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2024-10-02 10:22:33, Jamal

Die New Yorker Familien

1983 erscheint der letzte Band der „Jahrestage“. Er wurde dem depressiven Uwe Johnson (1934 – 1984) von seinem Verleger Siegfried Unseld abgerungen. Die Heldin des epochalen Werks ist die vierunddreißigjährige Mecklenburgerin Gesine Cresspahl, die mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie in New York lebt. Gesine arbeitet in einer Bank und zahlt 124 Dollar Miete im Monat für ihr Apartment - eine klassische Stewardessen-Wabe - am Riverside Drive - in einem „Haus aus gelben Steinen, um dessen Fuß ein Band exotischer Stiermuster geschlungen“ ist. Da besucht sie am 1. September 1967 ein Liebhaber. Uwe Johnsons Diskretion geht so weit, dass er den Gast nur mit den Initialen D.E. kennzeichnet.

Gesine versendet „Phonopost“. Sie stellt ihre Uhren „um fünf Minuten vor, um einer Verspätung im Büro vorzubeugen“. Sie lässt die Gräber ihrer Eltern und Großeltern in der DDR in Schuss halten. Am 3. Oktober 1967 erreicht sie die jährliche Rechnung in ihrer „Heimat an der Oberen Westseite von Manhattan“.

Sie überfliegt einen „langen Bericht (in der New York Times), süffig vor Konkretem, über die Familien … auf Long Island“. Die Mafia-Stars der Stunde heißen Carlo Gambino und Joseph Bonanno. Gesine macht sich über die Spitznamen der Kriminellen lustig. Bonanno firmiert in Johnsons Übersetzung als „Joe die Banane“. Die Erzählung wird ihm nicht gerecht. Bonanno war ein in Castellammare del Golfo auf Sizilien geborener Glückspilz, dessen Zugehörigkeit zur Bruderschaft der Castellanos lange außer Frage stand. In dreifacher Hinsicht sprengte er den Rahmen seiner Verhältnisse. Erstens war er der jüngste Boss einer New Yorker Familie. Zweitens überlebte er sein Todesurteil. Dessen Vollstreckung von kollegialer Hand misslang so oft, dass es schließlich ausgesetzt wurde. Drittens verstieß er mit der Veröffentlichung einer Autobiografie gegen die Omertà. Seine Einlassungen boten Staatsanwalt Rudolph Giuliani Anlass zu Anklageerhebungen. Obwohl er als regulärer Kombattant und als Regelbrecher sowohl seinen Anspruch auf eine zivile Existenz als auch auf die mafiöse Alternative verwirkte, gelang Bonanno ein Rückzug aus dem Geschäftsleben. Er kam in den Genuss eines Feierabends in Arizona. Der Ruhestand steht in den Sternen, als Gesine ein bisschen wie mit spitzen Fingern das Gewese dieser unwirschen Italo-Amerikaner zur Kenntnis nimmt. Donald Trumps Vater steht als Mogul ohne landsmannschaftliche Bindungen Schmiere. Das interessiert Gesine nicht. Das Edelfräulein aus dem Vorrat aufhellender Phantasien eines Unglücklichen behält vor allem den Fortgang des Vietnamkriegs im Blick. Am 9. Oktober 1967 beschreibt sie ein Zeitungsfoto, das dem kollektiven Gedächtnis eingespeist wurde. Ein halbwüchsiges Mädchen treibt einen abgeschossenen US-Piloten vor sich her durch den Dschungel. Der junge Mann lässt den Kopf hängen „als seien ihm die Nackensehnen gerissen“.

Das Bild kennen wir alle, selbst wenn wir es nicht gesehen haben. Es zeigt die wahren Machtverhältnisse in Vietnam. Die Amerikaner sehen nur wie Sieger aus. Sie müssen gewinnen, das können sie nicht. Die nordvietnamesischen Streitkräfte gewinnen, indem sie nicht verlieren. Sie haben dazu keine Alternative. Das macht die Sache leicht. 

Das Bild sagt das auf eine verstörend konkrete Weise.