Search and Destroy
„Mit Recht verlangt der Leser von dem Dichter, der ihm, wie dem Römer sein Horaz, ein theurer Begleiter durch das Leben seyn soll, daß er im intellectuellen und sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will“, sagt Schiller. Es ist nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man muss auch erhöht empfinden.
Am 6. November 1967 berichtet ein Reporter vom Betrieb auf dem Flugzeugträger Constellation, der als Flaggschiff des nautischen Expeditionscorps vor der vietnamesischen Küste kreuzt. Ralph W. Cousins befehligt das Schiff der Kitty-Hawk-Klasse. Die New York Times (NYT) schildert ihn als einen Mann der leisen Töne, der französische Kriminalromane im Original liest und ein Vergnügen an Feuilletons hat. Er kommt mit sechs Stunden Schlaf aus, gibt Tee den Vorzug vor Kaffee und renommiert mit täglichen Freiübungen. Niemand möchte glauben, dass so das Böse in ranghoher Vereinzelung erscheint.
Seit 1965 beherzigen die amerikanischen Streitkräfte das Prinzip Search and Destroy. Den Erfolg der Taktik misst der Body Count. US-Verteidigungsminister Robert McNamara plädiert für möglichst viele feindliche Leichen zum Beweis der Effektivität von Search and Destroy. Daran denke ich, während ich eine Zahl verarbeite. Die NYT behauptet, von 1961 bis 1967 seien bei Kampfhandlungen in Vietnam 13.365 Kombattanten gefallen. Die Angabe überspielt den Umstand, dass US-Amerikaner seit 1955 in Vietnam mitmischten. Die Vereinigten Staaten lösten Frankreich beim post-kolonialen Fehlermachen ab. 1967 machen die Vereinigten Staaten schon so lange Fehler in Vietnam, wie das Tausendjährige Reich währte.
Das Fehlermachen kommt sie nicht teuer genug zu stehen. Komplizierter ist es nicht. Die Militärführung kann einen Zug nach dem nächsten in den Dschungel schicken, Anhöhen erobern lassen und dann die Hügelspitzen wieder aufgeben. Solange die Idee grassiert, die Frage nach dem Sinn könne vor Ort nicht geklärt werden, spielt die Sinnlosigkeit keine Rolle. Gesine Cresspahl schützt sich vor dem Wahnsinn mit den druck-schwarzen Filtern der New York Times. Die Heldin der „Jahrestage“ genießt die unterkühlte Berichterstattung. In Uwe Johnsons (1934 - 1984) Hauptwerk studiert Gesine die Zeitung wie ein fortlaufendes Memorandum. Ich erinnere daran, dass Johnsons Verleger Siegfried Unseld den sperrigen Mecklenburger ermahnte und letzte Lieferungen förmlich erzwang, während sich der Autor nur noch mit Mühe auf den Beinen hielt.
Ich will jetzt noch nicht von Johnsons Schreibblockade anfangen.
Zuerst das Umgebungsbild. Ich bin siebzehn und lese die „Jahrestage“ in einem Raum aus dem 19. Jahrhundert. Ich muss den Raum mit niemandem teilen. Kein Mensch außer mir nutzt die Schulbibliothek. Ich verlobe mich mit „mundlosen Paaren“, die am 2. Oktober 1967 in einem tschechischen Restaurant „auf der Ostseite Manhattans“ in ungarisch-deutschen Diasporawelten ihr Heimweh mit böhmischer Küche bekämpfen. Gesine unterscheidet die Spione der Macht von den Entmachteten und Geflüchteten, indem sie die Flotten von den Förmlichen separiert.