Berliner Ostbrachen
Als Berliner Ostbrachen nach 1989 zu Partykulissen avancierten, schlug Simons große Stunde. Der fähige Autodidakt zimmerte das Clubinterieur im Stil der elegisch ruinierten Brandmauer zusammen und glänzte als Liebhaber in einem Dauerfeuer der Gelegenheiten. Mit Isabel zeugte er Marion. Das Paar heiratete. Die Ehe hielt nicht. Isabel verließ die Familie. Ohne solide Existenzgrundlage war der alleinerziehende Vater dauerhaft überfordert.
Marions Erscheinen auf der Welt bedeutet für die Eltern unerwartete Veränderungen. Der Fahrplan des Lebens muss umgeschrieben werden. Marion wächst zwar in einer Platte auf, aber zum Wohnraum gehört eine zwanzig Quadratmeter große Dachterrasse. Die Spaltung ist sofort da und zieht sich als breiter werdender Riss durch die Jahre. Draußen herrscht der raue Ton diverser Unterschichten, zu Hause hat man Bücher und abweichende Wertvorstellungen. Abweichend von den Parolen, die auf der Straße ausgegeben werden, und die Marion als Gegenprogramm zu den familiären Devisen zulassen muss, um im öffentlichen Wettbewerb nicht durchzufallen.
Im Gespräch beweist Marion ein beinah perverses Vergnügen an den Details eines von prekären Standards erschütterten Glücks im Winkel. Mein Blick schweift ab und heftet sich an zwei junge Frauen, die am Rand des gastronomischen Freiluftgeschehens auf einer öffentlichen Bank Rotkäppchen Sekt trinken. Irgendwas stimmt nicht mit ihrer Performance. Den zur Schau gestellten Gleichmut gegenüber dem allgemeinen Hin und Her nehme ich ihnen nicht ab. Das Kind Marion kultiviert eine Mischung aus Mimikry und Widerstand. In der Gesellschaft Gleichaltriger stellt sie ihr Licht unter den Scheffel und verschleiert ihre bürgerlichen Spielräume. Am Esstisch speist sich die Abwehr gegen das Ehepaar, dem man zugeteilt wurde, aus Argumenten, die sonst wo aufgeschnappt wurden. Die Mutter arbeitet halbtags. Wir reden lange über halbtags arbeitende Mütter. In Boomer-Westdeutschland haben alle diese halbtags arbeitenden Mütter, die mit der Tätigkeit Selbständigkeit verbinden, und nach der Arbeit sich in der weiblichen Hausgemeinschaft ein wenig gehenlassen. Im Wohnzimmer der Gastgeberin steht der Zigarettenrauch wie eine Wand. Es riecht nach Haarspray, Kaffee, Likör und Möbelpolitur. Das private Elend jeder einzelnen Partei kehrt sich wie von selbst unter den Teppich des komplizenhaften Schweigens. Die Mutter macht sich aus dem Staub. Auch Marion erträgt väterliche Gewalt. Verliert der Vater die Beherrschung, stellt er Marion vor die Wahl, einen Schläger zu lieben, oder keinen zu haben, den sie lieben kann. Die Alternative zur Liebe mit Hiebe ist nach den Gesetzen der Gegend auf jeden Fall das größere Armutszeugnis. Als Kind rau angefasst und nun auch eingefasst, macht sich Marion bei jeder Gelegenheit gerade.
Der Vater ist ein besonderer Fall. Simon war mal wer an einer Frontlinie des Vergnügungskampfs. Er richtete Clubs ein und schuf Stilikonen. Er zog Design- und Kokslinien. Irgendwann war die Party vorbei. Anspruchsvolle und ehrgeizige Frauen zeigten sich nicht mehr interessiert, die Auswahl schrumpfte zusammen auf das Angebot in den Pilsstuben an der Brunnenstraße weit weg vom Schick des Rosenthaler Platzes.