„Die Fülle der Arbeit verführt nur zu leicht, die vitale Mechanik einzusetzen.“ Peter Suhrkamp zu Hermann Hesse in einer Kritik an seinem potentiellen Nachfolger Siegfried Unseld
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„Der Mensch ist ein Blinder, der vom Sehen träumt.“ Friedrich Hebbel
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„Mich gehen diese (römischen) Kaiser nichts an, ..., mich interessiert nur, dass sie zu Text von Tacitus geworden sind.“ Heiner Müller
Eheliche Vertragserfüllung
Janis und Seymour kennen sich fast ihr ganzes Leben lang. Einer Kinderfreundschaft gaben sie den Glanz und das Geheimnis adoleszenter Schwurgemeinschaften. Gemeinsam justierten sie ihre Skalen in allen Phasen. Ihr Körpergedächtnis bewahrt Momente, in denen sie sich gegenseitig aufrichteten oder vernichteten. Das erinnerte und das gegenwärtige Geschehen vollzieht sich halbwegs in der Wildnis. Mit Siedlungsmarken aus der Pilgrim-Ära. Ornithologischen Beobachtungen. Ozeanischen Sensationen. Atlantischen Abenteuern. Flora- und Fauna-Exkursionen. Kontemplativen Augenblicken in der Gegenwart lebender Fossile. Kanutouren. Schwimmen in Toteisseen. Toteisseen sind Restposten eines vor zwanzigtausend Jahren geschmolzenen Gletschers.
Dann ist der Augenblick da. Janis stapft an ihrer Familie vorbei in die Nacht, um endlich das geschehen zu lassen, was sie sich jahrelang ausgemalt hat. Ich addiere die Faktoren: der Wein, Seymours Präsenz, Ehemann Archie angesoffen und hinüber auf dem Sofa, die Kinder schlafend im Ferienlagerglück. Der Preis für die Erfüllung eines alten Traums ist der Verlust von Ansprüchen, die sich bis dahin aus der ehelichen Vertragserfüllung ergaben. Das fühlt sich mitunter schon so an wie der Verlust des Familienglücks. In der Verlustangst offenbart sich das Wesen des Glücks. Das Wesen des Glücks ist die Unbeschwertheit; der ungezwungene Umgang mit den Nächsten.
Offenbart sich der Liebesverrat den Betrogenen nicht ohne Weiteres? Dafür gibt es Anhaltspunkte. Archie stellt am Morgen nach der Tat seine Selbstbeherrschung zur Schau und deutet seine Ungemütlichkeit an. Er besteht darauf, der Urlaubsroutine zu gehorchen. Dazu zählt die Einhaltung einer Verabredung mit Seymour und dessen Frau Louise. Treffpunkt ist eine strandnahe touristische Sehenswürdigkeit der Pionier-Zeit. Die mit den örtlichen Verhältnissen von Kindesbeinen an vertraute Janis hat für den alten Kasten keinen Blick. Janis ist die Erbin einer malerisch gelegenen Patrizierburg aus dem 18. Jahrhundert. Auf dem Anwesen stehen seit hundert Jahren marode Bauten einer nie in Betrieb genommenen Freizeitanlage. Das sind mit Presspappe isolierte Verschläge, die als Mahnmale einer fehlgeschlagenen Geschäftsidee zwar ihren ruinösen Campingcharakter behalten haben, aber als Familienferienzentrum eine magische Aufladung immerfort erhalten. Die Paare treffen vorgeblich so freundschaftlich wie eh und je aufeinander. Doch sind die Gräben tiefer und die Spannungsbögen irritierender als am Vortag. Das Gesagte verweist auf (zumindest im Augenblick noch) Unsagbares.
Ich skizziere Janis' Herkunftsgeschichte. Großmutter Caprice stammt aus ruiniertem Fifth-Avenue-Adel. Ihre Schönheit ist das letzte Klan-Kapital. Ein ungünstiges Verhältnis von Anspruch und Vermögen bestimmt das Weitere. Caprice' Tochter, Elisa, Persephone stellt sie sich wie Jackie Kennedy-Onassis vor, geistert mit ihren Töchtern durch die für sie erreichbaren Neben- und Nebellabyrinthe der New England High Society. Elisa beansprucht einen bestimmten Lebensstil, ohne ihn sich selbst garantieren zu können. Die Kinder übernachten ständig bei anderen Leuten, angefangen beim leiblichen Vater, der sich von einer jungen Frau unter Druck setzen lässt. Joe, ein müßiggängerisch-reicher Freund der Familie, bietet den Mädchen in seinem Prachtwohnung die richtige Umgebung. Im Gegenzug turnen er und seine Geliebte Ann nackt vor den Gästen herum.
„War das ein guter Fick", verkündet Ann aufrichtig.
In der Gleichzeitigkeit einer Überforderung der Besucherinnen legt Joe - immer noch hausherrlich nackt - eine Platte von „Emerson, Lake & Palmer" auf:
„Hört euch dieses überirdische Schlagzeugsolo an. Das spielte Carl Palmer 1977 in Montreal."
Vermutlich ging die Sequenz ins kulturelle Weltgedächtnis ein. Die meisten Boomer der westlichen Hemisphäre wurden von Palmers Virtuosität gestreift. Damals sah ein schöner Mann so aus wie Tom Jones oder Burt Reynolds. Man kultivierte den Golden-Age-of-Porn-Look, also volle Schambehaarung.
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Janis und Seymour machen weiter, beinah vor den Augen ihrer Angehörigen. Der außereheliche Verkehr gibt dem Begehren des ahnungslos/ahnungsvoll alarmierten Gatten Auftrieb. Man begreift den Seelentumult. Archies Rationalisierungsinstanzen suchen nach einem Ventil, einer schlichten Lösung. Janis verweigert ihm, was sie Seymour sturzbachartig gewährt.
Janis steigt - in einer archetypischen Szene - in einen See ihrer Kindheit, der weit genug weg von der brüllenden Brandung im Atlantik mündet. Mit Aufnahmen, die an überbelichtete Polaroids denken lassen, memoriert sie den Initiationsreigen lupenreiner WASP-Elevinnen am Ende des letzten Jahrtausends. Sie erinnert Cocktailpartys in ländlichen Massachusetts-Refugien der weißen Mittelschicht mit lauter gelungenen Verkörperungen von Gesundheit und Gelassenheit. Barfüßige Frauen in Strandkleidern, wallstreet-smarte Männer in Seglerhosen, Martinis, Madeleines, blutige Steaks, Mückenstiche, die Geruchsmischung von Pinien, Hitze und Sonnenschutzcreme. Der Nachwuchs tobt unbeaufsichtigt durch die Gegend.