Der Sprachmeister - Die Kunst der Manifestation
Sprachmeister ist ein historischer Titel. Seit der Berufung des ersten Professors für neue Sprachen an die Landgraf-Philipp-Universität in der nordhessischen Kleinstadt Ederthal firmiert der Leiter des Germanistischen Seminars in einem klandestinen Ritus als "Sprachmeister". Zu den Insignien seiner Autorität gehören Zeichen und Geräte, die an Freimaurer-Praktiken erinnern. Der Sprachmeister-Kult hat aber einen anderen Ursprung, der im Verlauf des Romans aufgedeckt wird. Der amtierende Sprachmeister heißt Cornelius Blattschneider. Ihm begegnet in der Gestalt der Post-Doc-Stipendiatin Nana von Eisenreich eine Unsterbliche.
The Language Master – The Art of Manifestation
The language master is a historical title. Since the appointment of the first professor for new languages at the Landgraf Philipp University in the small town of Ederthal in northern Hesse, the head of the German department has been known as the "language master" in a clandestine ritual. The insignia of his authority include symbols and devices reminiscent of Masonic practices. The language master cult, however, has a different origin, which is revealed in the course of the novel. The incumbent language master is called Cornelius Blattschneider. He meets an immortal in the form of the post-doc scholarship holder Nana von Eisenreich.
Die Verbesserung der Lust - Erweiterung des Spektrums
Erweiterung des Spektrums - Nana brachte Wörter wie Divination in Umlauf, Divination und Idiosynkrasien. Sie las James Joyce und Walt Whitman, froh darüber, mit ihren Vorlieben auf allgemeines Unverständnis zu stoßen. Sie las und lernte auswendig und genoss - wie schwebend - Übergänge von der Sprache über die Kleidung zum Begehren. In den Verkleidungen einer Studierenden ... das Gewand, die Brille, der Pferdeschwanz ... erkundete Nana Randlagen und Höhengrate ihrer Lust.
Aus Nanas Aufzeichnungen
Erst die Liebe (durchgestrichen ist das männliche Begehren) erlaubte es mir, meinen Körper nicht hauptsächlich als Kleiderständer mit Trends verweigerndem Signalcharakter zu erleben. Bis zu Kaplan hatte ich meinen Körper vor allem mit Hunger und Unwohlsein in Verbindung gebracht. Sex mit Kaplan hielt ich für eine Beschäftigung unserer Seelen. Ich umarmte seinen Geist im Fleischmantel. Im Fleischmantel entspricht einer nachträglichen Ironisierung. So hinreißend und aufreizend ich auf die Welt wirkte, das Verhältnis zu meinem Körper bestimmte Betrübnis. Mit Kaplan bekam mein Nackt-sein eine vehemente Bedeutung. Sex mit ihm empfand ich als Erlösung. Nur an dieser Stelle meines Seins fühlte ich mich nicht zerrissen von allen möglichen Forderungen, die ich sonst nie vergessen konnte; die mich mit Unzulänglichkeitsmeldungen traktierten.
Am Anfang unserer Freundschaft kaufte ich einen Band mit Aktaufnahmen, schwarzweiß, was denn sonst. Heute verstehe ich die Bedeutung des Bandes. Ich bot - noch unbeholfen - Kaplan eine Erweiterung des Spektrums ein. Ich ahnte einen Spielraum der Erotik und erbat unbewusst den Zugangsberechtigungscode.
Meine Wirkung war mir verdächtig. Jedermann fand mich reizend. Ich war so ein verdammt wertvolles Mitglied der Gesellschaft, obwohl ich nichts fertig brachte. Immer wieder kehrte ich zu Mia zurück. (Mia ist Nanas literarisches Alter Ego.) Ich traf sie im Seemannsheim und auf einer Straße meiner Phantasie, während ich in einem Hörsaal saß. Ich dachte über ein Dasein als Bordsteinschwalbe nach. Nicht, dass es für mich in Betracht gekommen wäre. Aber Mia stand mir doch sehr nah. Ich brachte Wörter wie Divination in Umlauf, Divination und Idiosynkrasien. Ich las James Joyce und Walt Whitman, froh darüber, mit meinen Vorlieben auf allgemeines Unverständnis zu stoßen. Ich las und lernte auswendig und genoss - wie schwebend - Übergänge von der Sprache über die Kleidung bis zum Begehren.
Ich schrieb Drehbücher für mich. Die Kamera folgte mir in die Uni, sie sah mich in einem antiken Hörsaal. Ich notierte einen Vortrag in Stichworten, während mich Kommilitonen musterten. Mein Rock rutschte hoch, jemand starrte auf meine breitgesessenen Schenkel. Noch endete jede Schilderung vor dem Akt und entbehrte das Explizite. Der Rest erfolgte off the record. Ich stellte mir, wie ich mit einem Mann ohne Vorrede und ohne Intimität zur Sache komme. Die einzelnen Szenen glichen Holzschnitten und entsprachen Konjugationen.
Die Verbesserung der Lust wurde zu meinem heimlichen Hauptthema. Sie verband sich mit Verbesserungen meiner Garderobe, einem Interesse an wertvollem Schmuck und teurer Unterwäsche. Das Programm verblendete eine brennenden Sehnsucht nach Sprachmacht. Ich brauchte einen Höhenflieger ... einen Sprachmeister, der es mir gestattete, explizit zu sein. Davon hing meine Lust ab. Die schiere Selbstermächtigung, Obszönität als autonome Geste, der verbal erigierte Mittelfinger, das bedeutete mir nichts.
