Sprachgymnastik auf der Wortmatte
Nana ist intelligent, sieht gut aus, verdient leicht ihr Geld, hält ihr Leben in Ordnung und hat viele Orgasmen.
Sie badet in einem Hotelschwimmbad. Das ist der letzte Schrei in dieser kleinen Stadt, die Jahrhunderte ein zentraler Schauplatz kurhessischer Landesgeschichte war. Der Pool ist in einer Dachterrasse eingelassen. Die zehn High Potentials, die den Ederthaler Kuchen unter sich aufteilen, genießen die schöne Aussicht. Nana genießt die Aufmerksamkeit. Sie badet auch in den Blicken. Sie balanciert auf einem erotischen Hochspannungsseil.
Zur gleichen Zeit hält Cornelius einen Vortrag über frühe Darstellungen von Homosexualität. Er spricht über Balzacs schwachen Helden Pons (in „Cousin Pons“). Pons wird von seinen Verwandten verachtet. Sie sehen in dem Vertreter einer nichthegemonialen Subkultur einen „Parasiten“ und rächen sich mit Beleidigungen. Privat lebt Pons bescheiden in einer WG mit dem deutschen Musiker Schmucke, den er zu seinem Erben einsetzt. Dies ist die Schlüsselkonstellation. Sie offenbart den Charakter einer Beziehung, die keine Aussicht auf Anerkennung hat.
Sina vergöttert Cornelius aus nächster Nähe. Ihre vehemente Weiblichkeit will nicht übersehen werden. Der Ausschnitt ist ein Blickfang erster Güte. Mit diesem Detail als erotische Beute zieht sich Cornelius in sein Büro zurück. Er versucht, Nana zu erreichen. Sie ist nicht erreichbar, aber Cornelius findet eine Nachricht von ihr: „Ich möchte mich mit dir in den Chimären verlieren, die wir geschaffen haben.“
Das ist jetzt nicht genug. Cornelius ejakuliert in eine Kentia-Topfpalme (Howea Forsteriana). Die abrupten Verminderungen der Großhirn- und Hypothalamus-Aktivitäten erzeugen ein Stimmungstief. Um es zu vertreiben, macht Cornelius Liegestütze und Klimmzüge. Aufgepumpt stellt er sich in einem Seminarraum der nächsten Gruppe angehender Philologinnen. Es geht um Samuel Beckett. In den 1950er Jahren beginnt Beckett das eigene Werk in seine Muttersprache zu übertragen. Er übersetzt sich selbst aus dem Französischen, so wie er sich in den 1920er Jahren ins Französische zu übersetzen begann. Er synchronisiert seine Denksprachen zunächst mit dem Ehrgeiz im Französischen völlig ungezwungen aufräumen zu können. Er sucht Wörter, die der Wirklichkeit gewachsen sind. Ornament und Verbrechen - Schiere Sprachmöblierungen sind ihm ein Graus. Er will die Schonbezüge von den Wörtersofas ziehen.
Becketts Unnachsichtigkeit entgeht bald kaum noch ein Fehler. Sein Französisch schweift in der Originalität aus und gewinnt allmählich jene Elastizität, die man als sprachgymnastische Funktion in ihren Schwingungsgraden unbewusst wahrnimmt. Ihn treibt es, die innere Muttersprachbeweglichkeit fremdsprachlich zu veräußerlichen.
Polyglott schwelgt Beckett in Nuancen und Valeurs. Besonders gern harkt er die deutsche Sprache.
„Scheußliches Wetter. Crawled out after I to Stadtschänke. Sülze. Grässlich.“ 1936 in Hamburg
Das Auditorium ist ohne Ausnahme weiblich. Für die Frauen ist der markige Dozent mit dem unglaublichen Wortschatz eine angenehme Abwechslung zur akademischen Tristesse. Cornelius wirkt wie ein hyperenergischer Yoga- oder Kampfkunstmeister.
Becketts Entschluss, den Zweiten Weltkrieg in Frankreich zu überleben, war nicht selbstverständlich. Er kannte in den Tagen vor der Invasion kaum noch jemanden in Paris und die Agglomeration kannte er nur von Exkursionen. Ned erinnert sich, irgendwo in Richard Ellmanns detailbesessener Joyce-Biografie gelesen zu haben, dass Beckett einmal wegen Formlosigkeit auf dem Land zurückgelassen werden musste, und dass die von Joyce angeführte Ausflugsgemeinschaft im Weiteren den unbekannten Iren aus dem Kollektivblick verlor.
Cornelius hat keine Lehrverpflichtungen mehr. Sina steht vor seinem Büro. Sie kommt aus Rostock und gehört zu einer Partygang, die im universitären Umfeld die Nacht zum Tag macht. Sie drängt ins Büro. Da endet ihre Dynamik schlagartig. Cornelius bietet Sina keinen Sitzplatz an. Schließlich kann er in Zierenberg (bei Kassel) immer noch das Leben eines rural basierten Millionärs genießen, wenn in der Uni jemand auf die Idee kommt, ihn auf die übliche Weise zu ruinieren. Cornelius bedenkt kurz den ererbten Reichtum.
Sina setzt sich einfach und beginnt ein Gespräch über die Verwüstung mecklenburgischer Dörfer. Das bleibt auch außerhalb von Pandemiezeiten ein Phänomen. Alle, die es sich leisten können, ziehen von Berlin in irgendein baltisches Dorf. Connaisseurs sind immer schon weg, bevor die Trittbrettfahrer eintrudeln. Die Wahrheit ist, dass es die Trittbrettfahrer sind, die die Dörfer verderben, weil sie glauben, dass ihre urbanen Binsen göttlicher Inspiration entspringen. Das ist alles lächerlich.