Das erste Bild - Die Verlässlichkeit des Begehrens
Um ein subtiles Angebot zu unterstützen, trägt Persephone vor einem Klospiegel Lippenstift auf. Sie verschiebt den Hemdkragen so, dass es aussieht, als gäbe sie versehentlich etwas preis. Sie kalkuliert die Abweichung von ihrer Performancelinie mit einem Lustgewinn. Das Hemd gehörte Amos, mit dem sie in einer Wüste war. Persephone trägt es als Hommage. Mit Amos hat am Ende fast nichts geklappt, aber da war doch etwas ... eine goldhaltige Ader im Erz; eine Bonanza, die leider nicht ausgebeutet werden konnte.
Zum ersten Mal ist Persephone bereit, ihr suchtartiges Interesse an Ned zuzugeben. Das fällt ihr ein: die Verlässlichkeit des Begehrens. Ist es nicht genau das, was sie - in der nächsten Szene - neben Cole, in der Realität der farblosen, von einer albanischen Familie geführten Eisdiele neben dem Campus in dieser abgetakelten, ostdeutschen Hafen- und Hansestadt hält? Die Albaner berufen sich auf kalabresische Vorrechte. Albani ist ein italienischer Schlüsselbegriff. Es ist schreiend laut, niemand interessiert sich für das Katzentischensemble, dessen soziale Signatur offensichtlich ist. Unter dem Tisch bedrängen sich Extremitäten wie Kälberschnauzen an einem Trog. Du sagst das Richtige, du riechst richtig, jetzt gibt es nur noch eine Stelle, an der du keinen Fehler machen darfst. Warum eigentlich da nicht? Das kann doch auch schön sein. Plötzlich sieht Ned aus wie ein buddhistischer Abt. Mit der Ernsthaftigkeit einer Novizin wendet sich Persephone ihm zu. Ned zitiert Eribon: Emanzipation braucht Urbanität und Freizügigkeit. Er erinnert an Transvestitenbälle in New York als Magneten für heterosexuellen Voyeurismus. Subkulturen sind Erben uralter Lebensweisen. Eine Reflexion der Belle Époque und der Années folles beleuchtete die Ikonographie und Barmetaphorik der Pariser Treffpunkte, als James Baldwin in der Stadt war. In Gedanken führt Persephone Neds Finger. In Wirklichkeit braucht sie das nicht. Die Worte bilden einen Körper mit den richtigen Eigenschaften.
Was man vorab wissen muss. Persephone verbirgt ihre Entschlossenheit. Sie offenbart sich nicht in den Kleinigkeiten des Alltags. Was sie nicht will, ist ein schlecht nachgeahmter venezianischer Karneval mit Masken und Fackeln und abgenutztem Fetischkram. Sie will kein angestrengtes Klugscheißergehabe. Vorhin hat sie Ned in einer Vorlesung sagen hören: Concierge leitet sich ab von Comte des cierges – Graf der Kerzen. Das reichte für einen Moment zwischen Vorglühen und Nachbeben. Es gibt so viele leere Räume in dem alten Unikasten und sogar einen toten Trakt voller mumifzierter Mäuse. Persephone weiß, das Ned Pierre Bourdieus „Anamnese der verborgenen Konstanten“ studiert. Er ist also ein Komplize. Persephone sehnt sich nicht nach einem Komplizen. Sie will auf die richtige Weise falsch verstanden werden. Ned hört auf, sich vorzutasten. Jetzt sitzt er im Sattel. Persephones Gesicht täuscht einen aufmerksamen Ernst vor. Noch immer liegen zwei Lagen Stoff zwischen Neds suchenden Händen und Persephones Blöße. In der chinesischen Kampfkunst unterscheidet man zwischen Wu Sao und Man Sao. Wu Sao bezeichnet die sichernde Hand, Man Sao die neugierige Hand. Ned hat keine sichernde Hand mehr.