MenuMENU

zurück

2024-10-03 12:38:51, Jamal

Eingebildete Heimat

„Aus Jerichow bekam Gesine Cresspahl noch Pakete, als sie längst in Frankfurt Geld verdiente.“

So beginnt eine Geschichte mit dem Titel „Geschenksendung, keine Handelsware“. Der Titel erinnert an ein obsoletes Post-Procedere. Aus dem Spiegel vom Oktober 2019: „Nach dem Mauerbau 1961 passierten jedes Jahr etwa 25 Millionen Pakete und Päckchen die innerdeutsche Grenze.“ Uwe Johnson macht gleich klar, dass seine Heldin bei der Annahme und Abgabe von Dingen auf dem Postweg hintersinnigen Gepflogenheiten ihrer Mecklenburger Heimat gehorcht; ohne im/vom Westen je so weit verbogen zu werden, dass die Gültigkeit der heimatlichen Vorschriften sich von ihr infrage stellen ließen. In ihrer Ursprungsumgebung erscheint die Expatriierte als ledige Mutter und Tochter eines verschwiegenen Witwers vertrauenswürdig genug, um sie auch um Klopapiersendungen zu bitten.  

„Die Alten ... dankten nicht besonders.“ 

Als eine von ihnen ist Gesine stets auch eine Beauftragte der Gemeinde in der weiten Welt von Frankfurt, Düsseldorf und - ab 1961 - New York. Der Abstand macht sie zur Verwandten. Gesine wäre kein Paradegeschöpf aus dem Kosmos eines Heimwehkranken, würde sie ihre haltlose Abhängigkeit nicht vollkommen anerkennen. 

In den „Jahrestagen“ schildert Johnson Gesines Alltag in New York. In der Handlungsgegenwart arbeitet die Vierunddreißigjährige in einer Bank. Mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie lebt sie in einem Apartment am Riverside Drive. Zu Hause fühlen sich Gesine und Marie an der oberen Westseite von Manhattan. Beide wissen: die „unauflösliche Gewöhnung an die Gegend“ ist eine einseitige Angelegenheit. Die Verhältnisse, an die sie sich schmiegen, sind schroff.

„Wir können nicht hoffen auf Erwiderung … unsere Heimat … ist eingebildet.“

In der verwinkelten Betrachtung eines Aufenthaltsorts mit überseeischem Flair verbirgt sich die Annahme einer einzigartigen Architektur der eigenen Existenz. Gesine ist die vorbildlich-liberale Deutsche in New York, die mit der Antikriegsbewegung sympathisiert, ohne sich je ins Getümmel zu begeben. Sie registriert den Einsatz von Streitkräften in inneren Landesangelegenheiten. Mannschaften der 82. Luftlandedivision sichern das Pentagon. Einmal sagt Marie zu ihrer Mutter: „Ich soll nicht lügen, weil du nicht Lügen magst! Du wärst längst ohne Arbeit, und ich aus der Schule, wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander! Du hast deinen Krieg nicht aufgehalten, nun soll ich es für dich tun!“ 

Johnsons sperrige Erzählgenauigkeit ist nicht frei von Effekthascherei. Er schildert das amerikanische Abenteuer Vietnam mit einer gedimmten Faszination für Dschungelkriegsbilder und den Creedence Clearwater Revival - Run Through The Jungle - Soundtrack. Akkurat nach zeichnet er die Choreografie der Luftschläge, der Bomber- und Bombenwellen und Geländerasuren mit Napalm. Gesine mischt mentale Betriebstemperaturangaben des US-Südens mit Stimmungen des bürgerlichen Widerstands gegen den Vietnamkrieg überall auf der Welt und ihrem klischeehaft vorbildlichen familiengeschichtlichen Antifaschismus.