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2024-09-18 08:00:17, Jamal

Babyklappe

Landgraf Philipp der Großmütige säkularisierte Klöster und Stifte. Folglich stellte sich die Frage, wohin mit den Bedürftigen.
Im Zuge der Reformation löste Landgraf Philipp der Großmütige das Zisterzienserkloster Haina auf und stellte die Anlage 1533 in den Dienst der Heilfürsorge. Ferner stiftete der Landesherr das „Hohe Hospital“ Haina und das Landeshospital Merxhausen. Der Beiname Philipps bezog sich nicht auf ein mildes Wesen. Philipp I. war der oberste Waffenmeister der Reformation und spielte eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung der Bauernaufstände. Brecht sagt, die Bauernaufstände seien das größte deutsche Unglück gewesen, weil sie zu früh kamen. Der kurhessische Landgraf engagierte sich nicht wegen einer besonderen Sympathie für Luthers Lehren. Er setzte das protestantische Schwert ein, um kaiserlich-katholische Ansprüche auf Teile seines Landes zu bestreiten.
Er veranlasste die Merkantilsierung staatlicher Wohlfahrt. Er gründete (in dieser Schreibweise) das reformirte Waysen- und Armenhaus an einem Unterneustädter Rand seiner Residenzstadt Kassel (damals Cassel) als koedukative Einrichtung - übrigens vis-à-vis vom Siechenhof. Im Zuge dieses Fortschritts setzte man Waisenkinder an Baumwollspinner. Das kurfürstliche Gesinde an der Spindel malochte für Kost und Logis. Sogar das Handbuch zur Kurfürstlich Hessischen Hof- und Staatshaltung erschien im Verlag des reformierten Waisenhauses. Noch regte sich kein Widerstand gegen Kinderarbeit und Ausbeutung. Schließlich hatte Gott jeden an seinen Platz gestellt.

Die Waisen druckten, webten, stickten - und strickten Socken für das Militär. Sie legten eine Maulbeerplantage an und stiegen in die Seidenproduktion ein. 1761 richtete der heimlich katholische Landgraf Friedrich II. ein Accouchier- und Findelhaus ein. Nicht, dass ledige Frauen ihre Kinder straffrei in die Welt setzen konnten. Das Wohl der Schwangeren war kein sozialpolitisches Ziel. Vielmehr ging es um eine Verminderung der Säuglingsmorde. Der Landgraf kam aber nicht umhin, einen Missbrauch der fürstlichen Großzügigkeit festzustellen. Nicht zuletzt Sexarbeiterinnen erreichten die Gnadenstation aus dem Ausland (wie dem Kurfürstentum Hannover und das Herzogtum Braunschweig), um in Kassel zu entbinden.

In den 1770er Jahren entstand auf dem Wilhelmsplatz das Hôpital des français refugiés nach Plänen des Stadtbaumeisters Simon Louis du Ry. Das Krankenhaus diente den Armen. Wer es sich leisten konnte, rief einen Arzt zu sich nach Hause. Brave Bürger verbrachten keinen Tag in so einer zwischen Kranken-, Armen- und Findelhaus changierenden Einrichtung des Fortschritts. Doch der Armut lieferte die Aussicht, nicht zu erfrieren bereits einen Vorgeschmack auf das Paradies. Eine hochmoderne Institution war der Drehkasten zur anonymen Säuglingsabgabe.