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2024-09-04 09:49:30, Jamal

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD - Tille wollte Nutella und kriegte Verständnis.

© Jamal Tuschick

Tille

Milieu und Gesinnung der im öko-pazifistischen Weltrettungs- und Chorleitungswahn abstoßend wirkenden Eltern zwangen auch den heranwachsenden Tillmann „Tille“ Freischmidt auf Gegenkurs. Er wünschte sich konsumorientierte, markenbewusste Versorger.

Tille wollte Nutella und kriegte Verständnis.

Das widerfuhr ihm in einer niedersächsischen Ringburg der Verspätung. Die Weltstadt Göttingen bot sich der gespannten Erwartung des Heranwachsenden als Exil an. Im Café Kadenz traf Tille seinen ersten Mentor, den Herausgeber eines Stadtmagazins für Kassel und Göttingen. Bald meisterte er das hochstapelnde Vokabular des Musikredakteurs von eigenen Gnaden.

Die Wunder der Bemusterung erschienen alltäglich. Mit Anfang zwanzig war Tille seine eigene Marke im Grenzland zwischen Nordhessen, Südniedersachsen und Ostwestfalen. Er wäre ein Solitär gewesen, hätte es mich nicht gegeben. Wir übernahmen die kulturjournalistisch brachliegenden Einzugsgebiete bis nach Holzminden, Einbeck, Nörten-Hardenberg, Höxter und Paderborn im Norden und Nordosten und Melsungen, Hersfeld, Alsfeld und Hünfeld im Süden. Wir fuhren abwechselnd und gemeinsam die großen Dorfdiskotheken ab, ich erinnere an die Papiermühle (Adelebsen), das Porträt (Eschwege) und das Treibhaus (Zierenberg). Als Freunde ländlicher Vergnügungen besprachen wir emphatisch Konzerte, die sonst kein Journalist besuchte. Kein Mensch aus Frankfurt oder Berlin hätte das auch nur ansatzweise gut gefunden, was Tille und mir gefiel, so wie leergefegte Landstraßen zwischen Rapsfeldern im Licht eines heraufziehenden Tages. Wir lebten hinter dem Mond, aber für die Veranstalter, die ihre Landgasthöfe vollkriegen wollten, kamen Tille und ich gleich nach dem lieben Gott. Sie taten, was sie konnten, um uns bei Laune zu halten.

Tille und ich rezensierten Sonnenaufgänge und nannten unsere Überlandfahrten Peripheria Shifting.

Wir schrieben äußerst kollegial für das AKK, das Neuronal, das Kagö, die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine und das Göttinger Tagblatt. Nebenbei beteiligten wir uns am Rodeo der Wildplakatierung. In der Munizipalität Göttingens groß erschienen Guntram Vesper und Gunter Hampel. Mir reichte das. Tille war nicht so bescheiden. Er schätzte die Provinz mit heimlichen Vorbehalten. Alle kifften, viele tranken zu viel, Tille steigerte sich aber bis zur Polytoxikomanie. Von Strafverfolgung wurde ständig abgesehen, man schickt den delinquenten Patienten in die Kur. Drei Entzüge gliederten die optimistische Suchtphase und bereicherten Tille mit Chiemsee- und Schwarzwaldstimmungen. Im letzten Durchgang war der Abhängige nicht mehr versichert. Man brachte Tille im Niedersächsischen Landeskrankenhaus unter. Er litt wie der späte Oscar Wilde. Er zählte Fatalitäten ständiger Nüchternheit auf. Die Drohungen eines Rückfalls quälten ihn wie die Inquisition; Tille lebte an gegen die Sucht, bis er sich dann doch in Hamburg seinen Schwächen ergab, zur Hochform auflief, Chefredakteur wurde und endlich alle Klischees vom Schneemann erfüllte, einschließlich der Kinder in zweiter Ehe mit einer viel jüngeren Frau.