media-Wahlmanipulationen. 

Mick erkannte, dass Politik und Mode identische phänomenologische Eingänge haben. Die Gemeinsamkeiten bestimmen Zyklen von Kultur und Identität. Das sind Trends, deren Ästhetiken signalhaft das Verhalten steuern. Ich assistierte beim ersten Obama-Wahlkampf. In New Orleans analysierte ich migrantisch geprägte Stadtteile. Viele People of Color erklärten, dass sie sich nur deshalb nicht für die Republikaner registrieren lassen würden, weil sie „echte Konservative“ seien. Ihr Standardspruch: Vielleicht trage ich einen Latino-Namen, aber ich bin Patriot im Geist der US-amerikanischen Verfassung. Diese Leute warfen den Demokraten Arroganz vor. Den Vogel schoss eine zum Islam konvertierte Argentinierin ab. Sie trug einen Hidschab, während sie erläuterte, warum Obama für sie nicht infrage kam.

Wir kaperten reale Existenzen mit künstlicher Intelligenz – der Präsidentschaftskandidat ließ Daten sammeln; man hatte ihm erklärt, dass die Wählermobilisierung von der Datenmenge abhängt: eine Umschreibung der Behauptung, dass die richtige Datenverwaltung Demokraten erzeugen würde. Man kreierte den Meinungsumschwung. Das Microtargeting der Obama-Gruppe trat die Privatisierung des öffentlichen Diskurses in den Vereinigten Staaten los. Die Mikrotargeting-Haupteffekte, Analyse und Manipulation, werden von dem US-amerikanischen Zweiparteiensystem begünstigt. Da herrscht Dualität an allen Fronten. Unser Wunsch nach Anerkennung ist ein Rohstoff der Datenindustrie. Facebook zeigt den nackten Amerikaner als Hominiden im digitalen Dschungel.

Dann kam Trump. Unter seiner Führung vollzog sich eine Verschiebung der Macht aus den Lagern der Legitimation in den viralen Untergrund. Bereits im August 2014 verfügte meine Firma über den Informationswert von annähernd neunzig Millionen Facebook-Konten, um damit ohne Mandat und Aufsicht Geld & Politik zu machen. Datenkriminalität ließ sich kaum feststellen. Trump überlebte den Vorwurf, via Landesverrat Präsident geworden zu sein, vermutlich nur, weil die anglo-amerikanische Intelligence Community ein Blowback* vermeiden wollte.

*„Als Blowback (englisch für Rückstoß) wird in der Fachsprache der Geheimdienste der unbeabsichtigte Effekt bezeichnet, bei dem inoffizielle außenpolitische Aktivitäten ... später negativ auf deren Ursprungsland zurückfallen.“ Wikipedia

Digitaler Kolonialismus

Als Marktforschungsinstitute getarnte Militärdienstleister erledigen für Regierungen die Drecksarbeit. Geschieht dies in Afrika, ergeben sich Beispiele für digitalen Kolonialismus. Korrupte Regimes erlauben die Auswertung sämtlicher über Mobilfunkanbieter und soziale Medien generierten Daten, um das Wahlverhalten der Bevölkerung zu ihren Gunsten zu manipulieren. Die illegalen Wahlkämpfe finanzieren sie mit Steuern.

Beta Uprising

Den in einer Dauerentladung ewig toxischen Beta-Männchen-Zorn will Steve Bannon melken. Beta-Typen gibt es in allen Lagern. Das Beta-Merkmal wirkt sich gravierender aus als alle Präferenzen. Bietet man der global aktiven Gruppe Gelegenheiten sich abzureagieren und aufzuwerten werden ihre Akteure, wie an Fäden gezogen, unter dem entsprechenden Banner marschieren. Bannon versteht das Phänomen als Vulgärpsychologe. Mick weiß, wie die Kampagne zu führen ist. Beide sind Virtuosen der Verfügbarkeitsheuristik.

Was zuvor geschah – Persephones englischer Liebhaber Mick ist ein Master of the Universe 2.0. Er zählt zu den Dompteuren der Datenkraken. Der weltweit agierende Data-Miner liebt es, in dem beschaulichen nordostdeutschen Hanse- und Universitätsstädtchen mit Persephone um die Häuser zu ziehen und auf Dachterrassen das maritime Flair in baltisch blauen Sommernächten zu genießen. Morgen wieder mit erotischem Streiflicht.

Mick verläuft sich in den Labyrinthen daten-neuronaler Verknüpfungen. Da ihm kaum einer folgen kann, erreicht ihn auch keine Kritik. Sich selbst kann er nicht regulieren. Das Glück des Pioniers, dessen Rakete nicht gleich beim Start explodiert ist, gestattet ihm keinen Rückzieher. Berauscht von der Droge Erfolg tastet sich Pfadfinder Mick vor. Er bewegt sich allein in der Neuen Welt unserer Zukunft so ungehemmt wie die Navigatoren der Neuzeit sich im neuweltlichen Dschungel bewegten.

In Prozessen der Verfeinerung seiner Instrumente stellt sich Mick die Frage: Gibt es Leute, die schwulenfeindliche Kirchenorganisationen unterstützen und (denken Sie jetzt bitte nicht trotzdem) in Bioläden einkaufen? Der Analytiker besucht eine Frau, die Homophobie mit Christentum und Yoga kombiniert. Sie verwendet eine Reihe „mentaler Abkürzungen“, die sie in die gesellschaftliche Mitte zurück katapultieren; dahin, wo die Leute vor Fox News auf der Couch am Rad ihrer Wut drehen. Dabei erwerben sie eine Gruppenidentität an ihren Interessen vorbei. Kritik an reaktionären Positionen und deren Repräsentanten betrachten sie als Angriff auf ihre Identität.

Auch Mick dient dem Kolonialismus. Ohne Ausnahme zielen seine Missionen auf die Entmündigung der Massen. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung gibt Informationen für Like-Tand nicht anders preis als einst die sogenannten Naturvölker ihr Land preisgaben.

„Now I’m free. I’ve got my hands back on my weapons … I am definitely going to crush the opposition. There’s no doubt.“ Steve Bannon nach seinem Gastspiel im Weißen Haus.

Ehrenvoller Rückzug

„Die Liebe kennt keine Tugend, kein Verdienst, sie liebt und vergibt alles, weil sie muss." Leopold von Sacher-Masoch 

Was zuvor geschah - Die Philologin Persephone Pechstein analysiert das Werk der - als Urmutter aller Dominas falsch wahrgenommenen - Schriftstellerin Wanda von Sacher-Masoch und weist nach, dass Wanda, die in Persephones Aufzeichnungen taufnamentlich Aurora genannt wird, von den sexuellen Präferenzen ihres Mannes angeödet und mitunter auch angewidert war.

Sie begehen ihre Hochzeit unter vier Augen, gültig nur vor Gott und den Richtern ihrer Herzen. Interessant bleibt, wie manipulativ beide aufeinander einwirken. Aurora präsentiert sich als zwar verheiratete, doch in Scheidung und deshalb wieder bei der gleichfalls geschiedenen Mutter lebende Frau. Sie selbst spricht von einem Märchen. „Das Märchen von meiner Ehe". Sie weicht nicht ab vom Kurs falscher Angaben. Sie hält fest an der Legende, um Leopold nicht zu überfordern. Vielleicht könnte man hinzufügen: Um ihr Blatt nicht zu überreizen. Aurora glaubt nicht an die Haltbarkeit der Schwüre ihres Pseudogatten. Leopold wirft sich ihr zu Füßen, doch zugleich belehrt er sie in allen Fragen. Er zeigt sich demütig, schreibt Aurora aber vor, wie sie seine Demut entgegenzunehmen hat. Die Pelze, in denen sie sich zeigen muss, sind Requisiten; Gebrauchsgegenstände einer detailreich kanonisierten Praxis.

Aurora wirkt wie eine Schauspielerin in Leopolds Stücken mit. Ihre Dominanz ist so fadenscheinig wie ihre Alltagskleider. Während sich Leopold in seiner Prosa als solventer Edelmann spreizt, ist er in Wahrheit eher knapp bei Kasse; wenn auch - zunächst zumindest - gut betucht nach den Maßstäben der ins Elend gefallenen und mit Leopolds Hilfe ins bürgerliche Lager zurückgekehrten Aurora. Aus Dankbarkeit will sie Leopold die Möglichkeit „eines ehrenvollen Rückzugs" bieten.

„Ich war mit allem, was er sagte, einverstanden, denn ich glaubte nicht an diese Heirat ... ich wünschte sie nicht einmal. Er war zu oft verlobt gewesen ... Ehrlich und gewissenhaft in seinem Geiste traute er sich mehr zu als sein Temperament und seine Phantasie halten konnten. Ich war entschlossen, mich ihm hinzugeben, aber ich wollte in seinem Leben nur eine schöne Episode sein."

Im letzten Augenblick eines gesellschaftlichen Aufschwungs zieht das Paar nach Wien. Rasch muss Aurora erfahren, dass sie ihren überfallartigen Erfolg als Autorin lediglich einer gnädigen Stunde verdankte. „Es war eine außerordentlich günstige Zeit für literarische Produktion gewesen ... 1872, das Jahr vor dem großen Krach, die Zeit, in der alle Welt riesig in Geld machte und neue Zeitungen wie Pilze aus der Erde schossen". 1873 platzt die Blase. Die Wirtschaft fährt in den Keller. Leopold verliert die feuilletonistische Festanstellung, wegen der Aurora und er nach Wien gekommen sind. Eine Pleitewelle überschwemmt alle möglichen Erwerbsgelegenheiten. Aurora „lernt den Weg ins Wiener Leihhaus kennen".

Briefgeheimnis

„Ich möchte nur noch für die Ekstase leben. Die kleine Dosis, die gemäßigte Liebe, die Halbschatten lassen mich kalt. Ich liebe das Außerordentliche, Briefe, dass der Postbote davon einen steifen Rücken bekommt ... Sexualität, dass die Thermometer bersten." Anaïs Nin

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„Das stimmte genau zu dem, was mir Sacher-Masoch selbst über sein gegenwärtiges Leben schrieb, und da er mir in seinen Briefen versicherte, dass die Korrespondenz mit mir ihm alles ersetze, was er bisher an Zerstreuungen gehabt habe, war ich nahe daran, mir einzubilden, dass ich Einfluss auf ihn gewonnen habe." Wanda von Sacher-Masoch

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„Die Briefgattung, die sich in dieser Zeit entwickelte, war die Zeitung unserer Zeit, oder vielmehr die literarische Zeitschrift, die sich fast direkt aus der gelehrten Korrespondenz entwickelte. Das Briefeschreiben war ... eine Kunst. ... Briefe wurden in der Regel in der Absicht geschrieben, sie später für ein breiteres Publikum zu veröffentlichen, oder jedenfalls in dem Wissen, dass der Adressat sie anderen zeigen würde." Johan Huizinga

Im Vergleich zu der schriftlichen Vehemenz vergangener Zeiten herrscht heute die Regression der verstockten Diskretion. Die Kunstform Brief adelt das Begehren nicht mehr. Leopold von Sacher-Masoch hielt sich jede Woche einen Tag für seinen Schriftwechsel frei. Dabei zeigte er sich vollkommen ungeschützt. Brieffreundinnen wähnten sich verlobt in Anbetracht der formulierten Freiheiten und den geschliffenen Niederlegungen der Förmlichkeitsbastionen. Denken Sie an Kafka, der vermutlich nur schriftlich lieben konnte.

