Schändliche Leichtigkeit
1980 - Der Mercedes mit dem DDR-Kennzeichen IS 00-37 hält vor einer Baracke. Endstation Herleshausen. Ein spitzbübisch in die Jahre gekommener Mann steigt aus, Peter S., in Bautzen II ergrauter Industriespion. Auch das gibt es, ein Silicon Valley der DDR nahe Erfurt. Er habe immer gewusst, dass ihn „sein Dienst“ herausholen würde, wird S. bald Journalisten gegenüber angeben. Locker sei er geblieben. Laissez-faire im Knast. Auf S. wartet ein Leben auf Ibiza. Die Presse nennt ihn „Mister Cool“. Er wird ausgetauscht gegen Ulrike von Arndt, 56, Ärztin. Die zierliche, aristokratisch reservierte Kundschafterin des Friedens wechselt im Designerkostüm auf die Seite ihres politischen Herzens.
„Wie schön, dass du wieder bei uns bist“, sagt Inge ein paar Tage später bei Kaffee und Kuchen. Sie ist so stolz auf Tante. Ulrike von Arndt ist unbedingt Inges Vorbild – eine Hochkarätige, der niemand mehr traut, nachdem sie so lange den zersetzenden Einflüssen des Westens ausgesetzt war. Aber Ulrike bleibt linientreu und bibelfest auf ihrem Abstellgleis. Sie nutzt die phonetische Nähe zwischen Kanada und Knast für einen Scherz. Zu Gast ist der Schriftsteller und Regisseur B.K. Tragelehn. Inge zitiert Peter Hacks, es geht einmal wieder um Lichteinfälle der DDR-Intelligenz am Beispiel von Heiner Müller: „Seine Art zu wohnen hat keine Eigenschaften.“ Auf seinen Regalen dürfen sich Einmachgläser wohler fühlen als Bücher. Der weit berühmtere Hacks, meistgespielter zeitgenössischer Dramatiker in beiden deutschen Staaten, unterstellt Müller: „Fragmente nach einer Ablagerungsfrist für vollendet zu halten.“ Er stellt fest: „Müller schläft, wenn er müde ist, isst, wenn er Hunger hat“. Das ist Insubordination, schändliche Leichtigkeit. Hacks variiert nicht nur einmal den „Mann ohne Eigenschaften“, auch Byron´s „I awoke one morning and found myself famous“ gefällt ihm für eine Paraphrase: „Müller entdeckte im Bett, dass der Ruhm da war“. Jedenfalls erscheint der Prekäre dem „Aristokraten“ Hacks „als Mann von Laune“, der „auf den Kommunismus so wettet wie Pascal seinerzeit auf Gott gewettet“ habe. Im Übrigen „kennt Müller alle Schliche der Lustgewinnung aus Gräuel“, eine Einschätzung nach Hegel. Folglich käme „die Utopie bei ihm nur ex negativo vor“.
Tragelehn erklärt die Kulturpolitik der SED: „Sie ist sozialdemokratisch, das heißt, man hält auf bürgerliche Reputation. Dazu passt Hacks nun mal besser als Müller.“
Für Müller ist Hacks ein „Monarchist“ und „klassizistischer Kabarettist“, der „die DDR als Märchen“ falsch versteht. Müller wirft Hacks „Eskapismus“ vor, in einer psychologischen Volte nennt er diesen Eskapismus „eine spezielle Form der Gefängnisneurose, die in der DDR alle ausbilden“. Hacks' Konzept erschöpfe sich „in historischen Analogien:“ „Hacks ist Schiller, obwohl er sich auf Goethe beruft … und „sich ein privates Weimar gebaut“ habe. Zweifellos ist Hacks der Verbindlichere, hofft er doch zu wissen: „Wir verabscheuen uns mit Respekt“. Kaum zu glauben, dass Müller so untertourig ist.
