Der Sprachmeister - Die Kunst der Manifestation
Der Sprachmeister ist ein historischer Titel. Seit der Berufung des ersten Professors für neue Sprachen an die Landgraf-Carl-Universität in der nordhessischen Kleinstadt Ederthal firmiert der Leiter des Germanistischen Seminars in einem klandestinen Ritus als "Sprachmeister". Zu den Insignien seiner Autorität gehören Zeichen und Geräte, die an Freimaurer-Praktiken erinnern. Der Sprachmeister-Kult hat aber einen anderen Ursprung, der im Verlauf des Romans aufgedeckt wird. Der amtierende Sprachmeister heißt Cornelius Blattschneider. Ihm begegnet in der Gestalt der Post-Doc-Stipendiatin Nana von Eisenreich eine Unsterbliche.
The Language Master – The Art of Manifestation
The language master is a historical title. Since the appointment of the first professor for new languages at the Landgraf Carl University in the small town of Ederthal in northern Hesse, the head of the German department has been known as the "language master" in a clandestine ritual. The insignia of his authority include symbols and devices reminiscent of Masonic practices. The language master cult, however, has a different origin, which is revealed in the course of the novel. The incumbent language master is called Cornelius Blattschneider. He meets an immortal in the form of the post-doc scholarship holder Nana von Eisenreich.
Kultische Enthaarung
Der Orient ist eine westliche Erfindung. Reisende des 19. Jahrhunderts spekulierten an der Börse ihrer Phantasie. Was auf sie wie Opium wirkte, war in Wahrheit ein europäisches Fieber. Am 4. November 1849 schifften sich Gustave Flaubert und Stéphane Mallarmé in Marseille ein. Ägypten enttäuschte Flaubert, er bemerkte eine Gleichzeitigkeit von Prachtentfaltung und Elend.
Im März 1850 befuhren die französischen Genies den Nil mit einem Wassertaxi.
Die schwüle Orientsehnsucht war ein Aufstand gegen die sachlichen Väter. Es war immer das Gleiche, durch die Epochen. Jeder Klassik folgte eine Romantik, jedem Sturm und Drang eine Lange-Weile Biedermeier.
Wanzen richteten Blutbäder unter den Reisenden an. Sie nahmen Drogen wie am Fließband, was für Goethe Rom und Athen gewesen waren, war für die Flaubert und Mallarmé Bombay (heute Mumbai) und Damaskus.
Zwischen Nana und Stéphane bahnte sich etwas an, sie lausten sich zärtlich. Stéphane war von Haus aus ein leidenschaftlicher Bordellgänger, ein Mann mit Eigenarten. Beim Geschlechtsakt behielt er die Zigarre im Mund und den Hut auf dem Kopf.
Sie besuchten ein Institut für kultische Enthaarung, die Bildungsreisenden verschrieben sich einer Henna-Kur. Flaubert verliebte sich in die Tischtänzerin Kutchuk Hanem. Kutchuk Hanem stand in der Gunst Mächtiger. Flaubert brachte ihr Dekolleté in einen ästhetischen Zusammenhang mit dem Faltenwurf von Mönchskutten. Kurz gesagt, er erlag Kutchuk Hanem.
Kutchuk Hanem verkörperte für Gustave das sexuelle Versprechen des Orients. Später korrigierte er sich. Auch wenn der Pariser Standpunkt das Ungeziefer im Nahen Osten zu „goldenen Arabesken" verklärte, blieben Gustave die arabischen Wanzen besser im Gedächtnis als Sandelholz und Rosenöl. Er kämpfte mit der Ungereimtheit seiner Empfindungen.
In einer jüngeren Inkarnation hat Nana „Im Reich der Sinne" zehnmal und „9½ Wochen" zwölfmal gesehen. Sexuell existiert sie in einer visuellen Echokammer. Sie surft auf Wellen der Simulation.
Das munter wirkende Präparat einer Wildkatze in ihrem Wohnzimmer, die geräumige Abgeschiedenheit ihres Dachbodens, auf dem sich schon mal jemand erhängt hat, das Sonnenfeuersymbol als Holzschnitt im camouflierenden Stil des abstrakten Expressionismus ... Nanas Vorstellungen von Gemütlichkeit streifen das Konspirative. Sie kennt sich mit Waffen aus, kann Karate. Ihre erotischen Lieblingssettings haben mit Sport zu tun. Stichwort Dōjō-Sex.
Nana, in der aktuellen Version eine Frankfurterin mit kurdisch-iranischen Wurzeln mütterlicherseits und einer hessisch-ritterlichen Abstammung väterlicherseits, ist durch und durch Kampfsportlerin. Sie lebt Budo. Kein Tag ohne Training. Nana erweitert ihr Repertoire in Lehrgängen. Sie ist die Frau in der Highend-Version eines Trainingsanzugs, mit der monströsen Umhängetasche und Jumbowasserflasche, die ihre Wochenenden in Vorstadtturnhallen verbringt, um bei Welt- und Großmeistern oder sonst wie hervorstechenden Nahkampfkoryphäen totsichere Messerabwehrtechniken zu lernen. Nanas Interesse an spirituellen Gewinnen ist verflogen. Die geistige Dimension, der erzieherische Wert, die Persönlichkeitsschulung wurden zu Begriffen im Nebel. Nana quält die Befürchtung, das wahre Karate in Deutschland zu verpassen. Da ist niemand so wie die fliegenden Tiger in ihren Träumen.
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„A pleasant smile broke over his lips.“
So sieht Stephan Dedalus, der Held des „Ulysses“ und Alter Ego seines Schöpfers James Joyce, seinen Freund-Feind Buck Mulligan. Die beiden teilen sich eine Wohnung in einem ehemaligen römischen Wehrturm.
"A pleasant smile broke over Nana‘s lips."
Nach einem Schäferstündchen erscheint Nana dem Lyriker Branwell plötzlich wie ein anderer Mensch. Es bedeutet Nana viel, dass Branwell so heißt wie der einzige Bruder der Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë. Branwell Brontë war ein begabtes Irrlicht. Er litt unter Polytoxikomanie.
Nana schmiegt sich an, während sich ihr ganzes Sein einem wahren Meister der Manifestation zuwendet. Du bist es, dem ich mich mit Leib und Seele hingebe, berauscht von Glück. Nana verflüssigt sich, als eine Berührung der Macht ihr eine Gänsehaut beschert. Sie reagiert so vollkommen auf das, was sie eingenommen hat, dass sie nicht mehr versteht, wie sie so lange so uneigentlich existieren konnte, ohne an Atemnot zu sterben. In ihr herrscht eine unbeschreibliche Freude. Nana‘s Körper ist eine einzige perfekt stimulierte erogene Zone. Sie braucht nichts Körperliches von Branwell. Sie wird noch eine Weile seine Wünsche erfüllen und er wird nicht ahnen, dass er nicht derjenige ist, mit dem sie spricht. Und so wird es weitergehen.
Und doch dient Branwell einem eigenen Vergnügen in Nanas erotischem Themenkreis. Seine Aufmerksamkeit schafft den Resonanzraum für das Explizite. Branwell sagt etwas Poetisches vielleicht nur zur Bemäntelung von etwas Gröberem, und Nana sagt das Gleiche in Bauarbeiterprosa.