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2024-08-15 12:14:19, Jamal

Das Schweigen, das dem Scheitern folgt

Die Bedienung knackt Kronkorken mit einem Feuerzeug vom Flaschenhals. Sie reicht die Flaschen wie am Fließband an, es ist fünf Uhr am Nachmittag, der gemeine Malocher begeht seinen Feierabend gewohnheitsmäßig mit Bier und nur ausnahmsweise aus der Flasche. Die Zapfanlage ist ausgefallen, Nana und Mick hocken im Moritzeck.

Einhellig missachten alle die Maskenpflicht (im ersten Pandemiesommer). Nana findet im Augenblick alles falsch. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sagt Adorno. Die längste Zeit schweiften wir aus. Wir waren so viel länger auf die natürlichste Weise Wildbeuter, als wir Nutzer fossiler Energie sind, dass in uns allen die Sehnsucht nach dem Wald schlummert. Deshalb entspannt uns die Farbe Grün. Vor zwanzigtausend Jahren waren wir noch Jäger und Sammler ohne Ausnahme. Die Wildbeuter-Gemeinschaften der Gegenwart agieren nach einer Hauptmeinung der Anthropologen im sozialen Schatten der Fossilenergienutzer ohne Verbindung zu ihren und unseren prähistorischen Vorgänger.

„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren.“ Ian Morris

„Unsere Lyrik ist Kunstgewerbe für Jäger und Sammler, es passt kein Telefon in ein Gedicht, alles Butzenscheiben, die Wirklichkeit bleibt vor der Tür.“ Heiner Müller

Der Aufenthaltsraum bestimmt den Bedarf. Der Kalorienverbrauch nimmt mit der Nähe zum Äquator ab. An den Polen ist er am höchsten. Zeit und Aufwand zur Energiegewinnung unterliegen der Rationalität. 

Kleine Gruppen, flache Hierarchien, kaum Privateigentum, große Reviere: zwei bis acht Verwandte waren mit stärkeren Verbänden fortpflanzungstechnisch verbunden. Gemeinsam sprang man in den Genpool.

Es gab Varianten im Schlaraffenland. Reiche Jagdgründe begünstigten die Sesshaftigkeit. Sesshaftigkeit begünstigte immobilen Besitz und den Aufbau von Hierarchien. Feste Lager nahmen die bäurische Lebensform vorweg.

Der Verzicht auf Gott schließt auch den Teufel aus. Sigmund Freud bemerkt das irgendwo. Natürlich ist man am Ende wieder da, wo der Teufel (dieser abgedankte Gott) wohnt. 

Der Kaffee ist eine Katastrophe. Der Geruch von Alkohol macht Nana krank. Geraucht wird auch in diesem Loch.  Wie viele Wanderer zwischen den Welten, gleicht Mick oft einem Somnambulen und erscheint manchmal ohne jede Geistesgegenwart. Er ist über den Punkt hinaus, sein Überleben in Abhängigkeit von seinen Fähigkeiten zu sehen. Er ignoriert Regeln der Eigensicherung, setzt sich mit dem Rücken zum Geschehen und unterlässt die Erkundung von Fluchtwegen. Er glaubt nur an sein Glück und nennt es Zufall, um es nicht zu beschreien. Die Gefahren seines Lebens machen ihn abergläubisch. Hat er seinen Talisman daheim vergessen, kehrt er um.

Die Bedienung kommt an den Tisch, rotzig mit der Kippe im Mund. Ein Gör der Gegend in blinder Bereitschaft, die nächste Generation Plagen in die Welt zu setzen. Ihr Freund bewacht sie. Er steht an einer Thekenschmalseite und redet mit Männern, die in Lohn und Brot stehen, Gärten, Autos und Frauen haben, aber trotzdem wie Tippelbrüder aussehen, weil sie nun mal zu den Verarschten gehören und sich das auf ihr Selbstbewusstsein ungünstig auswirkt.

„Wollt ihr noch was?“ fragt die Bedienung uninteressiert.

Sie kann nichts dafür, so dumm zu sein, denkt Nana hochmütig. Die Professorentochter geht davon aus, dass die Unterprivilegierte eine schwere Kindheit hatten. Mick verscheucht die Servicekraft wie eine lästige Fliege. Er gibt schon so lange Befehle, dass er alle als Untergebene betrachtet. Er legt eine Hand auf Nanas Oberschenkel. Er zieht den Faltenrock hoch und greift in das nackte Fleisch im spitzen Winkel.

Der Seuchen Schönheit gipfelt in Motiven von Boccaccio und Botticelli

Paolo Giordano rät, „der Pandemie einen Sinn zu geben". Der Neurobiologe Martin Korte empfiehlt die Etablierung neuer Routinen. Jan Philipp Reemtsma bemerkt die Dysfunktionalität alter Routinen. Geert Mak sieht uns getroffen. Wer sind wir? Sind wir die Bullshiter auf der nordeuropäischen Empore; in ihrer Irrelevanz Begünstigte des Schicksals Geografie? Milo Rau sieht Chancen: Ein Paradigmenwechsel könne dazu führen, dass alte Gespenster ihre Spielberechtigung verlieren.

„Vielleicht müssen wir (nach der Pandemie) gar nicht zurück in die Räume aus dem 19. Jahrhundert." Milo Rau

Social Distancing bringt familiäre Nähe. Zeit für die Kinder und zum Nachdenken entdeckt Bas Kast in seiner persönlichen Krisenschatztruhe. Corona verhilft zu einer Idee von kanadischer Eigentlichkeit. Man tritt vor das Blockhaus und ein Momentum der Seligkeit entfaltet sich.

„Grenzschließungen vermitteln den Eindruck von Entschlossenheit, aber in Wirklichkeit bewirken sie gar nichts." Das behauptet Anne Applebaum. Die Regierenden wittern ihre Chance. Die Historikerin warnt. Regierungen nutzen Pandemien von jeher, um Freiheitsrechte zu verkleinern und machtherrlich zu expandieren.

„Wenn Menschen Angst haben, beugen sie sich." Anne Applebaum

Karl Heinz Götze bemerkt im freien Galopp komplementärer Kongenialität in seinem Aufsatz Der absolute Geist, die Cholera und die Himmelfahrt des Philosophen. Hegels Tod und Bestattung (1831): „Preußen machte (nach dem Choleraausbruch im angezeigten Jahr), was man am besten konnte. Man führte Krieg gegen die Krankheit, zunächst mit den schärfsten Maßnahmen. So schloss man anfangs Posen mit einem dreifachen Militärkordon ein in der vergeblichen Hoffnung, so das weitere Vorrücken der Krankheit nach Westen aufhalten zu können. Die Cholera lachte darüber und holte am 23. August 1831 keinen Geringeren als Gneisenau, den Oberbefehlshaber des Preußischen Heeres, im November des gleichen Jahres Clausewitz, den berühmten Strategen."