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2024-09-27 00:52:56, Jamal

© Jamal Tuschick

Lustschießer

1978 zog die Besatzung eines deutschen Frachters vierhundertfünfzig Vietnamesen aus dem Südchinesischen Meer. Die Landesflüchtlingsverwaltungen, bis dahin vor allem für Aussiedler zuständig, hatten ein neues Thema. Der Motor einer neuen Migrationsdebatte war Ernst Albrecht. Der niedersächsische Ministerpräsident regierte gern aus seinem Dorf Beinhorn bei Hannover in die Welt hinein. Er holte gleich mal tausend Bootflüchtlinge in sein Bundesland und deklarierte das als Folge einer Familienratsentscheidung. Albrecht schickte Wilfried Hasselmann nach Malaysia, um die malaysischen Behörden auf Trab zu bringen. Die Geschichte ist ein Brummkreisel. Hasselmann diktierte der Presse dem Sinn nach: Jetzt könne man sich wieder gut fühlen als Niedersachse.

Xuan Phan, der zwei Jahre später mein Gong-fu-Lehrer werden sollte, gehörte zu jenen an Land Gezogenen, die am 3. Dezember 1978 in Hannover-Langenhagen eine Maschine der Luftwaffe verließen. Nach der Kapitulation 1975 hatten die Sieger Xuan vorübergehend in einem Umerziehungslager untergebracht und den Betrieb seiner Familie enteignet. Insgesamt kamen zweiunddreißig nahe Verwandte in Deutschland an. Sie konzentrierten sich in Lohfelden im Landkreis Kassel, wo ein Onkel von Xuan ein vietnamesisches Restaurant eröffnete, in dem Xuan kochte. Er lebte mit seiner Frau Chau und einer Schar leiblicher Kinder sowie Nichten und Neffen in einem freistehenden Haus nahe einer Gemeinde im Kaufunger Wald (der Söhre). Nach den örtlichen Maßstäben waren wir Nachbarn. Simone und ich wohnten in einer Jagdbaracke der Försterei Fahrenbach.     

Unser Zuhause hatte einst Lustschießern als Jagdhütte, Tanzdiele und Absteige gedient. Sie waren in ihren Geländewagen vorgefahren. Solche Leute gingen nicht zu Fuß. Sie begriffen sich als Erben landgräflicher Ansprüche. Der Wald war ihre Domäne. Sie züchteten den Bestand hoch. Riesige Suhlen und zu viele abgeäste Jungbäume bewiesen es.

Luderhaken ragten aus Balken. Ein gemauerter Grill stand im Garten. Die Vegetarierin Simone ging wie im Traum in ihrem Garten herum. Sie sah den baumstarken Flieder, eine Seltenheit. Da standen bizarr verknorzte Obstbäume. 

Kein Strom aus der Steckdose. Der Regenspeicher war eine Tonne, Marke altes Ölfass. Das Scheißhaus stand fast schon im Wald. Simone und ich so wie alle unsere Gegenstände rochen nach dem Moder in den Hauswänden. Man muss ein Dutzend Zivilisationsschichten aufeinander kleben, will man verhindern, dass die Natur nicht sofort hereinschneit.

Im Haus wird Erde zu Dreck.   

Simone war jederzeit zu breit, um sich nicht himmlisch zu fühlen. Ich überließ sie ihrer Seligkeit und fuhr (als Anlieger legal) mit meinem R6 auf einer Jeep-Spur über freie Schussfelder. Es wundert gewiss keinen, dass Simone und ich in unserer Sonnenackerzeit ein Paar wurden. Es war für uns beide die erste richtige Beziehung. Wir fanden uns okay. Obwohl Simone dem Ideal meiner ausgreifenden Pubertät nicht entsprach und auch ich keineswegs ihr Traummann war.