Bella Ciao
In Marburg stieg Hannes Wader zu. Er war unser Pete Seeger. Wir sangen „Bella Ciao“, bis wir in Frankfurt am Main einfuhren und uns die Lederjackenträger der Putztruppe frenetisch einen großen Bahnhof bereiteten.
Im Zug beanspruchte ich so wenig Platz wie möglich, während Madeleine mit ihren Sachen das Abteil okkupierte. Sie kam aus einer Familie von Benson & Hedges-Rauchern. Sogar die Klos in Madeleines Elternhaus hatten originelle Formen und erinnerten an S. Dalis zerlaufene Uhren. Der alte Benson trug Protzuhren und die weißen Hemden mit der schwarzen Rose der Markenbewussten. Er hatte Schuhe für zu Hause, um nicht zum Pantoffelhelden zu werden. Er war der einzige Konsument aus Leidenschaft in dem Milieu meiner Kindheit und Jugend. In seinen Garagen und Kellern verwandelten sich Gegenstände in Plunder. Der bloße Anhäufungswahn suggerierte seelische Verwahrlosung. Benson trat stets mit Kippe und Glas auf. Die Stimme rauchte. Im Wohnzimmer gab es eine modische Vertiefung, Sitzsäcke und eine Kaminattrappe. Täglich wurde gründlich saubergemacht. Dafür hatte man Personal.
Die Wahrheit ist manchmal nur ein Strich in der Landschaft. Nun saßen wir im Zug nach Frankfurt am Main. Zum ersten Mal sollte ich jene sagenhafte Kommune kennenlernen, die Madeleine aufgenommen hatte und von der sie ständig sprach. Alle Kommunarden studierten pro forma Soziologie an der Goethe Universität und betrieben im Kollektiv die Karl Marx Buchhandlung, in dem mir unbekannten Stadtteil Bockenheim. Madeleines Frankfurter Favorit war der Perser Dilan. Der Iran stand vor dem Ende seiner Monarchie. Eine Götterdämmerung bahnte sich an. Schah Reza Pahlavi hatte so lange als Jetset-Märchenkönig am Sehnsuchtshorizont deutscher Hausfrauen die Stellung gehalten. Einer musste für sie stellvertretend wie Gott in Frankreich leben und eimerweise Kaviar verputzen. Reza würde nie wieder in Sankt Moritz an den Hängen posieren. Ein Foto zeigt Madeleines Vater neben dem Schah, so volkstümlich. Der alte Benson war ein hohes Tier in einem Bergbaukonzern, der ausgerechnet in Kassel sein Stammhaus hatte. Er hatte mit seiner ersten Familie in Teheran gelebt, sich nach der Rückkehr scheiden lassen und mit Madeleines Mutter noch mal von vorn angefangen. Die Zweitfamilie hatte den Charakter eines Zweitwagens. Die erste Frau residierte in einem Schloss im Druseltal. Ihre Söhne waren Zöglinge gewesen und lebten nun in Cambridge als formidable Wissenschaftler. Sie spielten in einer anderen Liga als das Einzelkind Madeleine. Selbstverständlich kam Dilan aus einer bedeutenden Familie. Selbstverständlich war er Revolutionär. Er versprach sich alles von Ajatollah Chomeini, dessen Rückkehr nach Teheran bevorstand. Ja, der Ajatollah war ein Hoffnungsträger der Linken, so wie die Mudschaheddin die Guten waren. Aber da war auch noch Roland, Madeleines Sexgenosse seit frühster Jugend. Das war keiner, der sich einfach so vom Brot schmieren ließ wie eine Wurst, von der man genug hatte. Roland und ich waren Brüder im Geiste des Jungsozialismus in einer provinziellen Spielart. Ich war heiß gespannt auf die Bockenheimer Kommune mit ihren Zeitgeistsiegern. Diese Frankfurter sahen richtig aus und sagten die richtigen Sachen. Sie trieben die außerparlamentarische Opposition vor sich her und bereiteten einem breiten Strom das Bett künftiger Regierungsbeteiligung.