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2024-08-20 12:42:30, Jamal

Moderner Tempelbau

Bis ins 17. Jahrhunderts redete man über Sexualität roh, unanständig und freimütig. Das Unziemliche fragte nicht nach Duldung, die Schamlosigkeit fand Platz in den Verlautbarungen der Volksseele. Erst mit Beginn der Moderne wurde über die Lust in unseren Breiten ein einigermaßen blickdichter Mantel geworfen. Die Praktiken gehörten in ein Schlafzimmer, das obendrein ehelich zu sein hatte. Alle geschlechtlichen Freuden standen im Dienst der Fortpflanzung. Michel Foucault (1926 - 1984) erklärt die Prüderie zum Medium der Lust. Dem Analytiker der Herrschaftsformen gelang ein verblüffender Nachweis. Anstatt den Sex zu verschweigen und ihn zum Verschwinden zu bringen, bemächtigen sich seiner die Instanzen der Macht. Nicht nur das kirchliche Beichtwesen verwaltet seit dem Mittelalter das Gewissen der Schäfchen. Seit dem naturwissenschaftlichen 19. Jahrhundert wird der naturwüchsige Sex in „Sexualität“ verwandelt. Sexualität meint das normierte Allgemeine, wo in Wahrheit die individuellen Ansprüche auf eine eigene Geschlechtlichkeit auf dem Spiel stehen. Foucault deckt auf, wie man Menschen enteignet, indem man sie zu Geständnissen zwingt. Die Verwalter der Lüste machen ihr Thema zum Gegenstand einer schier unermüdlichen Produktion von Wissen. An der Grenze von Ökonomie und Biologie entsteht die methodische Erfassung aller denkbaren Verhaltensweisen. Ein Heer von Pädagogen und Prognostikern erfasst den Menschen von Kindesbeinen an sexuell. Der Wille zum Wissen (Foucault 1976) spannt ein dichtes Netz über alle Fragen des „Sexes“. Abweichungen werden mit heißem Bemühen kartografiert. Perversionen finden ihren Platz in den Topografien der Lüste. Das persönliche Geständnis bildet die Basis jeder Aufdeckung.

Lara tritt mich. Vehement soll ich für sie und gegen meinen ewig besserwisserischen, kindlich überheblichen und zweifellos - außer von Lara - nur von sich selbst berührten Bruder Partei ergreifen. Ein dritter schöner Tag in Folge überstimmt jedoch jeden Missklang, wir frühstücken in Hans‘ Verbindungsburg. Das Bodenmuster im kleinen Speisesaal - ein Schachbrett aus Kacheln liegt da. Wie eine abgebrochene Arbeit sieht die Wiederholung an der Wand aus.

Vor dem Neuen Rathaus trifft Hans einen Kollegen. Die Dozenten konfrontieren sich mit pompösen Formulierungen in Ironie-Rahmen. So sehen Rivalen in Academia aus. Das Gehabe offenbart schwer erträgliche Eitelkeit auf beiden Seiten. Beide sind ebenso eitel wie empfindlich. Sie werden als zweitklassige Koryphäen versauern. Tenure and die, sagt man in Amerika. Nach der universitären Festanstellung schwindet der wissenschaftliche Elan in den Mühlen des akademischen Alltags. Das Grün der Hoffnung wird zum Grau der Gewohnheit. Die schöne, neugierige und zuvorkommende Stipendiatin, die den soziophobischen Nerd geduldig aus der Reserve gelockt hat, blüht als Gattin nur noch in ihrem Garten auf. Ich will nicht ungerecht sein. Sie verliert nicht ihren Charme, ihren Witz und ihre schöne Umgänglichkeit. Nur entfaltet sich die Kompetenz kaum noch im Verhältnis zu dem schwierigen Fall, mit dem sie verheiratet ist.

Auf dem Marktplatz verliebt sich ein Hund in Lara. Der Halter sucht seinen Gewinn. Sein Schädel ist bis auf einen Streifen rasiert.

Lara kreist um ihre Zwillinge. Das breit angelegte, ihren Lebensraum ausfüllende Liebesspiel, beansprucht jede Faser. Lara spielt Tischtennis mit unserer Mutter. Sie gibt die Schwiegertochter. Jetzt gleitet sie von Foucault zu Ed Geins, der als Kannibale und Fetischist auf die Phantasie der Jugend wirkt. Geins exhumierte Frauenleichname und zog ihnen in seinem häuslichen Slum die Haut ab. Er fertigte Accessoires. Seinen Festtagsschmuck. Darin tanzte er im Wald.

Lara kalkuliert den narrativen Ertrag aus unterkühlter Darstellung. Wir beobachten ambulante Händler, die vor der Jacobikirche Messingschmuck und Tücher anbieten. Ihre Ästhetik ist seit zehn Jahren abgelaufen. Sie haben in Amsterdam und Kopenhagen gelebt. Mit Frostbeulen kehrten sie einst zurück, fassungslos wegen des allgemeinen Rücklaufs.

Göttingen im Sommer 1990 - Die Biergärten und Eisdielen laufen über. Hans dirigiert uns zu einem Café an der Jüdenstraße. Mein Bruder hat noch nie von Marvelous Marvin Hagler gehört. Ich gebe ihm eine Vorstellung vom Switchhitter Hagler. Die Kombination schneller Hände mit wechselnder Auslage … am nächsten Tag treffen wir uns vor dem Institut für Leibeserziehung. Die terrassenförmige Anlage ist moderner Tempelbau. Ein überspannter Dichter würde sagen, das Sakrale lasse sich vom säkularen Zeitgeist nicht entthronen. Lara zupft ihre Shorts zurecht. Die Kombination von wippendem Schopf und Ulrike-Meyfarth-Beinen reizt mich noch immer bis zum Wahnsinn. Lara tritt barfuß wie Abebe Bikila in Rom an.

Abebe Bikila! Erinnert sich noch jemand an Abebe Bikila? Der Marathonläufer siegte vollkommen ausgeruht und bewies das mit abschließender Gymnastik.