In der Handlungsgegenwart unserer Geschichte gibt es kaum noch jemanden, der unbefangen erotisch korrespondiert und eine schriftliche Erweiterung seiner Intimsphäre vom Briefgeheimnis ausreichend geschützt hält. Allein Persephone verweigert der Vorsicht alle Rechte.

Man kann sämtliche Achttausender seines persönlichen Sex-Himalaya erklommen haben und doch die höchste Erfüllung verfehlen, weil sich ihre Voraussetzungen im Nebel verbergen. Vor langer Zeit erwachte Persephone eines Morgens mit der Erkenntnis, dass das Entscheidende für sie das Explizite ist. Der größte erotische Reiz liegt in der Sprache. 

Überall drohen die Fallstricke des Mechanischen. Ein falsches Wort, dessen Redundanz offenbart, wie unverbindlich der Sprecher zur Sache kommt, verkürzt die erotische Startbahn so, dass Diana nicht abheben kann.  

Ein wortlos durchgeturnter, orgastisch finalisierter Akt bleibt eine trostlose Angelegenheit. Das düpiert doch den gesunden Menschenverstand, dass etwas öde sein und trotzdem mit einem Orgasmus enden kann. Die Lust hat ihr eigenes Alphabet, jeder muss noch einmal von vorn anfangen, sobald er sich selbst gegenüber persönlich werden möchte. In einem bettwarm-schläfrigen Augenblick im ersten pandemischen Sommer erwacht Persephone neben dem englischen, die Gin Tonic-Sünden der letzten Nacht traulich ausdünstenden Data-Miner Mick. Persephone berührt sich. Sie schmiegt sich an und spürt Micks Erwachen an ihrem Hintern. Die Mittellage zwischen Onanie und Beischlaf liefert Lust on Demand.

Der perfekte Grieche

Aurora-Wanda von Sacher-Masoch weist das Ansinnen eines theatralisch vor dem Gatten vollzogenen Ehebruchs als Zumutung von sich. Während Leopold sie aufdringlich darum bittet, einen ständigen Besucher namens Staudenheim als Liebhaber in einer Cuckold-Konstellation in Betracht zu ziehen. Ihm schwebt ferner der „schönste Mann“ von Bruck als Erfüllungsgehilfe seines voyeuristischen Begehrens vor.

Der Provinzcasanova, obwohl „nur" Förster, erscheint aristokratischer als die höchsten Würdenträger. Leopold erkennt in dem aufgetakelten Schrat den perfekten „Griechen“. Sein Ideal, die penetrant besungene Venus im Pelz, degradiert Leopolds Alter Ego Severin aka Gregor, indem sie ihn zum Zeugen des Geschlechtsvergnügens mit einem Griechen macht. Die literarische Phantasie soll Wirklichkeit werden, um die schriftstellerische Produktivität anzukurbeln. Wir reden hier über eine Vierkopplung von Passion und Pression. Leopolds Einkünfte beschränken sich auf Honorare. Fällt ihm am Schreibtisch nichts ein, verdient er nichts. Trocken bis fast auf den Grund wringt er seine Obsessionen aus. Er beschwört erschöpfte Dämonen. Der profane Alltag kränkt den Fulminanten. Einem Kritiker, der eine Venus im Pelz in steter Reichweite des Autors wähnt, widerspricht er:

„Wäre diese Frau in meinem Leben, dann wäre sie nicht in meinen Büchern.“

Wie soll er ein großes Publikum unterhalten, wenn ihn selbst nichts unterhält. Anders gesagt, Aurora erfüllt ihre Aufgaben als Domina nicht zufriedenstellend. Leopold setzt sie massiv unter Druck. Er deutet ihre Verweigerungen als Verstöße gegen die Gattenpflichten.

„Du meinst wohl, ich könnte Novellen schreiben, wie du Strümpfe strickst? Ich brauche zu meinen Arbeiten Stimmungen, Anregung. Was mich anregt, weißt du. Wenn du willst, dass ich für dich und deine Kinder Brot verdiene, dann kannst du doch auch etwas dazu tun."

Leopolds Obsessionen lassen ihm und Aurora-Wanda keine Ruhe. Im Kindbett bis auf den Tod ermattet muss die Gattin auf ein Inserat antworten, in dem ein Mann - in den Verhüllungen der Epoche - bürgerlichen Ehepaaren ein frivoles Angebot unterbreitet. Er präsentiert sich als finanziell unabhängiger und „energischer" Liebhaber.

Leopold ist deswegen ganz aus dem Häuschen. Seit Jahren drängt er Aurora, ihn zum Geschlechtsverkehrszeugen mit einem virilen, ihm ganz entgegengesetzten Mann zu machen.

Der energische Liebhaber reagiert postwendend. Er heißt Nikolaus Teitelbaum. Leopold schlägt Purzelbäume der Begeisterung. Aurora soll nur schnell gesund werden, um den Nikolaus schleunigst empfangen zu können.

Leopold vertreibt sich die Zeit, indem er mit der Hebamme ringt. Sie muss bei den Übungen Pelze der Gnädigen tragen. Wieder verlangt Leopold von Aurora Zustimmung und Anteilnahme. Er will sich hemmungslos ausleben, und Aurora soll darin ihr Vergnügen finden.

Die Poesie des Begehrens

Eine Unzufriedenheit, die sich ihre Themen sucht. Gezügelte Narration - Persephone verspürt den Wunsch weiterzugehen, mehr und drastischer zu erzählen. Sie sitzt an ihrem Institutsschreibtisch und schaut in die Krone ihrer Kastanie. Sich in ihren Geschichten zurückzuhalten und rechtzeitig zurückzuziehen, wie bei einem narrativen Koitus interruptus löst kleine Verstörungen aus. Das schriftliche und mündliche Verlangen überwuchert die Notausgänge und Sichtblenden und das Discount-Procedere der Schicklichkeit. Leute, die bis zum Orgasmus so wenig Staub wie möglich aufwirbeln wollen, sind Persephone ein Gräuel. Nirgendwo gibt es mehr engagierte Verbergung als da, wo ihre Lust von verbaler Deutlichkeit abhängt. Dem Banalen einen Kranz flechten und es kunstvoll mit dem Höhepunkt zu verweben ist ein Liebesdienst, den sich Persephone selbst erweist.

Persphones Hass auf Leute, die in der Zeitung nachgucken, was sie fühlen sollen. Das Ausbringen der Wörter als einer Notwendigkeit der Lust. Die sorgfältigste Komposition des Obszönen mit der Poesie des Begehrens. Immer wieder fängt Persephone von vorn an. Ihrem amerikanischen Chatpartner Gary schreibt sie nebenbei: Ich trage ein asymmetrisches Seidenkleid von Balenciaga aus Seiden-Jacquard in hellem Cyanblau. An anderer Stelle führt sie aus: Leopold von Sacher-Masoch ist über seine biografische Person hinaus eine Spielfigur des Habsburger Biedermeiers. Seine Obsessionen haben die Sprengkraft von Feuilletons. Ihr psychoanalytischer Steilvorlagencharakter lässt sich nicht verkennen. James Joyce nahm an Leopold von Sacher-Masoch Maß, als er seinen Leopold Bloom als Prototyp eines lächerlichen Mannes schuf. Im „Ulysses" verkörpert Bloom die Kehrseite des jugendlich drängenden Stephan Dedalus. Stephan altert um den Preis seiner seelischen Schönheit. Dass sich der Edle im Läppischen inkarniert, entspricht einer göttlichen Strafe.

Leopold schwelgt in eingebildeten Krankheiten. Er markiert den Mondsüchtigen. Theatralisch durchläuft er Panikattacken und Weinkrämpfe. Übertreibungen sind als literarische Produktionsmittel sicher vor jeder Kritik. Leopold hält Aurora in Atem. Sie muss dem Durchgeknallten alles geben, so wie er alles der einen Sache zuschlägt, aus der er Kapital zu schlagen vermag.

Was dem Text dient, geht vor. Braucht es dazu ein Bauernmädchen im Pelz, bleibt Aurora nichts anderes übrig, als dem ausgelaugten Begehren ihres Mannes einen häuslichen Akzeptanzrahmen zu geben. Sie darf das Genie nicht vor den Kopf stoßen. Dessen Wahnwitz unterliegt nicht den üblichen Bewertungen. Der Wahn gehört zur Kunst- und, was schwerer wiegt, zur Erwerbssphäre.

Im August 1876 verfügt sich die Familie nach Frohnleiten. Die Sacher-Masochs quartieren sich im ehemaligen Forsthaus ein. Sie zählen zum illustren Zirkel einer Prä-Belle Époque-, aka Fin de Siècle-Gesellschaft im Kurrausch. Frau Gomperz, unumstrittene Herrscherin der Sommerfrische, residiert im Schloss Weyer, einem barock aufgemotzten Trutzkasten aus dem 13. Jahrhundert.

Kindischer Gatte

Aurora-Wanda von Sacher-Masoch leidet unter ihrem „kindischen“ Gatten. Leopold missbraucht die redliche Kindlichkeit seiner Söhne, um expressiv infantil zu sein. Er jagt seine Schmetterlinge des Irrsinns auf einer philosophischen Grundlage. Die Ehe erachtet er als ein Experiment der Modernität. Folgt ihm seine Frau nicht in blindem Gehorsam, wirft er Aurora vor, ihre innere Freiheit an einen Nagel der Konventionalität gehängt zu haben.

In der Sommerfrische sucht Aurora einen Freiraum in solistisch-taufrischen Waldspaziergängen. Eines Morgens kommt es zu einer Wiederbegegnung mit Ferdinand von Saar.

„Der stille Charakter seiner Kunst, die Zurückgezogenheit seiner ganzen Art hat wohl das Ihre dazu getan", dass man von Saar zu verkennen geneigt war (Heinrich Spiero). Von Saar überlebt als Protegé der Gönner-Dynastie Gomperz. Leopold spekuliert über die Eignung des Kollegen zum Griechen.

„Er hat ganz das Äußere zu dem Griechen ... allein er ist für diese Rolle viel zu sehr Poet.“

Leopold erkennt in manchem Mann den perfekten Griechen. Seine Venus im Pelz degradiert im Roman Leopolds Alter Ego Severin aka Gregor, indem sie ihn zum Zeugen des Geschlechtsvergnügens mit einem Griechen macht. Die literarische Phantasie soll Wirklichkeit werden, um die schriftstellerische Produktivität anzukurbeln.

1881 heiratet von Saar Melanie Lederer (1840 - 1884). „Drei Jahre später endete die Ehe tragisch mit Melanies Selbstmord", schreibt Dora Kvarantan. In ihren Aufzeichnungen äußert sich Aurora abfällig über „ein Faktotum, ein ältliches, für ihren Beruf ganz besonders begabtes Fräulein, welches beständig auf der Jagd nach distinguiertem Wild“ ist. In der Gegenwart von 1876 inspiziert Melanie Kurgäste bei deren Ankunft am Bahnhof. Sie „beschnuppert“ die Anreisenden auf der Suche nach hoffähigem Publikum.

