Kalligrafisches Fragezeichen
Als Essayist unterscheidet der Dichter Adam Zagajewski zwischen modern und wahr. „In diesem Sinne war Józef Czapski (1896 - 1993) nicht modern.“ Czapski suche den direkten Weg zur Wahrheit, im Gegensatz zu jenen, die sich mit Rüschen und Girlanden begnügen.
„Das geistige Leben darf nicht als mystischer Hedonismus verstanden werden, als Schwelgen in Einsamkeit.“
Wir alle kennen Liebhaber schöner Formulierungen, die in das Zweifelhafteste Vertrauen setzen. Czapski wird von Umbrüchen schwer mitgenommen. Unter anderem überlebt er das Sonderlager Starobelsk, eine vom Innenministerium der UdSSR in einem ukrainischen Kloster unterhaltenes Gefängnis für polnische Offiziere.
„Józef Czapski war ein polnischer Autor und Maler in der Nachfolge des Fauvismus und von Paul Cézanne.“ Wikipedia
Zagajewski schildert Czapski als einen in jeder Hinsicht überragenden Akteur. Er zählt zig Rollen auf, in denen der Betrachtete glänzt. Als Kriegsgefangener hielt Czapski Vorträge über Proust. In einer Wüste der Hoffnungslosigkeit beschwor er die Marottenlust des idiosynkratisch-verwöhnten Franzosen herauf.
Zagajewski baut einen Gegensatz zu Rilke auf und beschreibt dann einen in „stiller Hochmut (befangenen) Aspiranten für höhere Sphären“; eine von Lächerlichkeit bedrohte Figur am Rand eines pittoresken Schlossherren-Aufkommens. Verdammt zu biografischen Erfindungen und Stilisierungen. Rilke startet als Zögling in den Habsburger Militärschulen St. Pölten und (Musils Erziehungsknast) Mährisch-Weißkirchen. 1891 erlöst ihn ein Attest. So kurios es klingt, Rilke passiert danach nur noch einmal etwas, das ihn aus der Dichterlaufbahn wirft. Mit vierzig widerfährt ihm 1915 die Einberufung. Nach ein paar Wochen Drill kommandiert man ihn ab zu einer zivilen Tätigkeit in einem Kriegsarchiv. Stefan Zweig begegnet Rilke da als ein anderer Zivildienstleistender.
Der nächste Vergleich trifft Goethe und Rilke. Der eine strotzt im Fett seiner Patriziergewissheiten. Er „erneuert die deutsche Einbildungskraft“. Der andere erfindet sich einen Stammbaum und erdichtet sich seine Bedeutung. Der Essayist wähnt Rilke auf einer „unbändigen Jagd nach Erfüllung“. Zagajewski bemerkt das Verhältnis von Peripherie und Zentrum auch in Goethes biografischer Geografie. Frankfurt und Weimar sind epochale Hotspots. Noch in der Topografie spiegelt sich Goethes titanische Geltung.
„Des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben“, schreibt Goethe in einem Brief an den Maler und Freund Johann Heinrich Meyer 1795. Im Haus am Frauenplan lebte und wirkte Goethe seit seinem Einzug 1782 fast ein halbes Jahrhundert.
Zagajewski schildert Rilke als Obdachlosen - obdachlos bis hin zur geografisch marginalen Herkunft. Zwar wird Rilke in Prag geboren, doch wird er da als Österreicher geboren. Auf der Achse Wien - Prag ist Prag inferior, während Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main eine Potenz ersten Ranges darstellt. Goethe empfängt „Gäste aus den entlegensten Winkeln“; er hält Hof, und er hält durch. Er hört nicht auf, präsidial zu wirken. In jeder nicht-fürstlichen Gesellschaft sitzt er vor Kopf. Rilke empfängt nicht, sondern muss selbst vorstellig werden und sich einladen lassen. Er ist „kein Minister wie Goethe. Kein Senator wie Yeats. Kein Diplomat wie Saint-John Perse“. Er begegnet auch keinem Staatsmann. Die Aristokraten, die zu seinen Gastgebern werden, sind die Nachkommen von Champions League Spielern. Ihre Vermögen verbinden sich nicht mehr mit politischer Macht. Rilke repräsentiert seine Epoche nicht. Vielmehr wirkt er abgeschnitten; gefangen in einem Kokon des Eigensinns. Zagajewski charakterisiert ihn als „kalligrafisches Fragezeichen am Rande der Geschichte“.