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2024-09-27 17:44:12, Jamal

© Jamal Tuschick

Dornenkronen des evangelischen Verzichts

„Den Sitz der Seele mit dem Messer suchen.“  Heiner Müller

Auch Margarete Leise hatte einmal den dritten Preis in einer poetischen Konkurrenz gewonnen. Damals war Walter Höllerer der literarische Ansager gewesen. Höllerer sagte an, wo es lang ging in der kaputten Republik Westdeutschland. Nun las Margarete aus ihrem Frühwerk, dem keine Aufwallungen gefolgt waren. Der Mann, die Kinder, die amtliche Pädagogik und der Haushalt hatten ihre künstlerische Produktivität lahmgelegt. Das war auch ein später Triumph des Patriarchats. In der nächsten Generation würden Frauen nicht mehr so einfach klein zu halten sein.

Das Wohnzimmerauditorium sah aus wie das Volk von Grassland. Da waren lauter Kapitäne mit König Ahab-Bärten sowie Erhard Epplers und Siegfried Lenze mit ihren knochigen Gattinnen aus dem höheren Schuldienst, die ihre Dornenkronen des evangelischen Verzichts trugen - zur Feier des Abends.

Aus Jux hatte sich Margarete an dem Lyrik-Wettbewerb beteiligt, es kamen bald die Lektoren in Legion, ihr die Gedichte aus der Hand zu reißen: „Mir war, als müsse das Goldene Zeitalter nun anbrechen“.

Noch vor dem Debüt endete der Hype in einer grassierenden Verstimmung. Ein Verleger, „ihr wisst wohl wer“, verstand die Freundlichkeit der höheren Tochter falsch. Danach wollte keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben.

Margarete rückte ihre Erzählung in ein Blendwerk der Unerschütterlichkeit. Es war die hohe Zeit von Günter Grass, der als Ehrengast sich im maurischen Schloss der Leises eingefunden hatte und zu seinem Verdruss mit Wolf Biermann um die Gunst des Publikums buhlen musste.

„Ich wollte früh vollendet und genial sterben“, verriet Grass.

Grass war eine zentrale Figur des sozialdemokratischen Glasperlenspiels. Er saß bis in alle Ewigkeit mit Willy Brandt beim Wein im Kanzlerzug. Seine Gleichungen waren einfach. Einerseits: „Nach elf Jahren noch Spaß gehabt zu haben an der Brandt-Sache.“ Andererseits: „Unser Hass ist witterungsbeständig.“

Iris zog mich aus dem Trubel. In ihrem Zimmer wartete unser SPD-Apache, Juso-Greis und ewiger Hessenmeister Holger voller Hass auf Grass. Unfähig zu altern, trieb ihn ein einzigartiges Schicksal um. Er war der Liebhaber anspruchsvoller Gymnasiastinnen aus den besten Familien. Er wurde immer nur in dieser Rolle besetzt. Obwohl Holger abgenudelt war, folgten der Letzten noch eine und noch eine in vollkommener Monotonie.

Holger hatte es versäumt, eine Familie zu gründen. Es wiederholten sich die Nächte des Abschieds am Küchentisch in seiner formidablen Wohnung.

Irgendwann bemerkte ich Holgers basstiefe Verstimmung. Die Geliebte des Augenblicks unterschied sich kaum von der letzten … in ihrer Ultraattraktivität. Die Eleven nutzten Holgers Etage als Bühne.