Aurora ist mit einem Mann der Stunde verheiratet. Man reißt sich um Leopold sogar in Frankreich. „In der Opinion nationale erschien eben sein Roman Die Ideale.“ Die literarische Welt hebt Leopold auf eine Stufe mit Lord Byron. Die größte Schauspielerin der Epoche, Sarah Bernhard, soll die Hauptrolle in einer Dramatisierung der Venus im Pelz übernehmen. Unter den in Fronleiten kurenden Verehrern des Schreibritters tummelt sich auch der republikanisch-revolutionär gestimmte Marquis de Rochefort-Luçay (1831 - 1913). Es gibt Leute, die in dem streitlustigen Feind von Napoleon III. (bürgerlich Charles Louis Napoleon Bonaparte, 1808 - 1873) den nächsten französischen Staatschef sehen. Der käsige Kaiser belohnt schlecht dichtende Lobhudler und lässt Balzacs Schinken unter den Tisch des Freiverkäuflichen fallen. Flaubert und Baudelaire haben Ärger mit der Zensur. Sie verteidigen die Moderne gegen eine kapriolende Restauration. Die Kaiserfrommen sind vorsätzlich antiquiert. Flaubert bezeichnet den Nationaldichter Pierre-Jean de Béranger als „dreckigen Bourgeois". In diesem Kulturkampf träumt Leopold im Tross des Fortschritts. Er ist ein Überwinder im Schlafrock.

Sprachmeister

Aus Persephones Aufzeichnungen

Licht kroch über Fliesen. Es gab den Fensterkreuzen sakrale Schärfe. Es schien sie zu verstärken. Ich schloss die Augen, um das Wunder meiner Existenz wie ein Parfait auf Schäumen auszukosten.

„Träumen wir?" fragte Goya. Als Leiter des Englischen Seminars hatte er Anspruch auf einen Meistertitel. Der erste Philologe auf einer besoldeten Dozentenstelle für neuere Sprachen an der Universität von G. firmierte als Sprachmeister. Englisch stand erst seit 1837 auf dem Lehrplan. Die neue Sprache führte lange das kümmerliche Dasein eines Orchideenfachs in der Ritterburg. Geharnischte Gymnasiasten trieben wilde Späße in den Randgemarkungen der Stadt. Da lagen Wüstungen in Schwermut brach. Zerfallene Kirchen - in Ruinen ging der akademische Nachwuchs auf Sauenhatz.

Glimmer in der Luft, wie von Hand gewoben. Leuchtende Spinnweben. Chris Rea sang Road To Hell, seine Gitarre heulte koyotisch, meine Mutter hörte sowas. Ich fand mich beneidenswert in meiner Lage und warf mir vor, dem Glück mit Ängstlichkeit die Sicht zu nehmen. Frau Unzufrieden betrieb Wegelagerei. Wo sie nicht zur Stelle war, wartete Missmut. Lale schalt mich sauersüchtig. Sie hatte schon einige Anschläge auf ihr Leben vermasselt. Wenn wir gemeinsam badeten, sah ich die Narben. Ihr Nabel war gestülpt. Ich fand sie martialisch. Sie erschien mir wie eine Schiffbrüchige, die ihre Seenot genoss. Ein Spitz schoss ins Bad. Er überrannte ein Paar Winterstiefel. Die trug Lale auch im August. Der Spitz gehörte dem Mansardenmann. Nachts warf er Müll aus dem Fenster. Das Haus verließ er nie ohne sein Leergut. Wieder fertigten wir eine Liste unserer guten und schlechten Eigenschaften an. Ich schrieb mir Mut und Zuverlässigkeit zu. Ohne Ziel erschien meine Eifersucht unglaublich. Lale fand sich besonders begehrenswert. Sie kreidete sich Besitzdenken an. Das hätte ich auch gekonnt. Wir tranken aus einer Flasche. Für Tee war es schon zu spät. Auf der Flasche stand del giorno. Lale schenkte Ricard nach. Der Fernseher lief, vermutlich war das der letzte Schwarzweißapparat in der Stadt. Wir sahen einen französischen Film aus den 1960er Jahren. Wie passend, dachte ich. Lale kannte die Namen der Schauspieler. Einer hieß Lino Ventura, ich notierte das. Der Name kam mir dinosaurisch vor. Lale behauptete, ihr Vater sei Ventura in Cinecittà begegnet. Da war Lales Vater ein von der Straße geholter Komparse gewesen. Ein deutscher Student in Rom. Verliebt in ein lateinisches Rapunzel ... hängen geblieben am Zopf ... hingehalten, abgewiesen und dann doch erhört. In Lales Familienroman konzentrierte sich alle Dramatik in dieser Episode. Inzwischen sammelte ihr Vater preiswerte Künstler. Von jeder Neuerwerbung sagte er: „Das trägt doch ungemein bei".

Ich schrieb weiter fleißig von Hand. Mit ihren Eselsohren, ihren handschriftlichen Zusätzen, den entschlossenen und den nachdenklichen Streichungen und allen Glasfuß- und Glasbodenstempeln besaßen meine Aufzeichnungen einen unübertragbaren Wert. Dazwischen geschoben hatten sich Kontoauszüge, Wäschereizettel, Stoffproben, mütterliche Ermahnungen und ausgerissene Zeitungsartikel. Ich archivierte alles. 

Sakrale Patina

Persephone kann jetzt nicht noch ein Schinkenbrot essen und dann ins Bett gehen und unter der Decke mit den Zehen wackeln. Sie aktiviert Ned und unterbreitet ihm einen Vorschlag mit genug Opulenz, um als Regisseurin gut dazustehen. Sie camoufliert ein Eingeständnis ihrer Bedürftigkeit mit der Hoffnung, dass Neds Bedürftigkeit größer ist. 

Er schickt ein Daumenhoch-Emoji zurück. Persephone findet das degoutant. Aber sie weiß auch, dass Ned nie mehr eine Gelegenheit verstreichen lassen wird, ihr heimzuzahlen, was sie ihm angetan hat. Wie gesagt, unsere Geschichte spielt in einer alten Hanse- und Universitätsstadt auf dem Boden der ehemaligen DDR. Im antireligiösen Realsozialismus wurden Kirchen profaniert. Stichwort „Religion ist Opium des Volkes“ (Karl Marx). Persephones Ziel dient seit Jahrzehnten der säkularen Wohlfahrt. Lale veranstaltet in den entweihten Räumen Improvisationstheater. Von ihr hat Persephone den Schlüssel zu einem Nebeneingang. Der Schlüssel ist ein Ass im Ärmel. Er gewährt Zugang zu Inszenierungssteilvorlagen. Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos dient Persephone als Stichwortgeber und bietet sich ihr als Ideal eines Conférenciers an. Sein erfolgreichster Roman, erstmals 1782 erschienen, verursachte einen Skandal von europäischem Format. Auch wenn eine Frau wie sie nicht wie Madame de Tourvel in „Gefährliche Liebschaften - Les Liaisons dangereuses“ zum Sterben in ein Kloster verbannt wird, fürchtet Persephone zu Recht, dass eine allzu offensichtliche Zurschaustellung ihres erotischen Ehrgeizes zu einer sozialen Isolation führt, die ihr Türen versperrt, durch die sie unbedingt noch gehen möchte. Sie ist fest entschlossen, die nächste Leiterin des Englischen Seminars zu werden. Sie sieht sich auf ihrer inneren Bühne als angesehene Wissenschaftlerin, die über den Dingen schwebt. Das verbindet sie mit Kostümvorstellungen. Das Kleid, der Schmuck, die Nagellackfarbe, das Design der Brille, das alles korrespondiert mit dem Imago der Avancierten. Also spielt Persephone Verstecken. Was ihr dabei entgegenkommt, sind exklusive, historisch aufgeladene Orte mit romantischen Requisiten für ihre kleinen Kammerspiele - wie diese ehemalige Kirche. Das Gebäude bietet ein stark vernachlässigtes Beispiel romanischer Architektur. Es verfügt über Rundbögen und eine festungsartige Mauer. Persephones Vorfreude ist so stark, dass sie nicht klar zwischen Aufregung und Harndrang unterscheiden kann. Sie trägt den Chanel-Duft von Coco Mademoiselle Intense so wie in den ersten Tagen ihres Interesses an Ned. Damals war sie die Post-Doc-Stipendiatin mit dem klandestinen Sexappeal und Ned weit und breit der einzige Dozent mit magischer Ausstrahlung. Nichts deutete darauf hin, dass die beiden auf ein toxisches Verhältnis zusteuerten. Von jeher gibt es blasphemische Proben auf den Glauben. Colette Peignot (1903 - 1938) reagierte in ihren Schriften allergisch auf die katholische Kirche. Persephone glaubt nicht, dass Colette in einer säkularen Gesellschaft glücklich geworden wäre. Zu offensichtlich ist der Zug der Autorin zum religiösen Krawall und zur pompös-blasphemischen Geste. Doch arbeitet sie sich immer nur an dem Tableau ab, dass ihr Lebensgefährte Georges Bataille in „Das Blau des Himmels“ installiert. In ihrem Karneval des Obszönen variiert sie …

Radical Chic im Fin de siècle

Im Kulturkampf seiner Epoche träumte Leopold von Sacher-Masoch im Tross des Fortschritts. Er erschien als ein Überwinder im Schlafrock.

Die Habsburger Gesellschaftsspitzen existieren im Spannungsfeld zwischen feudaler Restauration und bürgerlichem Aufbruch. Spielarten eines kontinentalen Viktorianismus konkurrieren mit dem alpinen Biedermeier-Puritanismus unter der Glocke des Königlich-Kaiserlichen Imperialismus. Der Monarch, das adlige Gefolge und die Bourgeoisie sind sich so weit einig. Soziale Ingenieure basteln am psychologischen Rahmenprogramm für den Gründerzeit-Turbo. Sie montieren Sicherheitsgurte an die Sitzschalen für den Gesellschaftsexpress. Überall vernimmt man schon den Motorengalopp der Zukunft. Die Freiheitsversprechen der Kunst funktionieren wie Druckventile. Die Psychoanalyse munitioniert bourgeoise Rebellen. Der Radical Chic gebietet es, sich zu exaltieren. Seine Herolde verehren den Schreibritter Leopold von Sacher-Masoch. Dessen Gattin, Persephones Heldin Aurora-Wanda, begrüßt die Groupies aller Geschlechter in ihrem Haus. Leopold braucht Bewunderung. Beifall schmeichelt dem Genie. Die literarische Produktion des Hausherrn ist die einzige Einnahmequelle. Alles, was den Ernährer in Gang hält, unterliegt dem Förderungsehrgeiz seiner Frau. Aurora lässt es zu, dass sich Leopold in Verehrerinnen verliebt und sich dabei sonst wohin versteigt. Er verspricht fremden Frauen die Ehe mitunter. Er überschüttet die Objekte seiner Inspiration mit Aufmerksamkeit, bis das Interesse schlagartig versiegt. Zu den ausgefallensten Persönlichkeiten in Leopolds Dunstkreis zählt die Lektorin und Übersetzerin Anna-Catherine Strebinger. Anna ist rasend unkonventionell und ungeduldig mit allen Spießern. Jemand, der sie zu kompromittieren wagt, schlägt sie mit der Reitpeitsche. Da sie als Frau nicht satisfaktionsfähig ist, kann sie der Beleidigte nicht fordern. Offiziere werfen sich vor Anna in den Dreck, um die Gunst zu erbitten, sich an ihrer Stelle duellieren zu dürfen. Das erlaubt sie keinem.

