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2024-08-06 09:52:29, Jamal

Das gläserne Versteck

Unzucht ist ein Wort, das nach Harnstein, Waisenhaus und Jugendarrest stinkt. Dieses Wort atmet in Nana. Sie will Unzucht treiben. Ist das in einer säkularen Gesellschaft überhaupt möglich? Am zweiten Tag ihres gemeinsamen Wahnsinns schlägt Nana als Schauplatz der ersten koitalen Penetration den malerischsten Raum im toten Flügel der Universität vor – den Karzer.

„Karzer waren die Bezeichnung für Arrestzellen an deutschen Universitäten, in denen bis Anfang des 20. Jahrhunderts Vergehen im Rahmen der eigenen akademischen Gerichtsbarkeit der Universitäten geahndet wurden.“ Wikipedia

Sie tut dies per SMS. Sie stellt sich vor, wie Cornelius ihr Angebot liest. Die Vorstellung löst etwas aus, das Nana dazu veranlasst hinzuzufügen: Ich möchte auf etwas bewegt werden, dass ich für einen Altar halten kann. Die Formulierung spiegelt Nanas Wunsch, getanzt zu werden, der bereits an anderer Stelle besprochen wurde. Als geborene Followerin wünscht sie sich Führung.  

Ich möchte bewegt werden. Diese vier kleinen Worte genügen für einen bilateralen Klimax. Sie erfüllen den mächtigen Wunsch des Sprachmeisters, Nana unter Kontrolle zu bringen und ihren Scharaden ein handfestes Ende zu bereiten.

Nana stachelt Cornelius auf. Sie will, dass er aus sich herauskommt, sich gehen lässt und sich kompromittiert. Sie sehnt sich nach den heftigsten Worten seines Verlangens; nach einem Moment der Hemmungslosigkeit, hinter den er nie wieder zurücktreten kann.

Nana genießt Cornelius‘ Verzweiflung, die sie heraufbeschworen hat. Er kann sich nicht sicher fühlen. Er darf sich nicht sicher fühlen. Sonst könnte er nachlassen. Er könnte seine Anstrengungen reduzieren, anstatt sie zu verdoppeln. Kurz gesagt, Nana fordert Cornelius wie eine Trainerin heraus, um ihn an seine Grenzen zu bringen. Aber er wird trotzdem langsamer. Irgendetwas stimmt nicht mit der aufgeladenen Beziehung. Nana spürt eine gewisse Einseitigkeit und erlebt dies wie einen Verlust des Gleichgewichts.

Sexualität und Geheimnisse

Begegnet Marcel Prousts Baron Charlus jemand mit der unangenehmen Vertraulichkeit eines gottlos-geschwätzigen Kirchgängers, knickt der Vornehme stets ein, bevor ein Elender seine Messe der Peinlichkeit auf Charlus' Kosten fertiggelesen hat. 

Wäre ich Junggeselle, würde ich ... sagt so einer. „Sie verstehen es gewiss besser als ich, ein paar Matrosen anzuspitzen." 

Charlus reagiert allergisch auf Allusionen solcher Indezenz. Eribon konstatiert: „So kann der Baron glauben, dass er nichts von seinem Laster verrät, während sein Geheimnis doch allen bekannt ist und ihn Sarkasmen ... aussetzt." 

Charlus fühlt sich von seiner eigenen Diskretion geschützt. Eve Kosofsky Sedgwick spricht von einem „gläsernen Versteck" und charakterisiert die Recherche im Ganzen als ein „Schauspiel des Verstecks". Die Recherche verhandelt die permanente Inferiorität, in der Charlus stellvertretend für seinen schwulen Schöpfer Proust steckt. 

Auch Cornelius weiß sich in einem gläsernen Versteck. Nana kann ihn jederzeit bloßstellen, während er nichts gegen sie in der Hand hat. Ihre sexuelle Abenteuerlust gefährdet sie nicht. Egal, was sie tut, es ist okay ... es ist weibliches Empowerment.