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2024-08-05 12:34:29, Jamal

Kristallbegriffe

„Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren.“

Er setzt seinen Taufnamen zwischen zwei angenommene, jedenfalls nicht ererbte Namen. Er verschmäht die Sprache seiner holländischen Ahnen und gibt Latein den Vorzug. In seiner Anverwandlung „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ spricht Stefan Zweig von einer planvollen „Verschattung“ der unehelichen, sprich delegitimierenden Abstammung. „Ärgerlich“ sei es gewesen, von einem Priester gezeugt worden zu sein. Der Autor unterstellt Erasmus die Geburtsnot eines unerwünschten Kindes. Erasmus dementiert sein Schicksal, indem er sich zum Desiderius erklärt. 1487 tritt er in den Augustinerorden ein, ein Jahr später legt er das Gelübde ab. Ohne besondere Frömmigkeit frönt er seinen künstlerischen Neigungen. 1492 weiht ihn der Bischof von Utrecht zum Priester.

Der „freidenkende und unbefangen schreibende“ Erasmus bleibt Priester, wenn auch mit weltlichen Spielräumen. Er erlangt Dispens, wo immer ihn der Priesterschuh drückt. Zweig erkennt einen „inneren Unabhängigkeitszwang“.

Nana bedenkt ihre eigene Herkunft. Ihre Mutter ist eine iranische Kurdin, ihr Vater ein Mitglied er althessischen Rittergesellschaft. Die Rede war schon von einem Spagat der Kulturen. Nana erkennt in Erasmus einen gewieften Taktiker. Der Epochale scheut Streit und revolutionäre Ruppigkeit. „Unnützen Widerstand“ vermeidet er. Lieber „erschleicht (er sich) seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen“.

Auch Nana fällt nicht gern mit der Tür ins Haus. Sie schätzt verschattete Manöver und belohnt die (Er-)Kenner ihrer Raffinesse. Manchmal stürzt sie  sich förmlich in ein gewiss unerwartet zartes Lächeln, während sie es als Nebensache erscheinen lässt, dass ein Mann im Anblick ihres in Spitze gefassten Busens versinken kann.

*

Nanas Freundin Lale Schlosser inszeniert auf der Studierendenbühne Heiner Müllers Hamletmaschine. Nana registriert die Details. Sie sieht ein Feininger-Geisterhaus. Es tropft aus Rohren wie in Tarkowski-Filmen. Ruinierter Pomp, zerschlagene Quadriga. Übermalte Fotos. Gemalte Flugzeuge, verwischt wie von Gerhard Richter. Dann kommt der „zweite kommunistische Frühling“ als Bemerkung zur Seite gesprochen, Ophelia nimmt im Rollstuhl Platz.

Hamlet sagt: „Was du getötet hast, sollst du auch lieben.“

Die Hamletmaschine fegt die Bühne: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein.“

Es soll nicht nur um die Verteidigung der DDR-Ampelmännchen gehen. Da ist ein Staat zerfallen und niemand in Nanas und Lales Nähe hat das berührt. Die Herrschaft von Helsingör fällt Fortinbras zu. Ihn erwartet „das Kanalisationsprojekt und der Erlass in Sachen der Dirnen und Bettler“. Hamlet sagt er nach: „Du glaubtest an die Kristallbegriffe und nicht an den menschlichen Lehm.“

Joint Attention

Nana lockt Branwell in den toten Trakt. Sie trägt ein schwarzes, asymmetrisch geschnittenes Kleid mit schräger Knopfleiste aus Yohji Yamamotos „karg-eleganter Sommerkollektion“ (aus der Werbung). Japanische Haut Couture mit einem androgyn-dekonstruierenden Ansatz. 

Schön, wenn man mal nicht vor Begeisterung gähnen muss. Joint Attention nennen Fachleute die geballte Aufmerksamkeit. Ohne dieses evolutionäre Format einer menschlichen Fähigkeit gäbe es kein Theater.  

Es herrscht pharaonische Totenstille im Karzer. Die akademische Arrestzelle wurde bis 1945 im Rahmen der akademischen Gerichtsbarkeit genutzt. Die Wände sind archäologisch wertvolle Fundstellen. Branwell erzählt von einer niederhessischen Täufersekte. Die Immersionisten nannten sich Tunker. Geschlossen wanderten sie nach Amerika aus. Aus Tunker wurde Dunker. Ihren religiösen Betrieb halten sie in Pennsylvanien bis heute aufrecht. Dazu bald mehr.