Das Kind Gesine
Der Erzählband „Karsch, und andere Prosa“ erschien erstmals 1964. Die erste Geschichte heißt nach einem in Vergessenheit geratenen Aberglauben Osterwasser. Sie spielt gleich nach dem Krieg. In gewisser Weise ist der Krieg noch gar nicht vorbei. Die Einquartierten sind nach allgemeinem Verständnis Vertriebene und Geflüchtete. Das DDR-politisch-korrekte Umsiedler verstellt als Begriff noch nicht den Blick auf die unmittelbare Erfahrung. Gesine Cresspahl - die in Uwe Johnsons literarischem Kosmos Jahrzehnte Bild bestimmend bleibt - erlebt die Fremden im Vaterhaus mit zwiespältigen Empfindungen. Manche sind der Dispatcher-Tochter nicht geheuer, andere bedauert sie. Zu dem obdachlosen Jakob baut sie eine halb-geschwisterliche Beziehung auf. Auch Jakobs Mutter dürfte ihr näherkommen als die meisten. Allein, die Frau bewahrt ihre Reserve gegenüber der angestammten Hausgemeinschaft.
Gesine befolgt eines frühen Morgens die Anweisungen des Osterwasserbrauchs. Im Wald gerät sie an einen versprengten Soldaten. Jakob schaltet sich in der Rolle des lautlosen Verfolgers ein und klärt auf der Linie. Der Knabe erscheint so kantig wie ritterlich. Johnson erschafft (sich) in Jakob ein früh ersterbendes Echo von Gesines stur-stolzem Vater. Der knochige Alte verkörpert jede Menge wasserkantige Klischees. Seit seine Frau gestorben ist, kümmern sich eine Reihe von Nenntanten um Gesine. Davon handelt die Anschlussepisode.
Johnson schildert ein sozialdemokratisches, kirchenkritisches Milieu, das von den Nazis aus der Fassung gedreht und nach dem Krieg in der sowjetisch besetzten Zone nicht mehr auf die Beine kam. In der Handlungsgegenwart erleidet Heinrich Cresspahl ein Orientierungsdesaster. Er erkennt, dass gegen Hitler gewesen zu sein, keine ausreichende Basis für das Weitere ist.
Seine Einsichten gewinnt Cresspahl in Jerichow. Das Jerichow der „Jahrestage“ liegt im Mecklenburger Klütz. Es gibt keine biografische Verbindung zwischen Johnson und Klütz. Das erstaunt in Anbetracht der Präsenz, die Klütz in Johnsons Werk hat. Der Autor prägt im Präsens seiner Produktivität die Klützer Topografie seiner fiktiven Hauptstadt Jerichow ein.
Mecklenburger Gemeinheiten
Nach dem Krieg kommt Johnson als Geflüchteter nach Güstrow. Das ist nicht weit weg von Waren an der Müritz, wo zur gleichen Zeit Heiner Müller als Sachse sich Mecklenburger Gemeinheiten gefallen lassen muss. Man bindet den „Ausländer“ an einen Marterpfahl. Das ist eine andere Geschichte.
Heimweh nach Mecklenburg
Er sei am Heimweh wie an einem schweren Fieber gestorben. Mit dieser Diagnose verabschiedete sich Günter Grass öffentlich von Uwe Johnson. Für mich ist GG in einem solchen Ausmaß diskreditiert, dass mir sogar sein Nachruf auf den komplizierten Gefährten wie eine Verrohungstat vorkommt; wie eine unerträgliche Einmischung in innere Angelegenheiten der Gelehrtenrepublik meiner Kindheit und Jugend.