Berliner Gentrifizierungsbourgeoisie II.
Was zuvor geschah - Desorientiert nach einer gescheiterten Ehe geht die in Berlin lebende, britische KI-Expertin Mercy Shackleton mit Männern aus, die sie nicht interessieren. Sie langweilt sich in Bars und erleidet Melancholieexzesse bei solistisch absolvierten Ausstellungs- und Konzertbesuchen.
Der Ramsch der Anderen - So geht es weiter - Mercy ist das Einzelkind einer alleinerziehenden, prekär beschäftigten Spätgebärenden aus der Boomer-Generation. Ihre Deklassierung ertrug Elaine Shackleton in batikbunten Kleidern. Sie verwandte ihre Kreativität auf Weltanschauungstheater, das ihre Chancenlosigkeit kaschieren sollte. Mercy verkörpert die Tochter einer in jeder Hinsicht Überforderten wie aus einem Bilderbuch geplatzter Träume. Elaine klapperte mit ihr in einem schrottreifen Austin Morris Vintage-Messen ab. Sie ertrüffelte jeden Secondhand-Schatz eines Kofferraumverkaufs. So obsessiv wie effizient inspizierte sie aufgegebene Bestände. Für Mercy erfand sie Legenden, die sich um den Ramsch der Anderen rankten. Je häufiger der Schrott die Besitzerin gewechselt hatte, desto größter sollte seine Bedeutung sein. So überhöhte Elaine ein Leben auf der Resterampe.
Auf dem Territorium der ehemaligen DDR-Hauptstadt entstehen Subkulturen wie Vulkaninseln, die aus einem rabenschwarzen Meer auftauchen. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Schwimmen/Pilates/Yoga, zu After-Work-Partys - das sind Pflichttermine, die nicht geschwänzt werden dürfen - achtet Mercy auf Zeichen der Veränderung. Eines Abends entdeckt sie „Gary’s Küchenkneipe“. Gary Miller ist Fotograf. Einst fotografierte er kolossale Strecken. Sein Ruhm währte vier oder fünf Jahre. Seine entspannte Art, verpassten Chancen nicht nachzutrauern, gefällt Mercy. Gary erzählt von seiner Kindheit in einer abgeschiedenen Gegend im US-Bundesstaat Vermont. Jedes Wort erfasst etwas Elementares. Gary führt Nana in einen Wald aus Chiffren. Er erzählt von der Jagd. Wie sein Vater ihn einmal in den Wald mitnahm. Sie verbrachten die Nacht im Freien. Gary fror wie nie in seinem Leben. Die kleine Jagdgemeinschaft erwartete, im Morgengrauen zum Schuss zu kommen, aber es gab nichts zu jagen. Im Verlauf des Vormittags schmolz der Frost aus ihren Gliedern. Irgendwann kamen sie zu einer Blockhütte. Gary war nicht darauf vorbereitet gewesen, Menschen zu treffen, die in der Wildnis lebten. Etwas überraschte seinen Vater. Der Erwachsene war verblüfft. Dann sah Gary es auch. Ein unbeholfen gezimmertes Kreuz auf einem Erdhaufen. Gary und sein Vater besichtigten das Grab. Aus dem Haus kam eine Frau. Sie warf sich dem Mann in die Arme. Sie war bereits verhärmt. Unter dem Flecktarn vorzeitiger Verwitterung schimmern ihre Schönheit. Ohne ein Wort zu sagen, führte sie Garys Vater ins Haus. Beide ließen Gary einfach stehen. Der Junge hörte ungewohnte Geräusche. Obwohl er zu jung für alles und sehr erschöpft war, verstand er, dass die Geräusche etwas bestätigten, was die Frau in Gang gesetzt hatte. Vater und Sohn verloren nie ein Wort darüber. Es war ein Geheimnis, das sie verband. In den schroffen Seitentälern von Garys Geschichte wird Mercys Interesse an dem Versprengten konkret.