Mecklenburg © Jamal Tuschick
Mecklenburger Seelenplatte
In der Ära ihrer Erstveröffentlichung waren die „Jahrestage“ ein literarisches Ereignis ersten Ranges. Im Zentrum des vierbändigen Werks, dessen Vollendung Uwe Johnson (1934 - 1984) nur um ein Jahr überlebte, steht eine expatriierte Mecklenburgerin - modelliert nach den Idealmaßen des Autors, der mit dem Erzähler identisch ist. Das Romangeschehen datiert auf den Zeitraum vom August 1967 bis August 1968. Es dreht sich um die vierunddreißigjährige deutsche Bankangestellte Gesine Cresspahl, die mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie in New York lebt. Johnson destilliert aus der Maische des Alltäglichen ein transkontinentales Panorama. Die narrative Gegenwartsleiste überragt Gesines so akribisch wie sehnsüchtig erzählte Herkunftsgeschichte. Johnson analysiert malträtierte Lebensläufe. Ein „Absolvent mehrerer Lager in Osteuropa“ beweist mit „einer vom Alter fast nicht beschädigten Mimik und Haut“ wie Mimikry mitunter funktioniert. Der Überlebende des Holocaust fragt Gesine, was sie von jenen neuen Nazis hält, die in Bremen fast neun Prozent der Stimmen kassierten. Der Autor erzählt sich Gesine schön spröde. Er fährt auf sein Geschöpf ab. Gesine hat für Gerechtigkeit keinen Begriff, sondern ein evangelisches Empfinden. Das Empfinden spricht aus einer Mecklenburger Seele. Uwe Johnson schreibt „mecklenburgische Seele“ und „das Empfinden, beraten von der evangelischen Religion“. Er schreibt den von allem Schlick geklärten Protestantismus Gesines Mutter zu. Vor ihr war eine plötzliche Familienarmut geheim gehalten worden. Für sie gab es Mäntel nach der Mode.
Gesine und Marie sind in New York weit weg von der Mecklenburger Seenplatte. Mutter und Tochter interessieren sich wie zur Probe für amerikanische Sportereignisse. Marie stürzt sich auf Gesines Erzählungen aus dem Familiennähkästchen. In Mecklenburg ist DDR, das darf man nicht vergessen. Johnson leidet unter der deutschen Teilung so vor sich hin, während für viele Kollegen der abgeschnittene Teil kaum noch der Rede wert ist und von mancher Koryphäe bereits für verschmerzt gehalten wird. In der DDR lebt eine neue Sorte „Russlanddeutscher“ und wer sagt nicht noch alles „Ostzone“, wo die „Eingesperrten“ sich begnügen und sich kapitalistische Kaufhauskataloge ins Regal stellen. Die Kunde vom Heimatverlust erreicht mich in der Schulbibliothek. Stille herrscht in einer längst vergangenen Gegenwart. Ich rede von Szenen, die bald ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Die anderen sind auf ihren Mopeds abgerauscht. Sie haben gar nicht bemerkt, wie ich abgezweigt wurde von einem Interesse außer der Reihe. Die „Jahrestage“ versprechen mir meinen Ruhm. Ich werde demnächst so berühmt wie Johnson sein, aber gewiss nicht so betrübt. In einem Leihmustang donnern die Cresspahls an den Baustellen auf dem Cross Bronx Expressway vorbei. Gesines Blick auf das Arkadien im Bundesstaat New York schärft noch kein technischer Begriff von Umweltzerstörung. In der Umgebung von naturwüchsiger Schönheit registriert sie Industriewüstungen und aufgefüllte Brachen am kilometerweit komplett verseuchten Atlantiksaum. Da ist nur „Schmutz, Abfall, Schrott“ an der urbanen Peripherie. In New York kursieren ein halbes Dutzend Worte für eine Schadstoffkonzentration, die Atemwege verätzt und blockiert. Smog ist in Deutschland noch ein so fremdes Wort wie Stress. Smog haben die Londoner und Stress die (amerikanischen) Manager. Wir lachen über die anglosphärischen Phantomphänomene.