Sexueller Notdienst
New York 1961 - Amerikas Avantgarde entspannt im Village. Robert Zimmerman trifft ein, aber noch nicht als Bob Dylan auf. Erste Gigs in einem „Basket House“. Im Gaslight Cafe spielen Musiker ohne Gage. Nach der Show kursiert ein Hut im Schankraum. Zimmerman begegnet einem musikalischen Matrosen der niederländischen Handelsmarine. Der Mann nennt sich Brasil Damon. Er übernachtet bei Leuten auf der Gästecouch. Die Couch zählt zu den festen Einrichtungen in Kreisen des karitativen Folk. Die Kreise rekrutieren sich aus Akademikern, die Volksmusik reizvoll finden. Die Musik liefert den Soundtrack zu einem sexuellen Notdienst. Lauter Frustrierte erscheinen als verfrühte Woody-Allen-Figuren. Wie anders die Gegenwart ist, erkennt man auch daran, dass Woody Allen nicht mehr geht. Der Mann funktionierte fast ein halbes Jahrhundert als kleinster gemeinsamer Nenner. Seine Filme bebilderten altruistischen Sex in einem Bonobo-Academia.
Die schlechtesten Nummern der Welt werden auf der Besuchercouch geschoben. Leute, die sich in kontinentaleuropäischen Gesellschaften siezen würden, duzen sich geschlechtlich mit dem guten Willen eines im Dekangarten grillenden Kollegiums. Damon nimmt eine Gelegenheit nach Chicago wahr, im Auto eines giftigen Dinosauriers. Der Jazzmusiker Andrew Bowles bewegt sich auf Krücken zum Klo. Er spritzt Heroin, verliert immer wieder das Bewusstsein. Seine Zeit ist abgelaufen, die Zeichen stehen auf Folk. Bowles lästert über die reduzierte Spielweise im Folk; die Sache mit den drei Akkorden lange vor Punk. Die Dimension der Instrumentalisierung des Folk zu politischen Zwecken im Woody Guthrie-Stil verweigert Bowles jede Betrachtung.
Sechzig Jahre später doziert Basils Enkel Vernon vor lauter weiblichen Studierenden in einem lauschigen Seminarraum der Landgraf Philipp Universität. Aus dem Vortrag: 1926 wählte Georges Bataille für eine Sache, die nie erschien, das Pseudonym Georges Troppmann. Ein Mann dieses Namens hatte 1867 mit Schaufelhieben fünf Kinder und ihre Mutter erschlagen. Er starb ohne Reue und hinterließ „Geheime Memoiren“.
Rimbaud erwähnt den Mörder, Troppmann wandert im Nebel der Dichtungen von Lautréamont, Breton und Éluard. Troppmann heißt der Held in „Das Blau des Himmels“. Er überblickt seine Lage nicht mehr: „Der leere Kopf, in dem ich bin, ist so ängstlich, so habgierig geworden, dass nur noch der Tod ihn befriedigen kann.“
Der Kontrollverlust ist nicht Folge, sondern Ziel. Nach Susan Sontag schrieb Bataille „die Kammermusik der pornografischen Literatur“. Sie vermutete das Bewusstsein des Autors „im permanenten Zustand der Agonie“.
Bataille behauptet: „Aber auch der Bewusste, wenn er sich rücksichtslos verschwendet und zerstört, weiß nicht, warum er das tut, und hält sich womöglich für krank. Er ist unfähig, sein Verhalten als nützlich zu rechtfertigen, er kommt gar nicht auf die Idee, dass die Gesellschaft ein Interesse an erheblichen Verlusten haben könnte.“
Dem Diskurs liefert „Das Blau des Himmels“ Szenen. Troppmann, zerrüttet von Ausschweifungen, ist die lächerliche und bewundernswerte Figur in einem Spiel, dessen Regeln keiner begreift. „Ich war von absurder Kaltblütigkeit, gleichzeitig glaubte ich, verrückt zu werden. Unter dem Vorwand, dem Schicksal ins Auge zu sehen, raffte ich mich auf.“
Troppmann liebt Dirty in sexueller Ohnmacht. Seine Impotenz offenbart er Lazare. Troppmann trifft Lazare in Barcelona, sie ergreift Partei für eine zum Generalstreik entschlossene Arbeiterschaft. Lazare lässt sich martern, um bei Gelegenheit der Franco-Folter widerstehen zu können.
„Francisco Franco (1892 - 1975), vollständiger Name Francisco Paulino Hermenegildo Teódulo Franco Salgado y Bahamonde Pardo, war ein spanischer Militär, Diktator und Generalissimus von Spanien von 1936 bis 1975.“ Wikipedia
Vernons Publikum reagiert wie ein einziger Organismus auf die narkotisierende Wirkung des Vortragenden, der auf einem Gestüt aufgewachsen ist und reiten konnte, bevor er laufen konnte. Vernon ist so ganz anders als alle anderen jungen Akademiker. Er verkörpert eine bezaubernde Mischung aus kernig und männlichem Mauerblümchen. Sein Grübchen spaltet das Kinn. Sein lässiger Vortragsstil täuscht die Wenigsten darüber hinweg, wie genüßlich Vernon in der Frauenmenge badet.