Verdauungsscham
Das Klo auf halber Treppe ist oft besungen worden. Es war nicht beheizbar. Man stieg mit seinem Papier (nicht unbedingt von der Rolle, manche nutzten mit dem Lineal in Streifen gerissene, irgendwo aufgelesene Zeitungen) ins Treppenhaus und erfuhr vor Ort oft mehr als man wissen wollte. Wer oben auf war, musste nicht leise scheißen. Unter diesen Umständen verkümmerte die Verdauungsscham. Niemand träumte vom eigenen Klo, alle träumten vom eigenen Auto.
Obwohl Sauberkeit und Ordnungsliebe die Hausfrau adelten, herrschte eine klandestine Drecktoleranz. Da man dem Stoffwechsel der Anderen nicht ganz entgehen konnte, weitete sich das Familiäre und streifte der Hausgemeinschaft einen Pyjama der Vertraulichkeit über, in dem man per Sie blieb. Ich wusste über Frau Hein nicht ernsthaft schlechter Bescheid als über meine Mutter. Frau Hein achtete auf mich, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. Frau Hein erzog ihre Kinder drakonisch, meinte es aber nur gut und erinnerte gern daran, was ihr alles nicht geschadet hatte. Manchmal widmeten wir einen Nachmittag dem leidigen Thema Aufessen.
Ich will noch die Badewanne in unserer Küche erwähnen, die mit einer Platte abgedeckt, zum Esstisch wurde. Es gab noch nicht die Gemeinschaftswaschmaschinen im Keller. Die Frauen wuschen von Hand und brachten die besten Stücke in die Reinigung. Weißsteife Tischdecken waren ein Leistungsbeweis.
Dann zogen wir in ein Siedlungshaus mit Zentralheizung und Waschkeller. Meine Mutter jubelte. So sah die Zukunft aus. Die moderne Hausfrau lieferte einer großen Erzählung die Heldin, lange bevor die Familie nicht ohne Auto und Fernseher komplett war.
Ich lebte in einer guten Zeit. Meine Eltern waren in der schlechten Zeit Kinder gewesen. Ich teilte nicht ihr Vergnügen an einer Wohnung, die nicht um die Jahrhundertwende mit Versorgungs- und Dienstbotentrakt und einem Lastenpaternoster für Bürger gebaut und später umgebaut und geteilt worden war. Die Zweckmäßigkeit der nagelneuen Zwei-, drei- und Vierzimmerwohnungen bescherten den Erstbeziehern Kinoerlebnisse, die wir (die erste Generation Siedlungskinder) nicht begriffen. Es wurde noch gebaut, die Zufahrtswege waren verschlampt und die eingesessene Bevölkerung und deren Kinder waren ungnädig. Überall lauerte Gefahr in einer üblen Diaspora.
Das eigene Klo half da auch nicht weiter. Noch fuhren viele mit dem Fahrrad oder dem Bus zur Arbeit. Armut und Vollbeschäftigung schlossen sich nicht aus. Egalitärer als damals wurde es in meinem Leben nie mehr. Frau Hein hieß schließlich Frau Dell. Herr Dell war Reisebusfahrer und Kettenraucher. Er war der erste Vater mit einer Markise am Balkon. Nun vollzogen sich die Aufessdramen in einer größeren Runde.
