© Jamal Tuschick
Die Schrankfrau
Eine Geschichte aus der Zeit des Frankfurter Häuserkampfs. In den 1970er Jahren kam es in der hessischen Metropole zu zahlreichen Hausbesetzungen im Dunstkreis der Ober-Spontis Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Klaus Trebes und Tom Koenigs. Als Jungspund geriet ich in den Strudel der Auseinandersetzungen und so auch in eine berühmte Wohngemeinschaft. Während die Genossen sauf- und rauflustig um die Häuser zogen, blieb ich in der Kommunenküche an Katja hängen.
Katja war die Schrankfrau. In ihren ärgsten Zuständen verkroch sie sich in einem masurischen Bauernschrank, der den Treck ihrer ostpreußischen Großeltern überstanden hatte, anstatt unterwegs verfeuert worden zu sein. Die massive Holzarbeit verlieh Katjas fiebriger Existenz beruhigende Konturen.
Katja saß im Schrank, ein Türflügel stand offen. Das war ein Erfolg, der sich meinem guten Einfluss verdankte. Jedenfalls behauptete das Katja, die einigermaßen bequem in ihrer Holzhöhle auf einem Omakissen saß, mit angezogenen Knien. Ich saß davor auf einem Schawellsche. So sagt man in Frankfurt zur Fußbank.
Katja kaute Haare. Sie zog ihr Haar durch den Mund und betrachtete das nasse Resultat. Durch hundert Schleier der Selbsttäuschung begann ich zu ahnen, dass die Konstellation gar nicht so absurd und zufällig war, wie ich es gern gehabt hätte. So wie es immer eine Katja gab, gab es eben auch immer so einen wie mich - einen Kommunikationsverweigerer im Muskelschrank.
Auf dem Umweg einer Liebeserklärung an ihre Großmutter gelangte Katja zu den verlorenen Ostgebieten, nach denen in der Siedlung meiner Kindheit die Straßen benannt worden waren, um die Erinnerung an das vormals Deutsche lebendig zu halten. Das war kommunaler Revanchismus im Geist der SPD.
Katja repetierte im Schrank den Text ihrer Großeltern. Sie vermisste eine Landschaft, die sie nie gesehen hatte. Sie trug die Sehnsüchte ihrer Altvorderen weiter. Sie wiederholte deren Verlustmeldungen, obwohl das strengstens verboten war.
Die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen, die Katja mit keinem persönlichen Erlebnis verbinden konnte, war noch unerforscht. Man glaubte, dass die Verdrängungsleistungen der Kriegs- und Kriegskinder-Generation folgenlos geblieben seien. Die sozialen Metastasen in den Kindern der Kinder wucherten unerkannt.
Ich hatte Hunger. Es gab nur kalte Nudeln. Plötzlich stand Katja hinter mir und wollte auch kalte Nudeln. Bald dekorierte sie die Anrichte mit ihrer im Schrank wiederhergestellten Person. Sie roch nach herzlicher Aufnahme. Sollten die anderen doch auf den Magistralen des revolutionären Vergnügens prahlen, ich kannte den Schleichweg in Katjas Bett.