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2024-10-16 17:12:00, Jamal

Katholisches Heidentum

„Wegen schlechter Bedienung konnte nur wenig Bier getrunken werden.“ Eduard von Keyserling in einem Brief  

Eduard von Keyserling (1855 - 1918) ist ein fleißiger Zeitungsschreiber. An der Syphilis erkrankt, lebt der Landadelige in München seiner Erblindung und Verarmung, nicht aber dem Verlust seiner Produktivität entgegen. In der Neuen Freien Presse Wien äußert er sich 1909 zu einem „spektakulären Kriminalfall“, den der Schriftsteller einerseits bemerkenswert sachlich, andererseits beinah auftrumpfend psychoanalytisch darstellt. Es geht um den Mord an Elizabeth ‚Elsie‘ Sigel (1889 - 1909). Über den New Yorker Tatort hinaus thematisiert der Berichterstatter die badische Herkunft des Opfers und Elizabeths Verwandtschaft mit Franz Sigel (1824 - 1902), ohne einen Hinweis auf dessen revolutionäre Führungsrolle 1848 mit anschließender Auswanderung. Sigel engagierte sich in New York als Verleger. Den Sezessionskrieg absolvierte er im Generalsrang. Elizabeth Sigel erfüllte bis zum Schluss karitative Aufgaben ihm Rahmen der katholischen Sisters of Charity of New York, einer ursprünglich französischen Gründung (Les Filles de la charité de Saint-Vincent-de-Paul) mit einer Dependance in Chinatown. Keyserling nennt die Anschrift. Der Tat an erster Stelle verdächtigt wurde der Kellner Lung Leon Ling. In seiner Bleibe fand man Elizabeth Sigels Leiche verschnürt in einem Koffer. Zusätzlich belasteten Ling Liebesbriefe, die das Opfer so wie andere weiße Frauen an ihn gerichtet hatten. Karl Kraus erkannte in den Briefen den Skandal. „Dass bei dem Kellner Leon Ling zweitausend Liebesbriefe von Frauen exquisiter Lebenshaltung gefunden wurden, das macht die Klatschmäuler verstummen und gibt dem Ereignis eine kulturbange Größe.“ 

Bürgerliche Frauen, die mit unpassenden Männern durchbrannten, lieferten Gazetten-Schmonzetten delikate Gegenstände.

Auch Keyserling setzt das Wort Liebesbriefe in Anführungszeichen, um eine Fragwürdigkeit zu unterstreichen, der er sich dann widmet. Seinen Lesern unterschlägt er, dass überall auf der Welt Chinesen verhaftet wurden, da man sie in jedem Fall für den Hauptverdächtigen hielt. Ling firmierte als “The Chinese Jekyll and Hyde” und (in einem Abwertungskontext) als „amerikanisierter“ Chinese („christianized mongolian“). Man setzte seinen angenommenen Vornamen in Anführungszeichen und assoziierte den Mann mit Opium nach einem Klischee der Zeit; sucht-gefügige weiße Frauen in einem chinesischen Ausbeutungsschema. Gleichzeitig wirkte das Opfer in einem Milieu, das “Bohemian girls who had gotten involved with drugs and prostitution” nicht verschlossen war. 

Nachspiel der Saison - Der Feuilletonist erlebt das Oktoberfest als Nachspiel der Saison. Die kulturellen Großereignisse des Jahres sind abgefeiert. Jetzt grast man das Pleinair-Glück der goldenen Tage ab. Keyserling schildert den Wiesenbetrieb. „Heiter und gespenstisch“ zugleich erscheint dem Beobachter der Buden-Parcours. Er will die Sache kulturell einordnen und sich davon distanzieren. Das Vertraute stellt sich ihm verzerrt dar. Das Eigentümliche gibt sich in der Übertreibung als etwas „Ungeheuerliches“ zu erkennen. Im Massenvergnügen steckt das Mittelalter mit seinem katholischen Heidentum. Das holzmaskenhaft Archaische schlägt Keyserling entgegen. Das Grauen greift sogar die „an das Wunderliche gewöhnte Traumseele“ an.