Aurora präsentiert sich in ihren Aufzeichnungen als eine von Sorgen getriebene Mutter und Ehefrau, die schlussendlich einen „unsauberen und unappetitlichen" Schlafgast einquartieren muss, um finanziell über die Runden zu kommen.

Aurora ist die Herrin der Haushaltskasse. Leopold gibt alles, was hereinkommt, sofort ab.

So sehr sie ihre Leser über den erotischen Sturm und Drang des Gatten auf dem Laufenden hält, so diskret verhandelt Aurora die eigenen Bedürfnisse.

Nichts reizt Leopold mehr als eskapistische Manöver. Was den bürgerlichen Instinkt verstört, das zieht ihn an. Er will verführt werden und unterdessen die ganze Bandbreite zwischen Liebreiz und Infamie erleben. Ihn lockt die böse Kraft begnadeter Tentatrices. Der Webfehler in dieser Konstellation besteht darin, dass Leopold selbst für andere zum Versucher wird. Er ist ein Matador der Manipulation, klingend frei von jedem Verantwortungsgefühl. Wer sich der Gewalt seines Begehrens nicht gewachsen zeigt, geht auf eigene Rechnung vor die Hunde.

Erfundene Erinnerung

Die Athener folterten nicht nur Angeklagte, sondern auch Zeugen. Unfreie mussten ihr Zeugnis auf der Folter wiederholen. In der griechischen Ansicht waren Sklaven unanständige Leute. Man identifizierte ihre geringe Stellung mit einem verdorbenen Charakter. Kam ein Sklave im Prozess um, ließ sich nur über Schadensersatz verhandeln. Die Antike verband Unfreiheit mit einer Schuld des Unfreien. Persephone gefällt sich in der Vorstellung, solchen atavistischen Ansichten gewachsen zu sein. Sie ist - nach ihren eigenen Begriffen - zugleich „Granit und Regenbogen“ (Virginia Woolf). In einer Phantasie empfängt sie ihren ersten erotischen Kuss mit siebzehn in einem Fischernest am tyrrhenischen Meer. Elf Jahre nach dem ersten handfesten Begehren reist sie noch einmal nach Castiglione della Pescaia. Sie quartiert sich in einer Pension ein. Ihre Wirtin erweist sich als belesene und unternehmungslustige Zeitgenossin. Giuseppina will unbedingt jenen Meerjungmann ausfindig machen, dem Persephone eine verlässliche Erinnerung verdankt.

Sie spricht von Jugendliebe. Das ist zu viel gesagt. Matteo war einfach nur der Nutznießer adoleszenter Neugier; der andere bei einem ebenso notwendigen wie unvermeidlichen Vortasten.

Persephone gerät in den ersten Lockdown der italienischen Spielart. Das Grauen von Bergamo steht unmittelbar bevor, aber noch wundert sich die Reisende bloß über das Erliegen des öffentlichen Lebens in der Konsequenz staatlicher Dekrete. Man ist schon über Giorgio Agambens „L'invenzione di un'epidemia - Die Erfindung einer Epidemie“ hinaus. Während der Philosoph von „hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notfallmaßnahmen“ und einer bloß „vermuteten Epidemie“ spricht, beginnt der „Eccezione virale - Virale Ausnahmezustand“ (Jean-Luc Nancy).

Giuseppina schaltet sofort und bietet ihrer einzigen Einnahmequelle Vollpension an. Am ersten Lockdown-Abend gibt es gegrillte Anchovis, Spaghetti und viel Wein. Matteo kreuzt auf. Der Tod und das Leben, die Maremmaküste und die Zitronenhaine, Spaghetti, Corona, Wein, Boccaccio und Botticelli: die Assoziationen arrangieren sich allegorisch wie auf einer Votivtafel. Niemand kann die biblisch-archaische Dimension übersehen. Persephone seufzt heimlich, da sich das Abendessen hinzieht. Sie fängt schon einmal an, sich warm zu erzählen. Sie kramt die richtigen Wörter aus den Schubladen. Von Matteo erwartet sie nicht viel.   

Giuseppina macht die Kupplerin, selbstverständlich ist Matteo in alle Richtungen gebunden. Persephone bietet ihm einen Rückblick auf die Freiheit seiner Jugend. Ihre desolate Kammer erzählt von der Gleichgültigkeit jener, die sich vor ihr hier einquartierten; Vernachlässigte, die sich ab und zu an ein Meer schleppen und das Prekäre ihrer Verhältnisse nie verleugnen können. Matteo zeigt keine Initiative, der Erzählfaden reißt.

Salomé – Erkennender Narzissmus

Salomé verstand Narzissmus nicht als „Beschränkung auf ein einzelnes Libido-Stadium, sondern als unser Stück Selbstliebe (in allen Stadien) nicht (als) primitiver Ausgangspunkt der Entwicklung nur, sondern primär im Sinne basisbildender Dauer bis in alle späteren Objektbesetzungen der Libido hinein“.

Ein Mann wird nicht vorgelassen. Das auf den ersten Blick geheimnisvolle Mariechen in der Kittelschürze zeigt Ablehnung an der Schwelle zur Abscheu. Der verstorbene Hausherr hat sie mit der Haushälterin gezeugt, Marie ist so spröde, dass sie zu zerspringen droht. Die Frau des Hauses empfängt nicht mehr. So versucht sie, ihren Nimbus zu retten - im martialischen Wahnsinn des Aberglaubens, man könne sich der Nachwelt mit frühem Eifer und später Zurückhaltung empfehlen. Der Mann an der Tür heißt Ernst Pfeiffer (1875 - 1942). Der von Schreibblockaden gehemmte, unglücklich verheiratete Germanist wird dann doch zum Eckermann der großen Salomé. Die „Dichterin der Psychoanalyse" - Ihr erstes Buch veröffentlicht Salomé unter einem männlichen Pseudonym. Dazu rät sie auch Rilke, der von seiner Mutter in die Tochterrolle umfassend genötigt wurde. Aus René macht Lou Rainer. Mit Rainer Maria Rilke tritt sie in den dionysischen Kreis. Sie beendet ihre erotische Abstinenz mit einem weiblichen Mann. Die Petersburger Generalstochter Louise von Salomé, verheiratete Andreas-Salomé (1861 - 1937) verweigert dem Dichter die bedingungslose Gefolgschaft. Sie ist erkennende Narzisstin. Was ihr nie widerfahren soll: an einer Grenze voreilig kapituliert zu haben, die bei gewissenhafter Prüfung nicht hemmender zu wirken vermocht hätte als ein kindlich gezogener Kreidestrich. Sie verletzt lieber selbst. Am Ende, die nationalsozialistische Machtergreifung hat sich vollzogen, beschwört Salomé noch einmal das Recht auf Raub (eines selbstbestimmten Lebens). „Sofern du willst ein Leben haben: raube dir‘s!“

Bedeutende Männer rauchen vor antiken Prospekten und Postkartenansichten. Sie stehen Spalier auf einer Allee der Bewunderung. Sigmund Freud schenkt Salomé einen Freundschaftsring und erkennt an, dass das Wesentliche der Psychoanalyse im Werk der Bewunderten vorweggenommen ist. Ihren Gatten, den Orientalisten Friedrich Carl Andreas, lässt Salomé sexuell verhungern. Sie pocht auf Erfüllung eines Vertrags, der eine geistige Allianz und eine Versorgungsgemeinschaft regelt. Das Einschleifende und Abwandelnde gemeinsamer Jahre lässt sie nicht gelten.

Nietzsche begreift die Ich-Revolution des „Geschwisterhirns“ als alle Kräfte entfesselnde Notwendigkeit. Salomé fasziniert nicht nur den epochalen Philosophen und den Pionier der Psychoanalyse, sondern auch Richard Wagner, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und Frank Wedekind. Ihr Gatte unternimmt ihretwegen einen Selbstmordversuch, dem maßlos unglücklich verliebten Wohngemeinschaftsgenosse Paul Rée gelingt die Vollendung. Auch Salomé lässt Federn. Schwanger von dem Wiener Arzt Friedrich Pinsele, stürzt sie beim Apfelpflücken von der Leiter und verliert das Kind.

Schöne Gespenster

Aurora-Wanda von Sacher-Masoch ist eine formidable Beobachterin. Sie studiert die Gepflogenheiten eines Ehepaars in der Nachbarschaft. Die Frau ist ganz freundliche Zurückhaltung. Nennen wir sie Guinevere von Mansfeld. „Seltsam (sind) ihre Augen. Sie (ziehen) den Blick an, wie zwei Flammen in einem dunklen Abgrund ... man beugt sich über seine Tiefe, nach dem Geheimnis suchend, das sie zu bewachen scheinen.“ Das Geheimnis erschöpft sich in ihrer Unberührtheit. Sie weiß sich geliebt. Aber was bedeutet ihr das? „Weder ihr Mann noch ihre Kinder noch ihr Haus (berühren) ihre Seele.“ Guinevere bewegt sich wie eine Erscheinung in ihrer Familiensphäre. Eine Verwandte kümmert sich um den Haushalt und die Kinder; „sie selbst (verbringt) ihre Zeit mit Musik und Lektüre“. Aurora rechnet damit, dass Guinevere wie ein Vulkan ausbrechen wird. Die Schriftstellerin vermutet eine verborgene Schrankenlosigkeit.

In der gröbsten Betrachtung bildet die Nachbarin mit ihrem Mann, zwei Kindern und einer Schwägerin einen halbwegs durchschnittlichen Kreis. In den Mansfelds formuliert sich das Ende einer lange für ewig gegoltenen Generationen-Folge von Ministerialen. Der erste Mansfeld, der von sich reden machte, war noch unfrei. Aus der avancierten Leibknechtschaft entwickelte sich eine problematische Stellung. Die Ritterbürtigen verdarben mit einem Fuß in der populären Niedrigkeit. Mit dem anderen stolperten sie durch die feudale Welt. Viele verließen die Burgen ihrer Herkunft und ihres Aufstiegs und verschmolzen mit dem nächstbesten Patriziat, das selbst in einer Zwischenlage klemmte. Aus dem Reservoir der nobilitierten Städter rekrutierten sich gleichermaßen die Schranzen des Absolutismus und die Matadore der bürgerlichen Emanzipation. Auf das beinah dörfliche Publikum von Bruck an der Mur, wo Aurora von 1873 - 1877 lebt, wirkt Guinevere in keiner Weise vorbildlich. Mit somnambuler Zielgenauigkeit geht sie ihren Pflichten aus dem Weg. Persephone malt sich ein gesellschaftliches Ereignis aus, das es Aurora erlaubt, in einem weißen Atlaskleid aufzutreten; eine Provinzgala für Honoratioren, die - frei von Verdiensten und Vorzügen - bestenfalls ein ordentliches Erbe verzehren. Während sich die Vornehmen von Bruck die Ehre geben, zieht sich Aurora ins Antichambre zurück. Sie platziert sich in einem Fauteuil. „Schon war ich im Begriff, in dem überhitzten Zimmer einzuschlummern, als mich ein brennend heißer Kuss auf meine Schulter aufschreckte." Aurora sieht sich um. Guinevere erklärt sich: „Ich konnte nicht widerstehen." Hymnisch vergleicht sie Aurora mit Andersens Schneekönigin. „Ein meergrünes Mullkleid (lässt sie) wie eine schaumige Wolke" von sich abgleiten. Der verführerische Entkleidungsvorgang löst in der Verehrten Besorgnis aus. Guinevere wirft sich auf das Objekt ihrer Begierde mit heißer Hast. Aurora erschreckt sich vor der Gier einer Person, die sonst nur als Entrückte und verträumtes Irrlicht von sich reden macht. Guinevere offenbart sich in wilder Zärtlichkeit. Nichts Bürgerliches berührt ihre Seele. Ihr Familienleben führt sie nur pro forma. Ihr Gatte und die Kinder kümmern sie nicht. Jetzt kennt Aurora Guineveres Daseinsgrund.

