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2024-08-30 07:45:17, Jamal

Türkisches Tabu

Die Pendelkinder der Türkei - Von den Eltern verlassen, bei Verwandten aufgewachsen

Jene meist bei Verwandten zurückgelassenen Gastarbeiterkinder, die ihre Versorger oft als Eltern wahrnahmen und zu ihren leiblichen Eltern erst im oder kurz vor dem Schulalter aufschlossen, nennt man „Koffer- oder Pendelkinder“. „Kofferkinder“ bezeichnet ursprünglich einen Exodus aus dem faschistischen Deutschland nach England – tatsächlich einen lebensrettenden Kinderzug voller Tragik, denn die zurückgebliebenen Eltern erwartete der Tod in den Instanzen des Rassenwahns. Willkommen waren die Kinder in einer kurzen Spanne nach den Novemberpogromen von 1938. Die Soziologie beschreibt nun mit dem Wort das Migrationsphänomen unbegleitet einwandernder Minderjähriger.

Gülçin Wilhelm, „Generation Koffer“, Orlanda

In der Ära der Anwerbung ging es nur um die Arbeitskraft. Das erste Abkommen mit der Türkei kam 1961 ohne Berücksichtigung der Kinderfrage zustande. In der deutschen Administration ersetzte man „Fremd“ mit „Gast“, um die Arbeiter dann wieder fast genauso unterzubringen wie gehabt: das heißt konzentriert in Baracken. Die Perspektiven koinzidierten: alle gingen von kurzer Dauer der Arrangements aus. Kinder wurden oft bei den Großeltern „geparkt“. Vor Gülcin Wilhelms Untersuchung war das ein ausgespartes Thema. Wenn die Kinder dann nach Deutschland verbracht wurden – in der Konsequenz mutierter Lebensplanungen – kollabierte ihre stärkste Bindung unbesprochen. Nun konnten die gesetzlichen Eltern schlecht erklären, warum sie den nachkommenden Nachwuchs erst einmal ausgeschlossen hatten.

„Das zurückgelassene Kind entwickelt Schuldgefühle“, erklärt Gülcin Wilhelm. Es vermutet Gründe für die Isolation in der eigenen Unzulänglichkeit. „Aus dem Muster der Selbstverurteilung rührt der Drang, sich extra zu beweisen“, in der vergeblichen Hoffnung auf Immediate-return. Gülcin Wilhelm findet dafür das Bild: „Du wirfst einen Stein nach dem anderen in einen bodenlosen Brunnen“.

Trainingssache Mutterliebe

„Es gibt keinen Mutterinstinkt“, sagt Gülcin Wilhelm. Auch Mutterliebe ist Trainingssache. Da gerieten in vielen Konstellationen Fremde aneinander und sollten sich doch als Familie verstehen. Wie darüber reden? Dieser Frage ist Gülcin Wilhelm nachgegangen. Sie führt in einen Abgrund, der sich auftut, wenn man feststellen muss, dass man die lieblose Mutter nicht liebt. Zum Beispiel ergeben sich so, sagt Gülcin Wilhelm, „Verlustängste in den erwachsenen Partnerschaften“.

Die Väter der Kofferkinder glänzten in pädagogischer Abwesenheit. Über sie muss noch geschrieben werden.

Der Mangel an Verbundenheit wurde von Müttern oft theatralisch überspielt. Allein ihre Überforderung steht außer Frage … in der Migration boten die Traditionslinien der Herkunft keine sicheren Orientierungen mehr.