Schneisen der Verwüstung
Didier Eribon lehrt: Alle Kampagnen „sind Kämpfe um die Wahrnehmung der Welt“. In den sozialen Medien schalten sich die Legionen der traditionell Ungehörten ein. Die Heftigkeit der Auftritte kommt aus ungeschultem Durchsetzungswillen. Sie bewirkt eine Herabsetzung der Standards. Die Akteure überschätzen ihre Bedeutung, vor allen jedoch ihre Originalität als Dreckschleudern.
Um an einer anderen Stelle weiterzumachen - der Weltfremde lädt die Welt ein mit einer „Konfiguration von Reinheit und Egoismus“. Adorno beschäftigt sich so mit dem fiktiven Charakter des verworfen geborenen, wegen seiner Schönheit geliebten, von Honoré de Balzac erschaffenen Lucien de Rubempré aka Lucien Chardon. Er erkennt in dem Sohn eines Mannes von geringer sozialer Statur und einer auf den Hund der Bürgerlichkeit gekommenen Aristokratin die Verkörperung eines abgestürzten Angelus Novus ... eines ausschwärmenden Schwadroneurs, dessen angenehmes Wesen ihm die Chancen förmlich anreicht. In Lucien bildet sich ein neuer Typus heraus: der prekär lebende, elegant schreibende Flaneur-Feuilletonist. Journalistische Schaumschlägerei koinzidiert mit einem Mangel an bürgerlicher Gravitation. Lucien verschwendet sich.
Zunächst erscheint er der Welt ebenso geistreich wie feinsinnig. Er verweigert „den bürgerlichen Eid“. Deshalb stößt man ihn unter das Bürgerliche und „degradiert ihn zum Lumpen“. Das dünne Eis des Idealismus bricht, und Lucien fällt durch bis in die Niederungen von Knechtschaft und Parasitentum. Er reüssiert endlich in der Rolle des „Abscheulichen“.
Adorno sieht in Lucien nur eine „fungible Figur“, wegen der nichts geschieht, was der Akteur persönlich nehmen sollte. Wer sich den mores (Originalschreibweise) der Welt nicht lehren lässt, geht im Stil der Opiumesser zugrunde.
„Lucien (ver)weigert sich der Trennung von Glück und Arbeit.“
„Wer es zu etwas bringen will“, so Adorno, muss mit dem „paktieren“, womit sich Lucien nicht „besudeln“ will.
„Sehr präzis wählt der Markt aus zwischen dem, was ihm als geistige Selbstbefriedigung des Intellektuellen anrüchig ist, und dem … gesellschaftlich Nützlichen, das den Geist von Herzen anwidert, der es leistet; belohnt wird sein Opfer im Tausch.“
Adorno bemerkt eine Schneise der Verwüstung auf der Bahn des aufsteigenden Bürgertums. Er nennt Balzac einen Herold der Vernichtung idyllisch-feudaler Lebensformen; einen Produzenten dystopischer Aussichten. Der Autor „prophezeie in seinen Romanen (eine) düstere Zukunft, (da) das Unrecht, das die junge Klasse von (den Gestürzten) geerbt hat“ weitergetragen wird. Die Gleichzeitigkeit progressiver und reaktionärer Kräfte in einer Avantgarde habe „die Comédie humaine noch im Veralten jung gehalten“.
Adorno spricht vom „symphonischen Atem“ des Balzac’schen Œuvres.