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2024-09-27 08:58:07, Jamal

Maurische Festung

Mit dem Journalisten Egon Bahr als jungem Skeptiker wäre auch der Spion, der aus der Kälte kam, gut besetzt gewesen. Bahr war ein Schattenmann im Kalten Krieg - der Garant für die Unantastbarkeit seines Chefs Willy Brandt, dem regierenden Bürgermeister von Berlin. Damals, in den 1960er Jahren, glich die Frontstadt einem Vulkan vor dem Ausbruch. Über den rauchenden Kratern ging Tag und Nacht ein Informations- und Desinformationsgewitter nieder. Es gab mehr Agenten als Gastwirte in diesem „Schaufenster des Westens“.

Das erzählte Heinrich Leise im überdachten Lichthof jener maurischen Festung, mit der er seinem Faible für alles Arabische ein Denkmal gesetzt hatte. Der Fremdkörper stand auf einer Brache zwischen Plattenbauten und den Schmuckstücken der documenta urbana. Mit Heinrichs Tochter Iris durchstreifte ich fast täglich die Dönche - einem Naturschutzgebiet am Rand des Habichtswaldes. Ich gehörte zur Familie, kümmerte mich um die Fahrzeuge und den Transport schwerer Gegenstände. Der praktische Nutzen eines jungen Mannes, dessen Vertrauenswürdigkeit außer Frage stand, wurde hochgeschätzt und wie eine tierische Leistung mit Nahrung und Streicheleinheiten entgolten. Heinrichs Frau, die katholische Margarete, fasste den Verehrer ihrer Tochter gern an.

Margarete war nichts peinlich. Ihre Zuneigung fand ich so verlockend wie befremdlich. Heute noch ist es mir nicht möglich, eine narrative Prise mit Anspielungen auf die erotische Doppelladung einzustreichen. Mich überforderte das Interesse einer erwachsenen Frau. Margarete war eine geborene Dupont. Ihre hugenottischen Vorfahren waren in der evangelischen Hochburg Kassel katholisch geworden. Die Nachkommen protestantischer Religionsflüchtlinge hatten in der Diaspora freiwillig die Religion ihrer Verfolger angenommen. Margarete war in ihrer Familie konfessionell isoliert. Glaubensfragen wurden diskutiert. Das kannte ich auch nicht von meinen Eltern. Wir waren „ungläubig wie die Heiden“.

Heinrich stammte aus dem Göttinger Bürgeradel und hätte das bequeme Leben eines CDU-Provinzgranden führen können. Er hatte sich aber herkunftswidrig - und deshalb für mich unplausibel - für die SPD entschieden und diente nun dem handfesten, proletarisch basierten, hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner („Dachlatten-Börner“) als Kultur- und Nahost-Experte.

In meiner Jugend schloss sich, vereinzelter Gegenbeispiele zum Trotz, Reichtum und Linkssein aus. Die Reichen waren rechts und bewegten sich in anderen Kreisen. Besonders paradox erschienen mir deshalb die Verhältnisse der Leises. Heinrich entsprach meiner Vorstellung von einem Grandseigneur. Heinrich liebte die Palästinenser. Er ordnete die Wege ihrer akademischen Hoffnungsträger in Deutschland auf eine sehr persönliche Weise. Margarete trat auf wie eine Ministergattin. Hessen war ein Erbhof der SPD, die bürgerlichen, nicht über die Gewerkschaften aufgestiegenen Spitzenkräfte der Partei verhielten sich wie Schranzen. Sie tradierten die Beamtenüberheblichkeit der kurfürstlichen und landgräflichen Bediensteten, die ja von Gott persönlich auf ihre Plätze als Gärtner und Bergbauinspekteure gestellt worden waren.