So verstand ich, dass der Spielraum ein Resonanzraum war, ein Erregungsverstärker. Jemand musste mir die Tür zu einem Raum öffnen, in dem ich vom Glück überrascht wurde. Suche ich einen Vergleich, denke ich an ein Ehepaar, dass sich ab und zu in einem Hotel einquartiert, um an einem unvertrauten Ort Sex zu haben. Die fremden Gerüche, dünnen Wände und der Service verändern (in einer optimistischen Lesart) bewährte Spielanordnungen zum Vorteil der Liebenden.
Der Vergleich ist zu schwach. Die Studierende, die ich war, wusste schon, dass sie auf Monumentalität angewiesen war; auf eine Dimension, die man bei Tageslicht verleugnet.
In der Gegenwart der Romanereignisse im ersten pandemischen Sommer - die Germanistin Nana sorgt gerade mit ihrer Neubewertung einer nicht allein literaturhistorisch prominenten Konstellation über die Fachwelt hinaus für Furore. Ihr verdankt sich der Nachweis, dass Aurora-Wanda Sacher-Masoch, angeblich die Urmutter als Dominas, ihre Rolle - der Not gehorchend - nach Regieanweisungen ihres unterwürfigen Gatten spielte. Nana fand auf einem Umweg via James Joyce zu ihrem Thema. Der irische Schriftsteller komponierte im Ulysses nach dem Vorbild der Sacher-Masochs das Ehepaar Leopold und Molly Bloom. Leopold Bloom ist der Prototyp des lächerlichen Mannes. Der Ulysses-Schluss-Soliloquium, in dem Molly ohne Punkt und Komma quasselt, gilt als Darstellungsgipfel weiblicher Psychologie. Nana steht kurz vor der Vollendung einer Generalabrechnung mit dieser Deutung. Sie entlarvt den Monolog als Klischee-Konglomerat, das vor allem männliche Vorurteile transportiert. Wir sehen sie im Büro ihres Chefs. Professor Blattschneider ist der Sprachmeister. Das ist ein historischer Titel nicht nur an der Landgraf Philipp Universität zu Ederthal. Philipps Beiname der Großmütige bezog sich nicht auf ein mildes Wesen, sondern auf großen Mut. Philipp I. war der oberste Waffenmeister der Reformation und maßgeblich an der Niederschlagung der Bauernaufstände beteiligt. Brecht sagte, die Bauernaufstände seien das größte deutsche Unglück gewesen, da sie zu früh geschehen seien. Unser Landgraf engagierte sich nicht aus besonderer Zuneigung zu Luthers Lehre. Mit dem protestantischen Schwert bekämpfte er kaiserlich-katholische Ansprüche auf hessische Landesteile.
Kernschuss ins Herz der Zeit
Im Augenblick gefällt es Nana, Cornelius' appétit pantagruélique zu wecken. Bei ihm entspricht der Appetit nicht nur einer bramarbasierenden Geste. Sein Begehren ist einem repas gargantuesque gewachsen. Siehe François Rabelais, Gargantua und Pantagruel. Cornelius‘ Anspruch auf Lufthoheit formuliert sich hemmungslos und unbefangen.
Eine halbe Stunde später sitzt Nana an ihrem Schreibtisch und bedenkt eine Passage in Stefan Zweigs genialer Einfühlung „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“. Von seinen Freunden nach England gerufen, kommt Erasmus von Rotterdam 1509 bei seinem ungemein tatkräftigen Freundes Thomas Morus in London unter. Der Inhaber bedeutender Ämter führt eine exemplarische Existenz und ein offenes Haus. Seine engste Umgebung gleicht einem Zukunftslabor. In dieser Sphäre entsteht die erstmals 1511 „im Quartformat" publizierte „Scherzschrift“ Lob der Torheit.
„Der einmalige und unwiederholbare Kunstgriff dieses Werkes ist ein genialer Mummenschanz: Erasmus nimmt nicht selber das Wort, um alle die bitteren Wahrheiten zu sagen, die er den Mächtigen dieser Erde zudenkt, sondern er schickt statt seiner die Stultitia, die Narrheit, auf das Katheder, damit sie sich selber lobe. Dadurch entsteht ein amüsantes Quiproquo." Stefan Zweig
Galliges Genie
Erasmus verstellt die Wege zur eindeutigen Zuordnung. Die Frage wer sagt was verhält sich abdeckend zum subversiven Grund des Gesagten. Unglaublich geschickt schützt sich der Autor vor der Inquisition. Zweig erkennt eine „souveräne Maskenkunst". Er spricht von einem „Kernschuss ins Herz der Zeit aus völlig lockerer, bloß spielender Hand getan". Der Autor zeigt seinen Helden als einen vor den „Türen der Mächtigen" zwar bitter und gallig gewordenen, von jedem rebellischen Impetus jedoch unberührten Diagnostiker.
In weiteren Ausgaben kommentiert Erasmus das Werk. Er schildert tatsächliche und vorgebliche Intentionen aus, und erklärt, dass sein „Lob" im Ganzen „als pädagogischer Text zu lesen sei" (Sandra Langereis).
Das Pamphlet trifft einen Nerv. Viele Gläubige verurteilen die Zügellosigkeit geistlicher Renaissancegranden und verlangen eine Kirchenreform nach dem Wortlaut der vier Evangelien. Sie wenden sich gegen den „Missbrauch des Reliquienhandels und (gegen) den Ablassunfug". Erasmus stellt die Herrschenden bloß, ohne aus der Deckung zu kommen. Er plädiert für eine „Renaissance des Religiösen". So avanciert er zum Vordenker der Reformation. Gleichzeitig graut ihm vor einem Schisma.
Wir bewundern Erasmus' Fähigkeit sich wortreich zu verbergen. Ungestraft spricht er Dinge aus, die kundzutun sich sonst keiner erlauben kann.