Osmanische Scharaden in der Steiermark

Sie lässt sich „selbst gekaufte Blumen oder selbst aufgegebene Telegramme ins Theater bringen“, um sie erstaunt entgegenzunehmen. Die Rede ist von Aurora-Wanda von Sacher-Masochs engster Freundin, der Übersetzerin und Lektorin Anna-Catherine Strebinger. Aurora und Anna besuchen Graf Ladislaus Koszielski auf Schloss Bertholdsstein. Ladislaus ist der Vertraute einer epochalen Figur. Fürst Adam Jerzy Czartoryski (1770 - 1861) startete seine Laufbahn (nach der Niederschlagung des Kościuszko-Aufstandes von 1794) als Geisel am russischen Hof. Der Generalsohn avancierte zum Vertrauten und Außenminister des Zaren Alexander I. Er tanzte auf dem Wiener Kongress, bevor er zum polnischen Verfassungsvater und Regierungschef wurde. Czartoryski war Mitglied der Warschauer Freimaurerloge Les trois frères. Nach dem Scheitern der polnischen 1830er-Revolution emigrierte er via Galizien und England nach Paris. Sein Exilstammsitz im Hôtel Lambert gab der polnischen Opposition eine noble Anschrift. 1842 gründete Czartoryski in der Türkei eine Kolonie - Adampol (Polonezköy). Er delegierte Ladislaus in Rufweite des osmanischen Herrschers Abdülhamid I. Auch der Sultan war lange ein Gefangener ruchloser Verwandter gewesen. In seinem Reich attachierte der Emissär zum Kommandeur der Reiterei in einem Krimkrieg. Ladislaus avancierte zum höfischen Zeremonienmeister und Pascha (wohl ohne zuvor konvertieren zu müssen). Er gewann dann auch noch das Vertrauen des ägyptischen Gouverneurs Ismail Pascha. Unter dem Vorwand, eine Kur nötig zu haben, entzog er sich der orientalischen Sphäre. Graf Ladislaus kaufte das zur Ruine abgesunkene Schloss Bertholdstein bei Gleichenberg, forcierte die Instandsetzung mit schier unbegrenzten Mitteln und brachte in dem Palast die gehaltvollste Orientsammlung Europas unter. Die Sammlung lässt sich heute noch im Polnischen Nationalmuseum in Krakau bewundern. In der Steiermark trat Graf Ladislaus als Sefer Pascha auf. Selbstherrlich ließ er eine Straße zum Schloss da anlegen, wo vorher nur ein Saumpfad war - den Sefer-Pascha-Weg. So einen Gebirgssultan von eigenen Gnaden kann sich die zur Konfabulation begabte, in Graz gastierende Abenteuerin Anna nicht entgehen lassen. Aurora fährt mit. Zwar zeigt sich der Pascha zuvorkommend und ganz und gar als Grandseigneur, doch gelingt es ihm nicht, Aurora ein boshaftes Wesen zu verhehlen. Sie sieht einen tückischen Halbgreis, der Menschen wie Spielfiguren bewegt. Aurora verdient unsere Bewunderung. Die ebenso unverbrauchte wie unvoreingenommene Chronistin schildert Bertholdstein als überladene Bruchbude. „Es lag etwas Beleidigendes in dieser Verschwendung, diesem Reichtum, der einen kalt und steif anstarrte wie die Augen seines Besitzers.“ Aurora und Anna dinieren mit dem Gastgeber unter einer Linde im Schlosshof. Ladislaus führt seine Pferde vor. Englische Reitknechte präsentieren die „kostbaren Tiere“. Die ihrem Zuspitzungseifer ausgelieferte Anna will wieder einmal die Dinge auf die Spitze treiben.  „(Anna) war fest entschlossen, sich von Sefer Pascha (ein Pferd) schenken zu lassen.“ „In Graz auszureiten, Neid zu erregen, dieses Verlangen zitterte in ihr.“ 

Huldvolle Verachtung

Aurora und ihre Freundin Anna-Catherine Strebinger genießen die pikante Gastfreundschaft des weitgereisten und hoch aufgestiegenen polnischen Grafen Ladislaus Koszielski, der nach Jahrzehnten im militärischen und diplomatischen Dienst eines Sultans als Sultan von eigenen Gnaden - mit einer sagenhaften Prachtentfaltung - in der Steiermark auf Schloss Bertholdstein residiert. Während Aurora in dem osmanisch kostümierten Grandseigneur einen veritablen Mistkerl erkennt, und sich (wenigstens im ersten Durchgang) vor der dämonisch dimensionierten Persönlichkeit in Acht nimmt, strebt die auf mächtige Mistkerle fliegende Anna maximale Machtnähe an.     

Aurora und Anna begeben sich in ihre Schlafgemächer. Diener führen sie durch ein Labyrinth. Sie passieren Galerien, Korridore und Säle, „die von Waffen und geharnischten Rittern starren“. Durch Schießscharten fällt „gespenstisch das Mondlicht“. Sie queren einen vom Blitz getroffenen und verwüsteten Raum. Nicht viel später erreicht Aurora ihr Schlafzimmer. Sie fühlt sich in ein übles Loch verbannt. „Hier hat die Angst Platz sich zu verstecken und nachts aus allen Winkeln zu kriechen und einen zu überfallen.“

Aurora inspiziert Annas Unterkunft. Sie liegt hinter einem „mit raffinierter Eleganz eingerichteten Toilette-Zimmer … (das) Schlafgemach war reizend … und voll schöner Dinge“.

Offenbar erfahren die Freundinnen eine Ungleichbehandlung nach den Vorlieben des Paschas. Erst am nächsten Morgen realisiert Aurora, dass vor ihrer Bude ein Balkon die Landschaft überragt, und ein köstlicher Fernblick bis zum Schloss Trauttmansdorff zum Verwöhnprogramm gehört. Aurora holt Anna aus dem Bett und zeigt ihr das Panorama. Ein französisches Kammermädchen serviert den Kaffee in einer Mopsmeute, die über den Möbelparcours hinwegfegt. „(Anna) machte rasch Toilette und ich half ihr dabei. Sie zog ihren Sommernachtstraum an und war darin reizend schön.“ Zu ihrem Erstaunen finden sich Aurora und Anna nach einer Phase trauter Dreisamkeit in einer großen und noblen Gesellschaft wieder. Aurora bemerkt ungarische Hochadelige, „Prinzessin Z und einen eleganten Husarenrittmeister, der zwar Mayer hieß, was ihn jedoch nicht verhinderte ein schöner und feiner Mann zu sein“. Unsere Chronistin garniert ihre Schilderungen des noblen Publikums mit ausgesuchten Gemeinheiten. Sie attestiert den Adeligsten in diesem Kreis einen Mangel an geistiger Gesundheit. Sie verwendet das Wort „Sport-Woman“ in einer Hohnwolke.  „Wenn ich neue Gesichter sehe, beschäftigen sie mich, ich suche sie zu verstehen und darüber kann ich vieles vergessen.“ Aurora flirtet mit dem Rittmeister. Bald stellt sich heraus, dass er sich als Fan ihres Mannes anschleicht. Je krachledernder und geschniegelter der Herrenreiter, desto empfänglicher ist er für Leopolds Pelz- und Peitschenprosa. In den Arrangements der Fan-Phantasie firmiert Aurora als echte Domina. In Wahrheit dient sie lediglich den obsessiven Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung des Familienbetriebs. Leopold muss sich seiner Muse vor die Füße werfen und als Sklave andienen können, um als Schriftsteller und Ernährer zu funktionieren. Aurora unterwirft sich dem umständlichen Begehren ihres Gatten, wenn sie im Pelz die Herrin spielt. 

Die bösen Zungen von Graz

Aurora-Wanda von Sacher-Masoch und ihre Freundin Anna-Catherine Strebinger genießen die pikante Gastfreundschaft des weitgereisten und hoch aufgestiegenen polnischen Grafen Ladislaus Koszielski, der nach Jahrzehnten im militärischen und diplomatischen Dienst eines Sultans als Sultan von eigenen Gnaden - mit einer sagenhaften Prachtentfaltung - in der Steiermark auf Schloss Bertholdstein residiert.

Der Schlossherr präsidiert als „Se. Excellenz“ (Originalschreibweise). Aurora, Anna und er fahren nach Gleichenberg. Sefer Pascha kutschiert eigenhändig. Anna sitzt beflissen mit auf dem Bock. Aurora isoliert sich angespannt in der Kalesche. Die vorgespannten Isabellen sind Gegengeschenke der russischen Kaiserin Elisabeth I. „für den ihr gegebenen Nubier … vier so wertvolle und seltene Pferde für einen … - das war auch ein Pappenstiel“.

Anna imitiert die Allüren des Jetsets aka Hochadels. Sie verkörpert eine Sports-Woman, die sich nur für Hunde und Pferde interessiert. Aurora sagt Sports-Woman, sie ist herrlich angefressen. Anna desavouiert sich gerade selbst. Ihre Gier lässt nichts übrig von der grandiosen Unabhängigkeitsattitüde, mit der Anna im Allgemeinen auftrumpft. Die Feindin aller Spießerinnen offenbart die Niedrigkeit der eigenen Beweggründe.   

In Gleichenberg gibt es einen Friedhof für die Pferde des Fürsten von Thurn und Taxis neben dem Jagdschloss Hubertus-Haus.

Am nächsten Morgen meldet Anna ihre Eroberung des Schlossherrn.

„(Sie stand) in einem weißen … (Nachthemd?) in der Balkontür, von der Sonne ganz durchschienen, sodass ich ihren schlanken kraftvollen Leib durch den feinen Stoff erkennen konnte.“

Ungestüm wirft Aurora der Freundin Leichtfertigkeit vor. Der Gebirgssultan verfüge über Frauen in orientalischer Manier. Anna habe sich preisgegeben. Nun sei sie eine mehr, die auf einen Wink warte und dabei nichts mehr zu erwarten habe. 

Anna widerspricht vehement. Trotzdem stimmt sie einer überstürzten Abreise zu. Der Graf bittet sie, wenigstens das Mittagessen abzuwarten. Er zeigt sich zuvorkommend und rührt an nichts.  

