MenuMENU

zurück

2024-09-27 09:28:35, Jamal

Iris Leise bekannte sich zum Christentum ihres evangelischen Vaters. Sie erklärte sich im Geist der kämpfenden Kirche Lateinamerikas. Der Reigen vollzog sich zwischen Weltrevolution, ausreichend Schlaf und Hava Nagila. Was haben wir Hava Nagila gesungen. Wie oft bin ich weggeschickt worden, weil Iris schlafen musste.

Gestern habe ich zum ersten Mal von Iris erzählt. Sie hatte die größten und dunkelsten Brusthöfe, die mir auf meiner langen Wanderschaft begegnet sind. Ihr Vater diente dem hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner auch als Nahost-Experte. Das Expertentum erschöpfte sich in einer zweifelhaften Leidenschaft für den Orient. 

Dialektik

Rainer Werner Fassbinder hatte ein Faible für Klatschspalten, Demimonde- und High Society Tratsch. Er fand Johannes Mario Simmel und den schon wieder vergessenen Will Heinrich als Erzähler vorbildlich. Im Jahr der Verhaftung von Andreas Baader drehte Fassbinder einen Film an den Themen der Zeit vorbei. Wenig konnte der Willy-Brandt-Ära („Mehr Demokratie wagen“) mit ihren Berufsverboten und dem Radikalenerlass ferner sein als „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Die Milieustudie war zuerst von Peer Raben in Frankfurt auf die Bühne gebracht worden. Sie berichtet im Kammerspielton von Verhältnissen am reichen Rand der Gesellschaft. – „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ in einer hanseatischen Variante.

1979 nahm Thälmanns Filmtheater (TFT) den als beinah historisches Dokument vorsichtig angekündigten Film nach zwei Vorführungen und heftigen Protesten aus dem Programm. Das TFF war ein mit dem kulturellen Feierabendangebot der Gesamthochschule verlinktes Projekt, das seinen biederen Ursprung in Filmnachmittagen im Philipp Scheidemann Haus hatte und da immer noch stattfand. Ich hatte in diesem Rahmen Western gesehen wie vorher mein Vater. Die Angelegenheit hatte keine politische Dimension gehabt, bis zu einer kommunistisch-sektiererischen Übernahme vor ein paar Jahren. Die An- und Absichten der Macher kollidierten mit der (in Kassel überall herrschenden) sozialdemokratischen Gemütlichkeit. Nun bot sich die Gelegenheit, den Aktivisten linke Misogynie vorzuwerfen. Diesem Vorwurf war Fassbinder selbst ausgesetzt. Er wehrte sich mit der Feststellung: Frauen so kritisch wie Männer zu sehen. Im Gefolge von Iris sprengten zehn Jungsozialisten eine Konferenz der Kinokommunisten in den Räumen der ehemaligen Metzgerei Mansfeld am Wehlheider Kreuz. Wir warteten mit Transparenten und Spruchtafeln auf. Die Vorwürfe waren persönlich gehalten. Das waren direkte Ansprachen mit Zumutungscharakter.

„Florian Murksel, wir wissen, dass du einen kleinen antisemitischen Pimmel hast und wie du mit Frauen umgehst. Wir erzählen uns nämlich alles.“

„Wir töten dich mit Hohn und Spott.“

Die Thälmännchen zogen zügig durch die Personalluke ab. Damit hatte niemand gerechnet. Das einzige kommunistische Stadtteilbüro war in unserer Gewalt. Daraus mussten wir etwas machen. Der halbgreise Jungsozialist Holger schlug vor, die Schlösser auszuwechseln. Das konnte der Zinker. Er wohnte telefonisch unverbunden in seiner Werkstatt in einem Hinterhaus. Iris schickte Roland zum Zinker. Holger sah in den Schubladen nach. Er sammelte Informationen. 

Leute an die Kandare ihrer Jugendfehler zu legen, nachdem ihr Aufstieg schon gelungen schien …

In dieser Phase des Geschehens war Iris Holgers engste Vertraute. Sie hatte den Platz einer kongenialen Vorgängerin eingenommen und bereitete nun als künftige Theaterregisseurin den nächsten Coup vor. Ich war mit von der Partie und folglich besser informiert als der Rest. „Du weißt doch“, erklärte Iris, „was der Fassbinder mit den ‚Tränen‘ wollte – eine en Suite Schilderung des engsten Kreises – eine Klan-Darstellung. Wer steht der Sonne am nächsten und zu welchen Bedingungen. Das ist ein höfisches Sujet.“ Das hatte ich nicht gewusst. Mir bedeutete Fassbinder nichts. Ich verstand immerhin, dass Iris eine Chance suchte, dem alternativen Muff zu entfliehen.

„Was ist Dialektik?“, fragte Holger, unser Muskeldemokrat und Machosozialist. Heute wäre er eine tausendfach unmögliche Figur.

„Dialektik bedeutet, wir bringen die ‚Tränen‘ auf die Bühne, nachdem wir sie im Kino abgesetzt haben.“

Das leuchtete nicht jedem ein. Holger genoss den Streit. Er wusste besser als wir, dass er nicht mehr lange für die Steilvorlagen zuständig sein würde. 

Iris inszenierte auf der Bühne des Hermann-Schafft-Hauses mit einem Ensemble, das sich ihr ergeben hatte. Das erste Bild zeigt die gestiefelte und gespornte Petra von Kant in symbiotischer Gemeinschaft mit ihrer Zofe Marlene.

Die Arbeit der Herrschaft

Die Stoffauffassung nahm die Achtzigerjahre vorweg. Daran erkenne ich in der Retrospektive Iris‘ Begabung. Sie hatte das Ticket für die Zukunft schon in der Tasche, als alle anderen noch die Vergangenheit abweideten. Amerikas Scheitern in Vietnam steckte der westlichen Welt in den Knochen. Die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses drohte die SPD zu zerreißen. Die Epplers liefen Sturm gegen die Schmidts. Die Grünen liefen sich warm. In Frankfurt am Main zeichneten sich neue Allianzen ab. Die DDR war pleite. Die UdSSR hing in den Seilen. Es gibt eine Videoaufzeichnung von unseren ‚Tränen‘, den Mitschnitt einer Probe. Die jugendlich-gnadenlose Iris fordert ständig ein schärferes Spiel und härtere Konturen. Sie forciert das Stück aus der Gegenwart von 1979.

Was hatte sie gesehen?

Es gab einen Moment zurückschäumender Nähe. Wir waren uns zufällig über den Weg gelaufen, mieteten ein Hotelzimmer, an den Schwellen zu unseren vierzigsten Geburtstagen. Am nächsten Morgen sagte ich: „Deine ‚Tränen‘ kamen zehn Jahre zu früh. Dass sich eine Restauration wie eine Revolution anfühlen kann, kannst du unmöglich aus dem Stück begriffen haben.“

„Mich interessierte damals, wie es sich anfühlt, wenn ein Mensch keine Möglichkeit mehr hat, in seinem Gestern zu verrotten. Wenn er in die Gegenwart gepeitscht wird, wo ihm aber die Mittel fehlen. Schutz suchend muss er unter eine Stiefelsohle kriechen und froh sein, dass überhaupt noch einer die Stiefel tragen will und bereit ist, zu knechten und die Arbeit der Herrschaft zu leisten.“