Gestaltete Träume
In ihrer mit einem Stipendium der „Deutschen Notgemeinschaft“ geförderten Habilitationsschrift widmet sich Hannah Arendt Anfang der 1930er Jahre Leben und Werk der Rahel Varnhagen von Ense (1771 - 1833).
Die Französische Revolution habe den menschlichen Geist beschleunigt, meldete einst Karl August Varnhagen von Ense dem Freund Karl Georg Jacob.
„Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ erscheint erstmals erst in den späten 1950er Jahren. Arendt widmet ihre Untersuchung Anna Mendelssohn. Die Beschäftigung mit Varnhagen ist ein Sujet dieser Freundschaft. Die Konzentration auf eine Akteurin der Emanzipation entspricht einer politischen Manifestation in Zeiten des immer gefährlicher werdenden Antisemitismus.
Varnhagens Salon vergesellschafte den „Augenblick einer sozialen Utopie“. Er endete 1806 mit dem Berliner Auftritt Napoleons. Die Löwin führte ihren Salon schriftlich weiter. Die Gastgeberin avancierte zur Femme de lettres. Arendt zeichnet den Weg aus dem warmen Regen eines Hoffnungsüberschusses hin zur resilienten Festungsexistenz in der 1955 erschienenen Abrechnung „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.
In Varnhagen entdeckt Arendt eine Vorgängerin ihres persönlichen Sturms und Drangs. Obwohl Varnhagen konvertierte und in den christlichen Adel einheiratete, vermied sie (in Arendts Ableitung) den Parcours vom „Paria“ zum „Parvenü“ der Assimilation.
„(Arendt schildert) Varnhagen als eine jüdische Monade, die durch den Zufall ihrer Herkunft einen Weg durch die Gesellschaft gehen muss, um bei sich selbst anzukommen, einem Selbst, das sich ganz gehört, nicht von außen bestimmt wird und durch außen auch kein angereichertes, emanzipiertes anderes Wesen wird. Kein Entwicklungsgang, keine Stufenbildung, kein Reifeprozess, so liest sich das.“ Thomas Meyer.
Nicht erst die Surrealisten träumten künstlerisch wertvoll. Gestaltete Träume sind Ausdruck eines durchgreifenden Selbstgefühls. Rahel Varnhagen (1771 - 1833) träumte Literatur. Sie schloss den interessantesten personellen Konstellationen einer Ära Räume auf. Dennoch blieb sie Außenseiterin.
Als Epochenfigur trug sie die Widersprüche ihrer Zeit in sich aus. Mit zwanzig gründete die Berlinerin ihren ersten Salon. Clemens Brentano und Friedrich Schleiermacher kamen. 1806 marschierte Napoleon unter den Linden auf und Varnhagen begegnete ihrem Mann. Er war vierzehn Jahre jünger. Varnhagen erlebte mit ihm eine soziale Talfahrt, bevor sie wieder als gastgebende Hausherrin in der Französischen Straße Hof hielt.
In ihrem Tagebuch meldet sie ihre Träume, von denen fünf zentral sind. Sie wurden 1812 notiert. Im Briefwechsel mit Alexander von der Marwitz erscheinen die Träume wieder: „Hören Sie diesen Traum. Es war ein großes Diner, man hatte auch schon Licht, denn es war Abend.“
Varnhagens Handschrift ist kaum zu entziffern. Arendt analysierte die mit sozialen Bedeutungen geladenen Schlafresultate als Sublimation gesellschaftlicher Frustrationen.
„Was das Bewusstsein verdrängt, kehrt in der Nacht zurück.“
Varnhagen ließ sich im Alter von dreiundvierzig Jahren taufen. Sie strebte Assimilation (vergeblich) an. In den Träumen trat ihr Zorn auf: „Der Traum schreckt vor nichts zurück.“
Mit den gestalteten Träumen reagierte Varnhagen auf gesellschaftliche Gestaltungshemmnisse.