„Nicht das leiseste Zeichen von Vertrautheit war an … (Anna) wahrzunehmen; sie war mit dem Pascha nach dieser Nacht genauso wie vorher, nicht weil sie sich so stellte, sondern weil es wirklich so war. So wenig war ihr die Hingabe an einen Mann, dass dieser sich in nichts für sie dadurch veränderte, er stand ihr nicht näher - sie gab ihm nichts von sich und nahm nichts von ihm. Wie (so ein Wesen) das Leben vereinfacht, dachte ich.“

Zuhause bereitet Aurora ihrem maladen Mann mit dem Schlossrapport und Reisebericht eine Enttäuschung. „Ich brachte meinem Dichter wieder eine Enttäuschung nach Hause“, sagt sie selbst lapidar, aber nicht lieblos. Der Pascha schickt Anna ein Collier hinterher. Zum Boten macht er „eine der bösesten Zungen (von) Graz“.

Legendärer Lebenslauf

Zunächst zeigt Aurora-Wanda von Sacher-Masoch kein Interesse an dem superreichen Grafen Ladislaus Koszielski, der wie ein anderer Kara Bin Nemsi auf Schloss Bertholdsstein residiert. Ladislaus stand im militärischen und diplomatischen Dienst eines Sultans und tritt nun selbst wie ein Sultan auf. Sein legendärer Lebenslauf gibt in der Steiermark Anlass zu Spekulationen. Aurora rivalisiert mit ihrer besten Freundin Anna-Catherine Strebinger, die Ladislaus bald zu ihren Eroberungen zählt. Nun will auch Aurora mitspielen.

„Mir soll Sefer Pascha nicht entgehen.“

Aurora reist mit ihrer „unfehlbaren“ Hermelinsamtjacke an.

„Die Jacke würde ihre Schuldigkeit tun.“ 

Aurora und Anna dinieren allein mit dem polnischen Pascha. Er hat einen ganzen Abend für den Besuch freigeschaufelt. Er bemüht sich um Aurora mehr als um Anna, die cool bleibt.

„Auf mich schaute sie freundlich und lieb, auf den Pascha spöttisch, und wenn ich je glaubte, dass sie mir gut sei, so war es in diesem Augenblick.“

Am nächsten Tag kreuzt Leopold von Sacher-Masoch auf. Der Schlossherr zieht den Stargast zum Begrüßungsplausch auf den Paradeplatz unter eine Linde. Gastgeber und Gast stammen nach aktuellen Geografie-Begriffen aus Polen. Heute wäre Leopold Ukrainer. Doch im Jetzt von Damals haben Ladislaus und Leopold eine gemeinsame Heimat. Während die Männer aneinander Maß nehmen, erkunden Aurora und Anna das Gelände. Sie besteigen den Schlossberg und genießen eine Aussicht auf Schloss Trauttmansdorff. Der Namenspatron Herrand von Trautmansdorf begründete die steierische Linie der Ministerialen-Dynastie im frühen 14. Jahrhundert. Zu seiner Zeit stand an der Stelle des Schlosses die Burg Neu-Gleichenberg der Herren von Walsee. Die Territorialfürsten hatten kurz zuvor beinah an Ort und Stelle ein Fort der Herren von Wildon übernommen. Die Riegerburg aka Burg Alt-Gleichenberg stand auf der linken Bergrückenseite des Klausenbachs. Die Walseer kamen den Herren von Wildon nach. Das Geschlecht hatte zunächst dem böhmischen König gedient. Die Wildoner zählten zu den Verlierern bei der Niederschlagung der steirischen Adelsverschwörung von 1268. Nach dem Strafverlust ihrer wirtschaftlichen Basis schlugen sie sich auf die Seite von Rudolf von Habsburg (1218 -1291). Im Verlauf immer neuer Fehden mussten die Wildoner dann die Burg Alt-Gleichenberg schon als geschliffenes Bollwerk an die Walseer abtreten. Die neuen Territorialfürsten bauten ihr eigenes Fort ab 1312 am rechten Klausenbachufer. In den folgenden Jahrhunderten ergab sich eine Transformation der Trutz- und Wehrarchitektur zum schieren Repräsentations- und Prachtbau. Dies vollzog sich von 1581 bis 1945 durchgängig in der Regie der Gräfinnen und Grafen Trauttmansdorff.

Anna und das Ehepaar Sacher-Masoch reisen in bester Stimmung ab. Sefer Pascha bringt den Besuch zur Bahn und verspricht, bald in Graz Hof zu halten. Dann will er Leopold mit Agenor Maria Adam Graf Gołuchowski bekannt machen.

Auroras Kaiseraugenblick

Erschöpft von dem Spagat zwischen Pfandhausalltag und Prominentenstatus nimmt das Ehepaar Aurora-Wanda und Leopold von Sacher-Masoch im Februar 1880 eine Auszeit in Budapest. Da lebt Leopolds Schwester. In Ungarn trifft Leopold eine Welle der Verehrung.

„Mit seinen Judengeschichten (hatte er) ganz Israel erobert, und jetzt reklamierte dieses seinen Schriftsteller. Am liebsten hätte es ihn selbst zum Juden gemacht.“

Das Ehepaar Sacher-Masoch sucht Abwechslung bei Verwandten in Budapest. Franz Liszt taucht auf.

„Ich (fand), dass seine liebenswürdige Einfachheit zu dekorativ war, zu großen Stil hatte für unser bescheidenes Zimmer und uns.“

Es gibt eine Stelle, Persephone hat sie überschlagen und findet sie nicht mehr, da liest eine Literaturliebhaberin Leopold von Sacher-Masoch die Leviten. Sie weist ihm Kleingeistigkeit nach und bezichtigt ihn des Etikettenschwindels. Seine Radikalität sei Pose. Eine Masche nur. Nicht mehr.

„Die Dialektik von Skandal und bourgeoiser Gleichschaltung“ (Baudelaire) gehört zum Spiel der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gründerzeitverfassung. Ein Gefängnisaufenthalt dient der Imagepflege eines professionellen Regelbrechers. Leopold weigert sich aber, eine Arreststrafe von acht Tagen zu verbüßen. Der Delinquent schickt seine Frau zum Kaiser.

Aurora muss sich ein Audienz-Kleid leihen. Sie reist den weiten Weg von Budapest nach Wien. Da tastet sie sich durch ein Labyrinth der Referenzen und Empfehlungen. Ihr Schwiegervater kannte den (vermutlich doch ehemaligen) Chef des kaiserlichen Privatkabinetts persönlich. Das hilft. Auch der diensttuende Graf, Major Mondel, zählt zum Bekanntenkreis der Sacher-Masochs. Die Gleichzeitigkeit von Hoftauglichkeit im Habsburger Riesenreich, Pfandhausmisere und exzentrischem Habitus bildet ein eigenes Genre.

Aurora flirtet und knickst wie in einem Atemzug. Sie kriegt ihren Kaiseraugenblick.

„In seiner leutseligen Art sagte mir der Kaiser, er würde am liebsten meinem Manne die ganze Strafe schenken, allein er könne doch nicht seine Richter so ganz desavouieren.“

Die Hochgestellten in Leopolds Dunstkreis raten einvernehmlich dazu, die Strafe annehmen. „(So ein) Märtyrertum stehe politischen und literarischen Männern sehr gut an.“ 

Leopold will nicht einen Tag brummen. Er leiht sich Geld und exiliert mit seiner Familie nach Bayern.

„Wenn wir einige Minuten den Bach hinauf über eine Brücke gingen, waren wir in Österreich; dort befand sich ein nettes Wirtshaus, in dem wir unsere Mahlzeiten nahmen.“ 

Auroras Kaiseraugenblick

Erschöpft von dem Spagat zwischen Pfandhausalltag und Prominentenstatus nimmt das Ehepaar Aurora-Wanda und Leopold von Sacher-Masoch im Februar 1880 eine Auszeit in Budapest. Da lebt Leopolds Schwester. In Ungarn trifft Leopold eine Welle der Verehrung.

„Mit seinen Judengeschichten (hatte er) ganz Israel erobert, und jetzt reklamierte dieses seinen Schriftsteller. Am liebsten hätte es ihn selbst zum Juden gemacht.“

Das Ehepaar Sacher-Masoch sucht Abwechslung bei Verwandten in Budapest. Franz Liszt taucht auf.

„Ich (fand), dass seine liebenswürdige Einfachheit zu dekorativ war, zu großen Stil hatte für unser bescheidenes Zimmer und uns.“

Es gibt eine Stelle, Persephone hat sie überschlagen und findet sie nicht mehr, da liest eine Literaturliebhaberin Leopold von Sacher-Masoch die Leviten. Sie weist ihm Kleingeistigkeit nach und bezichtigt ihn des Etikettenschwindels. Seine Radikalität sei Pose. Eine Masche nur. Nicht mehr.

„Die Dialektik von Skandal und bourgeoiser Gleichschaltung“ (Baudelaire) gehört zum Spiel der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gründerzeitverfassung. Ein Gefängnisaufenthalt dient der Imagepflege eines professionellen Regelbrechers. Leopold weigert sich aber, eine Arreststrafe von acht Tagen zu verbüßen. Der Delinquent schickt seine Frau zum Kaiser.

Aurora muss sich ein Audienz-Kleid leihen. Sie reist den weiten Weg von Budapest nach Wien. Da tastet sie sich durch ein Labyrinth der Referenzen und Empfehlungen. Ihr Schwiegervater kannte den (vermutlich doch ehemaligen) Chef des kaiserlichen Privatkabinetts persönlich. Das hilft. Auch der diensttuende Graf, Major Mondel, zählt zum Bekanntenkreis der Sacher-Masochs. Die Gleichzeitigkeit von Hoftauglichkeit im Habsburger Riesenreich, Pfandhausmisere und exzentrischem Habitus bildet ein eigenes Genre.

Aurora flirtet und knickst wie in einem Atemzug. Sie kriegt ihren Kaiseraugenblick.

„In seiner leutseligen Art sagte mir der Kaiser, er würde am liebsten meinem Manne die ganze Strafe schenken, allein er könne doch nicht seine Richter so ganz desavouieren.“

Die Hochgestellten in Leopolds Dunstkreis raten einvernehmlich dazu, die Strafe annehmen. „(So ein) Märtyrertum stehe politischen und literarischen Männern sehr gut an.“ 

Leopold will nicht einen Tag brummen. Er leiht sich Geld und exiliert mit seiner Familie nach Bayern.

„Wenn wir einige Minuten den Bach hinauf über eine Brücke gingen, waren wir in Österreich; dort befand sich ein nettes Wirtshaus, in dem wir unsere Mahlzeiten nahmen.“ 

Das tote Glück der Vergangenheit  

Endlich verlässt Aurora ihren Mann für einen Liebhaber. Das illegale Paar setzt sich nach Paris ab. Der Neue kann Leopold von Sacher-Masoch nicht das Wasser reichen. Schon macht das kleine Licht Ausflüchte. An einen grandiosen Spinner gewöhnt, erscheint Aurora das aktuelle Programm erbärmlich. 