Herr Dell reagierte allergisch auf die SPD, unterschied aber zwischen Person und Partei. Persönlich war ihm mein Vater sympathisch. Zehn Jahre heckten die beiden gemeinsame Urlaube aus, von der ersten Bustour in den Schwarzwald über die erste Urlaubsfahrt mit Herrn Dells eigenem Auto an den Edersee bis zum Dauerbrenner Italien, wo manchmal zehn Siedlungsfamilien auf einem Fleck klumpten. Die Väter waren von ganzem Herzen Kolonnenfahrer. Ihre Geruchsmischung aus Sonnenmilch, Rasierwasser und Zigarettenrauch gehört zu meinem ewigen Bestand. Das Camel Filteruniversum („Ich gehe meilenweit für eine Camel Filter“), die HB-Werbung („Wer wird den gleich in die Luft gehen“), die Störgeräusche im Autoradio, die selbstbewusst falsche Aussprache von High Fidelity und Continental, abschätzige Randbemerkungen über ausländische Kollegen, die Sexyness der Mütter in ihren Parfümwolken … Anfang der Siebziger ließen Dells sich scheiden, ohne dass vorher viel gestritten worden wäre. Herr Dell zog aus. Frau Dell wurde die Freundin eines Witwers mit sieben Kindern. Die Verbindung hält noch.
Zurück auf Los
Wir wohnten die Siedlung trocken. Die Brachen zwischen den Häusern nahmen den zivilen Charakter von Rasenflächen an. Wäscheständer und kleine Spielplätze belebten das Bild. Man schützte das Gras vor den Kindern. Die Kinder spielten auf den Anliegerstraßen und umkreisten die Straßenkreuzer jener Amerikaner, die in der Siedlung eine Freundin hatten. Ich fand die Amerikaner vorbildlich. Sie ließen alles Deutsche klein erscheinen. Wir lebten ein Puppenhausleben im Schutz der transatlantischen Allianz. Mein pazifistischer Vater musste einen Bogen um die In-Treue-fest-zum Bündnis stehende SPD schlagen und einer SPD das Wort reden, die es gar nicht gab. Mein Vater lebte in der SPD seiner Vaterlosigkeit, des schuldlosen Unglücks seiner Kriegerwitwenmutter, der gewerkschaftlichen Kampfansagen, die um 1950 noch sehr sozialistisch geklungen hatten. Er lebte in einer halluzinierten Nie-wieder-Krieg-SPD. Die Partei war sein Roman und ich sein Kinderich, dem er einen Vater geben konnte. Er zog mich in die Politik, sie war das, was später die Kunst wurde, und in bürgerlichen Kreisen Bildung gewesen wäre: so etwas wie ein Instrument oder eine Fremdsprache. – Eine Ich-Erweiterung. Ein Pol des Wir und von allem Wir das höchst Erhebende. – Eben die Genossenschaft als Bewahrerin der mit dem Blut der Väter errungenen Rechte. Deshalb musste zur Wahl gehen, wer wählen durfte. Musste in die Gewerkschaft/wer arbeitete/durfte kein potentieller Streikbrecher sein.
„Arbeiterverräter“ ging meinem Vater leicht über die Lippen. Politisch unreif waren die nicht Organisierten, die gegen ihre Interessen wählten auch als Nichtwähler.
Es kam der 2. Juni im Jahr Siebenundsechzig. Der Tag endete in der Todesnacht von Stammheim zehn Jahre später. Bis dahin hatten wir zu tun. Wir kamen an die Regierung und mussten uns da halten. Die Kohorten der Außerparlamentarischen Opposition rannten, nicht müde werdend, gegen die Bollwerke des Staates an. Schließlich arrangierten sie sich in der bleiernen Zeit. Sie wurden grün und verlängerten die Umzüge der Friedensbewegung. Diese Entwicklung zehrte die SPD aus. Als Kanzlerwahlverein brachte sie Schröder an die Spitze, wo er einen anderen Durchmarschierer traf – Fischer, der größte Albtraum der „Wo-haben-Sie-gedient“-Generation Schmidt/Strauß, war von der Macht nicht mehr zu trennen.
Einen Anfang nahm die SPD-Katastrophe, als Benno Ohnesorg von Kurras erschossen wurde. Damals half die SPD der CDU dabei, Deutschland nicht nach links ausbrechen zu lassen. Auf diesem Hintergrund zerlegt sich der Willi-Brandt-SPD-Slogan „Mehr Demokratie wagen“ von selbst. Der Extremistenbeschluss erging 1972 unter Brandt.