Zurück auf Los - Inge und ich
Mein Leben zog an, als ich die einmalige Erlaubnis kriegte, eine Reportage über den Zirkus in der DDR zu schreiben. Ich war achtzehn und akkreditiert wie ein Diplomat. Zuerst besuchte ich den Staatszirkus, vormals VEB Zentral-Zirkus. Der Stammsitz war in Dahlwitz-Hoppegarten, neben der Rennbahn. Man ließ mich mit einem Litauer Spezialisten für Perche-Äquilibristik reden. Der Kettenraucher rasselte furchterregend. Gerade fällt mir ein, dass ich den Notalarm gequälter Lungen schon lange nicht mehr gehört habe. Seine Aussprache deutscher Wörter erinnerte an Keuchhusten. Sein Wahlspruch lautete: „Von Königsberg bis Nimmersatt, wo das Deutsche Reich sein Ende hat.“ Richtig wäre gewesen: „Einst ein Ende hatte.“
Es gab einen Dompteur aus Basse-Pointe auf Martinique. Gefallen hätte er Heiner Müller als Sasportas ... „Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand … und am Galgen werde ich wissen, dass meine Komplicen (Originalschreibweise) die N... aller Rassen sind.“
Die Artisten „arbeiteten“ ihre Darbietungen und verdienten gut dabei. Zirkus ist an sich Gewerbe. Das deckte sich jedoch nicht mit den Staatsverlautbarungen. In der DDR zählte der Zirkus zur Kunst (volksnahe Kulturleistung). In der Berliner Friedrichstraße war eine Artistenschule, Mittagessen gab es in der Gerichtskantine auf der anderen Straßenseite.
„Die Frage der Grenzen in Europa ist unwiderruflich entschieden“.
Das hörte ich immer wieder. Ich reiste nach Wismar, die Ostsee-Zeitung rief zum Einwecken auf. Fünfhundert Gramm Pfirsiche der Handelsklasse A1 kosteten 1.15 MDN und waren „erhältlich in allen Obst- und Gemüse-Verkaufsstellen des sozialistischen Handels“. Für den folgenden Winter wurde ein Wittigstahler Dauerbrandofen angeboten. „Ihr diskreter Drogist“ sendete „kostenlos Prospekte für Schutzmittel“.
Der anti-imperialistische Schutzwall wirkte wie ein Embargo. Ich traf selbständige Artisten. Sie rissen bis zu vier Veranstaltungen am Tag ab und reisten mit ihren eigenen Beschallungsanlagen an. Das Hochseil wurde mit einem „Luxemburger“ gespannt. Das Gerät gehorchte dem Flaschenzugprinzip mit einer Umlenkrolle und entwickelte eine Zugkraft von zwanzig Tonnen.
Termine verabredeten diese Unternehmer mit den Konzert- und Gastspieldirektionen der Bezirke. Buchhaltung spielte keine Rolle. An den Staat gingen zwanzig Prozent Honorarsteuer, die führte der Veranstalter ab.
Ich las Zeitungen, um mir ein Bild zu machen. Die „Norddeutschen Neuesten Nachrichten“, ein in Rostock verlegtes Periodikum der National-Demokratischen Partei Deutschlands, entdeckte ihrer Leserschaft Urlaubsziele im Kaukasus - auf zu den Doppelgipfeln des Elbrus. Ein Obermaat stellte im Blatt fest: „Durch das Bestehen unserer Armee und durch ihre feste Waffenbrüderschaft mit den Armeen des Warschauer Paktes werden den Kriegsbrandstiftern Zügel angelegt und der Frieden in Europa gesichert.“ Auf der Kinderseite stand das Irrtümer-Gedicht von Peter Hacks: „Und sie wandeln von dem Platze – Ohne Zwischenfall nach Haus, - Rechts, nach Weißensee, die Katze, - Links nach Lichtenberg, die Maus.“
Die Regierungsspitze meldete Anzahl der „Provokationen gegen unsere Staatsgrenze seit dem 13. August 1961“. Bald mehr.