Drei Jahre vor ihrer Scheidung (im Jahr 1886) brennt Aurora mit Jacob (Armand) Rosenthal alias Jacques Saint-Cère nach Paris durch. „Nun schwammen wir ganz in den Wogen des Pariser Lebens.“ Aurora beschwört Armands Hingabe. Er verehrt sie als „Prinzesserl“. Die Beschwörungen klingen bald hohl. Die Verehrung leiert. Die schematisch Angebetete sehnt sich nach Ruhe im Trubel. Armand geht oft allein aus. Angeblich vertrödelt er Stunden in der Redaktion oder bei Diners bei seinem Chef. Aurora zweifelt leise an Arnauds Worten. Sie ist zu erschöpft für Streit. „Aber es war jedenfalls eine gute Form für sein Ausbleiben - und ich forschte nicht weiter, ich hütete mich wohl, nach jener dunklen Seite hinzublicken, die es im Leben jedes Mannes gibt.“ Das ist die Quintessenz: Der Pelz und die Peitsche haben Aurora keine Macht verliehen. Sie war die Erfüllungsgehilfin eines Kolossalphantasten, dessen Ruhm die Epoche überstrahlt. Nun streckt sich Aurora in einem Souterrain der Verhältnisse nach der Decke. Sie leidet an Schlaflosigkeit. In Sommernächten lauscht sie am Fenster „auf das Leben, das da draußen … ohne Licht im Dunkel sitzend, wurde mir mein Fenster zur einsamen Insel“. „Um besser zu sehen, schloss ich die Augen.“ Aurora bedenkt das „tote Glück“ der Vergangenheit; „das ganze sinnlose Spiel des Daseins“. Sie begeht „stille abgelegene Täler“ einer verlorenen Zeit. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist eine Wiener Bäckerei. „Wenn nach Mitternacht die Theater endeten und es still auf den Boulevards geworden war, dann krochen im Schatten der Häuser die, die die Scham am Tage zurückhielt, heran, kauerten sich an die Kellerfenster hin, aus denen der warme Geruch des Brotes kam, und atmeten ihn ein.“ Aurora erinnert die Szenen an die Armut ihrer Jugend. Nach der Scheidung ihrer Eltern war sie gemeinsam mit der mittellosen Mutter aus einer Mittelschichtwolke in die Armut der Tagelöhnerinnen gefallen. Armand avanciert zum Berlin-Korrespondenten des Figaro. Da trifft er, so sagt es Aurora, Paul Lindau, den „Hausjournalisten der Bismarcks“. Persephone glaubt, dass Aurora den Kritiker Paul mit seinem Bruder Rudolf Lindau verwechselte. Beide sind Schriftsteller, aber nur Rudolf wirkt im Zentralbüro des Reichskanzlers als Legationsrats. Alle Abende verbringt Armand im Theater. Fleißig zählt er Premierentitel auf. Aurora versichert er, eine bedeutende Person zu sein, die überall vorgelassen wird. Er verkehrt mit Herbert von Bismarck (1849 -1904), dem ältesten Sohn Otto von Bismarcks. Arnaud begegnet sogar dem deutschen Kaiser, der ihm außerordentlich imponiert. Die Überschwänglichkeit ist dahin, als Armand wieder in Paris aufkreuzt. Er erklärt sich umständlich. Eine alte Sache habe ihn eingeholt, „Schulden, die ihm auf den Rücken gefallen“. Nun soll er sich in den Kolonien rehabilitieren. Aurora durchschaut das Ganze als Schmierenkomödie. Doch was nutzt es? Sie ist auf einen Hochstapler hereingefallen. Ihre Existenz ist futsch. 

 

Schmerztau

Erasmus Desiderius (ca. 1466 in Rotterdam - 1536 in Basel) wächst in Gouda auf. Als unehelicher Sohn eines Priesters und dessen Haushälterin entbehrt er die zunfttaugliche Ehrbarkeit in einem burgundischen Winkel des Heiligen Römischen Reichs. Die sozialen Aussichten des zukünftigen Fürstenerziehers sind erst einmal lausig. Den Langobarden-Königsnamen Desiderius, eine Ableitung von desiderare - begehren, legt sich Erasmus später selbst zu. Seinen Vater ziert eine gute Handschrift. Roger Gerard zählt zu den weltläufigen Geistlichen. Der Verehrer des als Märtyrer heiliggesprochenen Erasmus von Antiochia blickt auf eine Karriere in Italien zurück. Im Auftrag des Abts von Monastero di San Benedetto, einem Kloster nahe Fabriano, kopierte er „zwei Schlüsseltexte des Christentums“, namentlich Augustinus‘ „Vom Gottesstaat“ und Thomas von Aquins „Summa theologica“.

Die Zitate stammen aus Sandra Langereis‘ atmender Biografie „Erasmus. Biografie eines Freigeists“

Die Abtei steht auf dem „Apennin-Gipfel des Monte Fano“. 1276 wurde in Fabriano die erste Papiermühle auf europäischem Boden in Betrieb genommen. Langereis spricht von einem „hocheffizienten Recyclingverfahren“, bei dem Lumpen und Fetzen in ihren „Rohstoff zurückverwandelt (wurden)“. Sie beschreibt einen Hotspot der Renaissance-Tüchtigkeit. Klöster betreiben die Mühlen. In den Skriptorien tobt ein Kampf der restaurativen Pergament-Fraktion gegen die Freunde des Papiers. Persephone sitzt an ihrem Institutsschreibtisch und vergegenwärtigt sich den frühneuzeitlichen Wettstreit. Professor Goya schneit herein, ohne anzuklopfen. Er ist der Sprachmeister. Sprachmeister ist ein historischer Titel. Seit der Berufung des ersten Professors für neue Sprachen an die Universität von G. firmiert der Leiter des Englischen Seminars als „Sprachmeister“. Zu den Insignien seiner Autorität gehören Zeichen und Geräte, die an Freimaurer-Praktiken erinnern. Der Sprachmeister-Kult hat aber einen anderen Ursprung. Dazu später mehr. Den amtierenden Sprachmeister empfindet Persephone mitunter schon als Plage. Goya ist der Dreisteste unter ihren Verehrern. Männer machen es Persephone leicht und schwer zugleich. Persephone ist todsicherer Leim. Wildfremde bestürmen sie mit Heiratsanträgen und sind sich ganz sicher, dass Persephone die Richtige sei. Das sind Verlorene; Leute, die sich in ihrem eigenen Leben verirrt haben. Ihre Bereitschaft, sich an einem toten Punkt zu verausgaben, schreddert Persephones Weltvertrauen. Ihre Zurückweisungen entbehren mitunter der Konsequenz. Manchmal kostet sie noch zwei-, dreimal den Rahm einer verzweifelten Leidenschaft. Wie eine Katze, so denkt sie sich selbst, leckt sie den Schmerztau. Sie erntet, was sie gesät hat, zwar ohne Skrupel, aber doch erschüttert. Wenn andere sich so offensichtlich irren können, wie sicher darf sie sich dann sein. Sie schickt einen Mann weg, dem sie eben noch Zugang gewährte, und fragt sich, warum er sich jetzt nicht erschießt oder aufhängt. Persephone weiß, der Abgewiesene wird sich in einer Kneipe zulaufen lassen. G. ist berühmt für seine urigen Studentenpinten. Die ältesten Klosprüche Deutschlands findet man da. Es gibt einen hiesigen Kneipenführer auf Japanisch. 

Erotische Exerzitien

Ein halbes Jahrhundert nach Erasmus von Rotterdams Tod entreißt Cornelis de Houtman (1565 - 1599) den Portugiesen das ostindische Pfeffermonopol und macht Bantam auf Java zum ersten niederländischen Stützpunkt in Indonesien. Im Gefecht verliert er zwei Schiffe und fast alle Matrosen. Eine Bucht heißt seitdem „Friedhof der Holländer“. Sandra Langereis beginnt ihre Erasmus-Biografie mit der Schilderung einer Expedition, die 1598 im Hafen von Goeree-Overflakkee ihren Anfang nimmt. Die Autorin beschwört den „protestantischen Unternehmergeist (und) evangelischen Optimismus“ Rotterdamer Sklaven- und Gewürzhändler. Sie vertrauen ihre Investitionen Admiral Jacques Mahu (1564 - 1598) an.

Am 27. Juni 1598 sticht Mahu mit fünf Schiffen und knapp fünfhundert Mann Besatzung in See. Das ist der Auftakt eines einzigen Desasters. Mahu fährt auf der in „De Liefde“ umgetauften „Erasmus“.

„Schon damals diente der Eurostar unter den Gelehrten mit seinem Namen als Galionsfigur des Epochalen“, schreibt Persephone. Sie trägt eine Robe à la française aus schwarzviolettem Atlas - mit Watteau-Falten, die das Rokoko zitieren. Das Gewand war in seiner ursprünglichsten Gestalt ein Déshabillé, ein Gegenstand häuslicher Vexierspiele, und wirkt nun als textiles Zeichen für jene, denen Raffinesse unentbehrlich ist. Einst gestattete es der Frau, sich uneingeschnürt zu zeigen. Jeder informierte Liebhaber historischer Kostüme erkennt den frivolen Charakter, das Anspielungsreiche. So ein Kleid besitzt den Signalcharakter eines Kropfbandes mit gewissen Applikationen. Es funktioniert wie ein Lackmustest. Wer adäquat darauf reagiert, bringt bestimmte Eigenschaften mit. Der weite Horizont seiner Erwartungen verspricht ein helles Vergnügen, eine erotische Heiterkeit.  

Goya verkörpert den Major Player auf der Ideallinie. Er ist zweiunddreißig, akademisch nobilitiert, wohlhabend von Geburt, sportlich, ledig, fruchtbar, aber (noch) kinderlos. Der Philologe ist auch Spezialist für Bioluminiszenz. Er züchtet leuchtende Mäuse. Das Spiel beginnt an ihrem Uni-Schreibtisch. Es riecht nach altem Gemäuer. Generationen von Pfeife rauchenden Professoren haben ihre Marken nachhaltig abgesetzt. Goya gewährt Persephone das Vergnügen seitenlanger Passagen, die über ein Detail nicht hinausgehen. Die erotischen Exerzitien sind zugleich psychologische Studien. In Nanas Aufzeichnungen findet sich die Erkenntnis: Die sozialen Konturen eines Mannes unterbrechen meine Erregungslinien. Stets weiß ich vorher, über einen bestimmten Punkt komme ich nicht hinaus und die Hälfte der Lust ist Eigenleistung.

Persephone entzieht sich Goya in eine erotische Nebelwelt. Plötzlich bricht die Wolkendecke ihrer Betrübnis auf und sie fühlt sich von der Lust getroffen wie von einem Schlag, dessen Wirkung sich in Schockwellen ausbreitet.

Orthographische Nonchalance

Das bibelfeste Latein und die gotische Handschrift sind Insignien eines besonderen Gottesdienstes. Jahrhundertelang entstehen in den Skriptorien der Klöster Abschriften bedeutender Werke der Christenheit in einer bis auf den letzten Punkt kodifizierten Praxis. Die Kopisten verrichten Frondienste des Geistes.

Unter dem Druck des Buchdrucks transformiert sich die mittelalterliche Überlieferungskultur. Verbesserte Verfahren zur Papierherstellung verdrängen das Pergament und erhöhen die Reichweiten von Bildungsgütern.

