Zentrale Randerscheinung
Für die Bodenmarkierer, die Plakatkleber, Flugblattverteiler und Klapptischtransporteure erfüllte sich das politisch Machbare in der angestrebten „Verteilungsgerechtigkeit“ und in der „Transparenz“. Niemand hätte ihnen erklären können, dass die neue Zeit (die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des Informationszeitalters) durch die Hintertür des Genusses Einzug halten, das heißt, im doppelten Sinn ohne Arbeit daherkommen würde. Wolfram Siebeck war ein Herold der Zukunft, Lafontaine & Siebeck boten im Jetzt der 1970er Jahre dem politischen Morgen ausgeschlafene Gesichter.
Einer Tageszeitung vertraute der Genussmensch Lafontaine einst an, wie er Leib und Seele im Amt des Oberbürgermeisters von Saarbrücken zusammenhielt. Er drückte sich in der derbsten Kombination volkstümlich aus und erntete für die Offenbarung keinen Tadel. Der geringe Abstand des Saarlandes zu Frankreich wurde zur Erklärung seiner Lebensart herangezogen. Die Rede war vom Savoir-vivre. Kein Ort konnte weiter weg von Savoir-vivre sein, als das um eine Siedlung erweiterte, 1936 gegen den Widerstand der Bauern eingemeindete Dorf, in dem mein Vater die SPD verkörperte. Für uns sah ein Sozialdemokrat aus wie Holger Börner.
Monika Zeiger war eine zentrale Randerscheinung in der Gegend meiner Kindheit. Sie verkaufte Frikadellen, die sie Buletten nannte, und Currywürste in einem Imbiss an der Nürnberger Straße. Sie war in der SPD als unruhiger, frei assoziierender Geist.
Monika repräsentierte im Ortsverein das prekäre Milieu. Obwohl sie in ihrer Fettbude mehr verdiente als andere im öffentlichen Dienst oder bei VW. Sie war weit und breit die einzige Genossin, die nicht von einem Gatten politisch konfirmiert worden war.
Bis 1978 war der W... SPD-Ortsverein ein beinah reiner Männerbund. Zwei Jahre später gab mein Vater den Vorsitz ab an Simone Schillings Mutter. Sie war eine aus Berlin zugezogene Professorin für Stadtplanung und die erste Akademikerin auf diesem Posten. Mein Vater stieg aus der Lokalpolitik so aus wie später aus dem Berufsleben. Knall auf Fall. Er machte keine halben Sachen, auch nicht als Windsurfer. Eine Abspaltung der örtlichen SPD kannte bald an Europas Küsten die besten Surf-Reviere. Wie auf den Italien-Fahrten in den 1960er und 1970er Jahren fuhr man Kolonne, nur eben jetzt mit großen Volkswagen und Audis; die Bretter auf dem Dach. War man nicht auf Achse, hielt man sich zu Hause fit. Die Vermögensumverteilung hatte stattgefunden. Nun ging es um Gesundheit und Ernährung. Meine Eltern leben noch. Sie haben gute Renten. Für sie sind die Rechnungen der alten Republik aufgegangen. Das Rattenrennen war für sie zu Ende, bevor sich die Konturen der Berliner Republik und eine Erosion des Demokratischen im neoliberalen Furor zu erkennen gaben.
Simone und ich wohnten in einer Jagdbaracke der Försterei Fahrenbach. Simone kiffte von früh bis spät. Ab und zu verschwand sie, um nach Tagen wieder aufzukreuzen.