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2024-10-01 11:26:20, Jamal

© Jamal Tuschick

Verlässlicher Feind

Die Heldin der epochalen „Jahrestage“ ist eine Mecklenburger nach dem Herzen ihres Schöpfers Uwe Johnson. Suhrkamp-Lektor Raimund Fellinger bemerkte das in einem Interview, in dem er klarstellte: Das Werk liest sich leicht. Es ist nicht anspruchsvoller als ein Kolportageroman.

Gesine Cresspahl heißt mit zweitem Vornamen nach ihrer Mutter Lisbeth. Zur Welt kommt sie im Jahr der Machtergreifung in Jerichow als Tochter von Lisbeth und Heinrich. Ihr zunächst nach England ausgewanderter Vater hatte Lisbeth zuliebe eine Existenz in Borough of Richmond upon Thames im Südwesten Londons aufgegeben. Er war Tischler, ein verlässlicher Feind der Nazis und nach dem Krieg kurz Bürgermeister in Gesines Geburtsstadt. 1952 beginnt Gesine in Halle ein Anglistikstudium. Nach dem 17. Juni 1953 verlässt sie die DDR und absolviert in Düsseldorf eine Ausbildung zur Dolmetscherin. Später qualifiziert sie sich im Bankfach. Gesine findet eine Anstellung beim Amt für Manöverschäden der NATO in Mönchen-Gladbach. 1957 kommt ihre Tochter Marie in Düsseldorf zur Welt. Ab 1961 arbeitet sie als Bankangestellte in New York. In der Handlungsgegenwart verdient sie achttausend Dollar im Jahr und hat eine Kündigungsfrist von vierzehn Tagen. Sie wohnt in drei Zimmern unterhalb der Baumkronen im Apartment 204, 243 Riverside Drive.

Gesine trägt ihr Haar kurz in der Naturfarbe schwarz. Nie schiebt sie sich die Sonnenbrille in die Stirn. Zur Arbeit fährt sie mit der U-Bahn. Täglich kauft sie an einem Zeitungsstand auf dem Broadway, an der Südwestecke der 96. Straße, die New York Times und zahlt stets passend. Johnson untermalt den Transfer mit einer minutengenauen Angabe. Angeblich kauft Gesine die NYT pünktlich zehn Minuten nach acht.

Gesine unterhält zu der Zeitung ein Verhältnis wie zu einer Person, die ihrem „Begriff von einer Tante“ entspricht.

Die „Jahrestage“ beginnen mit Alltagsschilderungen im August 1967. Die Stadt am Hudson ist so gestresst wie ihre Bewohner, die vielfach so unbürgerlich überleben, dass Gesine sie kaum als Bürger wahrnimmt. Der Dreck am Straßenufer bestätigt die Wählerische. Die Erlesenheitssucht teilt sie mit ihrem Liebhaber. Denn das ist Uwe Johnson in erster Linie: der Liebhaber seines Geschöpfes. Die erotische Dimension löst sich in der Erzählgenauigkeit auf. Aber das ist eine verehrende und begehrende Genauigkeit.  

Einmal fährt Gesine mit ihrer Tochter Richtung New Haven im Bundesstaat Connecticut. Unterwegs frühstücken die beiden in einem „Imbisspavillon unter einem Dorfkirchturm“. 

Man ahnt den Glanz der Stunde. Mutter und Marie an einem Vormittag vereint in der Abwesenheit von Arbeit und den Forderungen anderer Leute: das ist ein seltenes Fest. Johnson gibt der Intimität wenig Raum. Der Krieg in Vietnam (in Mitteilungen der New York Times) infiltriert das Verhältnis. Gesine begreift sich als moralische Instanz. Sie überfordert die Zehnjährige, indem sie dem Kind einen Begriff vom Schrecken des Krieges gibt.