In diesem Spannungsfeld wächst Erasmus von Rotterdam als unehelicher Priestersohn auf. Sein Vater sorgt für die frühestmögliche Alphabetisierung des illegitimen Nachwuchses in einer Gesellschaft ohne Schulzwang. Unterrichtet wird Erasmus zunächst in der allgemein vernachlässigten Muttersprache. Orthografie und Grammatik unterliegen keiner Formalisierung. Die Verschriftlichung des Holländischen beschränkt sich vielfältig auf Zunftangelegenheiten. Vor allem geht es um die Lesefähigkeit künftiger Handwerker. Die kleinen Leute holzen. An die Unterrichtenden werden geringe Anforderungen gestellt.

Persephone erzählt das dem Dichter Branwell. Gemeinsam genießen die beiden das Terrassenflair auf einem Hoteldach. Sie sehen die Ostsee. An der Horizontlinie unterscheiden sich Himmel und Meer dramatisch.  

Spurenelemente von Blei, Gold und Radium. Das ist, was von uns übrigbleibt, abgesehen von Kohlenstoff. Wir sind Sterne. Wie andere Sterne bestehen wir aus Sonnenstaub. Der Mensch kommt aus der Sternenschmiede. Wir sind alle Kinder des Universums.

Warum haben wir das vergessen?

Jede Sublimierung steigert den Reiz. Persephones Selbstliebe ist groß genug, um einen eigenen Fokus zu bilden. Die Lust, sich in schönen Kleidern zu zeigen, sich phantasievoll anzuziehen, verbunden mit der Liebe zu Worten - das sind ihre Ingredienzien der Lust. Sie trägt ein smaragdgrünes Wickelkleid aus Seidentwill mit gelben Punkten und theatralischen Raffungen an den Seiten. Es verleiht ihrer Weiblichkeit eine Silhouette im Stil von Audrey Hepburn.

Die Stadt wird von Stimmungen regiert, die sich an Übergängen ablösen wie Staffelläufer. In meiner Nachbarschaft fällt das Licht anders auf die Straßen als im Univiertel.

Die Libido wandert in die Wahrnehmung aus. Die Stadt leckt an meinen Fingerspitzen. Sie ist kapriziös, zärtlich und so großzügig, dass man umsonst in ihren Büschen pennen kann. Wir erforschen sie wie einen Kontinent. Ihr einziger Boulevard ist unsere Landstraße. In ihre Bars kehren wir ein wie in Motels. Manchmal schaut das Meer nach uns und signiert unsere Schuhe mit einem Schaumgriffel. Aus dem Nichts materialisiert sich CC in der Gestalt eines angetrunkenen Studenten. Nur Persephone kann seinen Lichtgestaltmantel sehen. Er kehrt in die Unsichtbarkeit zurück, bleibt aber da. 

Kristallbegriffe

„Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren.“

Er setzt seinen Taufnamen zwischen zwei angenommene Namen. Er verschmäht die Sprache seiner holländischen Ahnen und gibt Latein den Vorzug. In seiner Anverwandlung „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ spricht Stefan Zweig von einer planvollen „Verschattung“ der unehelichen, sprich delegitimierenden Abstammung. „Ärgerlich“ sei es gewesen, von einem Priester gezeugt worden zu sein. Der Autor unterstellt Erasmus die Geburtsnot eines unerwünschten Kindes. Erasmus dementiert sein Schicksal, indem er sich zum Desiderius erklärt - zu einem Erwünschten. 1487 tritt er in den Augustinerorden ein, ein Jahr später legt er das Gelübde ab. Ohne besondere Frömmigkeit frönt er seinen künstlerischen Neigungen. Der „frei denkende und unbefangen schreibende“ Erasmus bleibt Priester, wenn auch mit weltlichen Spielräumen. Er erlangt Dispens, wo immer ihn der Priesterschuh drückt. Zweig erkennt einen „inneren Unabhängigkeitszwang“.

Die Rostocker Professorentochter Persephone bedenkt ihre eigene Herkunft. In Erasmus erkennt sie einen gewieften Taktiker. Der Epochale scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. Lieber „erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen“. Auch Persephone fällt nicht gern mit der Tür ins Haus. Sie schätzt verschattete Manöver und belohnt die (Er-)Kenner ihrer Raffinesse. Manchmal stürzt sie sich förmlich in ein gewiss unerwartet zartes Lächeln, während sie es als Nebensache erscheinen lässt, dass ein Mann im Anblick ihres in Spitze gefassten Busens versinken kann.

Ihre Freundin Lale Schlosser inszeniert auf der Studierendenbühne Heiner Müllers Hamletmaschine. Persephone registriert die Details. Sie sieht ein Feininger-Geisterhaus. Es tropft aus Rohren wie in Tarkowski-Filmen. Ruinierter Pomp, zerschlagene Quadriga. Gemalte Flugzeuge, verwischt wie von Gerhard Richter. Dann kommt der „zweite kommunistische Frühling“ als Bemerkung zur Seite gesprochen, Ophelia nimmt im Rollstuhl Platz. Hamlet sagt: „Was du getötet hast, sollst du auch lieben.“ Die Hamletmaschine fegt die Bühne: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein.“ Die Herrschaft von Helsingör fällt Fortinbras zu. Ihn erwartet „das Kanalisationsprojekt und der Erlass in Sachen der Dirnen und Bettler“. Hamlet sagt er nach: „Du glaubtest an die Kristallbegriffe und nicht an den menschlichen Lehm.“

Persephone lockt Goya in den toten Trakt der Uni. Sie trägt ein asymmetrisch geschnittenes Kleid mit schräger Knopfleiste aus Yohji Yamamotos „karg-eleganter Sommerkollektion“ (aus der Werbung). Japanische Haute Couture mit einem androgyn-dekonstruierenden Ansatz. Es herrscht pharaonische Totenstille im Karzer. Die akademische Arrestzelle wurde bis 1945 im Rahmen der akademischen Gerichtsbarkeit genutzt. Die Wände sind archäologisch wertvolle Fundstellen. 

Aktive Träumerin

Nach dem Selbstmord eines Bruders hält Isabelle Eberhardt nichts mehr in Europa. Sie trennt sich nicht nur von dem Kontinent, sondern auch von ihrem Verlobten, einem Diplomaten des Osmanischen Reichs. Im Juni 1901 trifft der Matrose Pierre Mouchet in Marseille ein und entpuppt sich da als Isabelle Eberhardt. Die der Spionage und Insubordination verdächtigte Agentin eines eigenen Lebensstils erwartet sehnsüchtig ihren Verlobten. Ein halbes Jahr später holt sie die Not in der Kasbah von Algier ein. Als Gattin eines mittellosen Algeriers bleibt ihr erst einmal nur Luft und Liebe. Die Kolonialregierungsschickeria „verfolgt (die Außenseiterin) mit eifersüchtigem Hass“. Man startet eine Verleumdungskampagne. Eberhardt reagiert depressiv. Die Zivilisationsmüde eilt nach Tunis, erwirbt den Hengst „Souf“ und reitet allein durch die Wüste nach Algerien. Born to be wild. Vom Fieber geschüttelt, trinkt und raucht sie weiter (in einer muslimischen Umgebung). Sie unterstützt einen Mini-Napoleon bei der Annexion Marokkos. Hubert Lyautey erscheint seiner Zeit als Abenteurer und französischer Lawrence von Arabien. In seinem Auftrag erfüllt Eberhardt geheime Missionen in den Sphären aufständischer Nomaden. Es ergibt sich eine Klausur im heiligen Bezirk von Kenadsa.  

Ihrer Zeit erscheint sie unbegreiflich. Auf Persephone wirkt Isabelle wie eine Romanfigur von Albert Camus und vielmehr noch als Akteurin eines verfrühten Existenzialismus. Im ersten Jahr des schwarzen Jahrhunderts beginnt sie eine Serie von Eintragungen mit der Bemerkung:

„Ich bin allein.“

Und zwar nicht vorübergehend, sondern von jeher und für immer.

Die Pionierin der Selbstbestimmung (als einer seelennautischen, navigatorischen Leistung) verbessert ihre Technik des Träumens. Das werden nach ihr viele projekthaft betreiben.

Eberhardt gelingt das ganze Bild der aktiven Träumerin ohne Vorbild und Umgebung. Die Liebhaberin des müßigen Streifs beobachtet sich und erkennt vor allen den ikonografischen Charakter ihrer sozialen Gebärden. Ein filigranes, genderfluides Geschöpf „versteift“ sich darauf, „der Säufer, der Verderbte, der Scherben stiftende Rohling zu bleiben“.

Persephone träumt aus dem Fenster. Ihr Höschen drapiert den Lampenschirm. Sie entspricht damit einem ausgedachten Befehl des Sprachmeisters Goya. Sie wünscht sich ihren Chef viel fordernder und dies oft nur im Vorübergehen. Eine Serie kleiner Impulse, die den erotischen Betrieb aufrechterhalten. Für Persephone ist das Mündliche, Vorläufige und Dazwischengeschaltete und alle möglichen Side Thrills so wichtig wie das Hauptgeschehen. Sie sucht ihre Erregung, wie ein Junkie - süchtig nach dem Neurotransmitter-Kick aus Dopamin und Noradrenalin. Die Wirkung der Endorphine. Die Verminderung der Aktivitäten von Großhirn und Hypothalamus nach dem männlichen Orgasmus machen Persephones auf Dauerfeuer gestellten Begehren einen Strich durch die Rechnung. Serotonin blockiert die Erregung.

Persephone ist eine Verfechterin der Amygdala-Hypothese. Die Amygdala ist eine Reaktionsschnittstelle im Kontext von Gefahr und Angst. Bei Frauen, nicht aber bei Männern, wird, dass ergaben Forschungen, wird die Amygdala in der Umgebung des Höhepunkts ausgeschaltet. Bei Männern dagegen nicht. Nach dieser Theorie schalten sich auch bei Frauen bestimmte Hirnareale ab, vor allem Teile des so genannten Frontallappens mit ihren Kontrollinstanzen. Anpassungsleistungen, die via orbitofrontalem Kortex und dorsomedialen Präfrontalkortex erbracht werden, werden ausgeschlossen.

Persephone schlägt Goya den malerischsten Raum im toten Flügel der Universität als Treffpunkt vor - den Karzer.

„Karzer waren die Bezeichnung für Arrestzellen an deutschen Universitäten, in denen bis Anfang des 20. Jahrhunderts Vergehen im Rahmen der eigenen akademischen Gerichtsbarkeit der Universitäten geahndet wurden.“ Wikipedia

Sie tut dies per SMS. Sie stellt sich vor, wie Goya ihr Angebot liest.  

Ich möchte … … . Diese vier kleinen Worte genügen für einen bilateralen Klimax. Sie erfüllen Goyas Wunsch, Persephone unter Kontrolle zu bringen und ihren Scharaden ein handfestes Ende zu bereiten.

Persephone fordert Goya heraus. Sie will, dass er aus sich herauskommt, sich gehen lässt und sich kompromittiert. Sie sehnt sich nach den heftigsten Worten seines Verlangens; nach Momenten der Hemmungslosigkeit, hinter die er nie wieder zurücktreten kann.