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2024-11-08 19:01:29, Jamal

Terrestrisches Beispiellebewesen

„Zerstörung total. Nicht einmal Sachen sind übriggeblieben.“ 

Das notiert Isaak Babel (1894 - 1940) als Kriegsberichterstatter und sowjetische Propagandist in der Ukraine. Babel schildert die Pulverisierung der Ukraine vor 104 Jahren im Sommer 1920 im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919 - 1921). Seelisch erfroren durchstreift der Chronist das Grauen. Ein privilegiertes, seinem Auftrag vollkommen entfremdeten, das eigene Überleben beklagende Gespenst verlangt von sich, Zeugnis abzulegen. Mit James Joyce könnte es sagen: “Write it, damn you, write it! What else are you good for?” 

Zaristisch geprägte Kavalleristen der Roten Armee treiben ihre Pferde in den Salon eines requirierten Schlosses, um die Tiere vor dem Regen zu schützen. Lahmt sein Pferd, reitet Babel auf dem Pferd eines Divisionskommandeurs weiter. Er versäumt es nicht, die Pflaumenfülle an Bäumen in einem ausgestorbenen Dorf zu erwähnen. Soldaten zerstören einen Bienenstock. Babel spricht von einem barbarischen „Bacchanal“.

„Wir sind in einem merkwürdigen alten Haus, in dem es einmal alles gegeben hat.“ 

Babel meldet das am 28.8. in einem erst von Polen und dann von Russen überrannten Weiler. Die Geschichte wiederholt sich. Doch nicht als Farce, siehe „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Karl Marx, zitiert nach Wikipedia

Die Debellatio ist vollkommen. Trotzdem hört das Abschlachten nicht auf. Man fleddert Leichen, stochert in Knochenhaufen und Ruinen.  

Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban, Hanser, 35,-

„Alle Frauen und Mädchen können kaum gehen.“

Jüdinnen unterwerfen sich weiterhin religiösen Vorschriften. Sie wollen „nicht kochen, bevor der Samstag vorbei ist“.

In diesem Inferno klappert Babel Stabsstellen und Befehlsstände der Roten Armee ab. Er ist mit der Macht und doch von ihr getrennt.  

Bolschaja Tschistka

In den 1930er Jahren geriet Babel in das Mahlwerk der stalinistischen Säuberungen. Seiner Hinrichtung voraus gingen geheimpolizeiliche Konfiszierungen. Sie mündeten in der Vernichtung von Aufzeichnungen im Spektrum zwischen erzählender Prosa und Tagebucheintragungen. Durch die Maschen der Barbarei fielen Konvolute, die sich nicht im Besitz des Autors befanden. So erhielt sich ein Tagebuchfragment aus dem Jahr 1920. Übrigens wurde es in Kiew gesichert.

Vor Schreck erstarrt

Andrzej Stasiuk entdeckt in seinem Faktenthriller „Der Osten“ das Echo einer von Absichten kaum beschwerten, in Jahrhunderten selten unterbrochenen Expansion. Man erobert, um die Pferde in Gang und die Männer in Form zu halten, reitet Fleisch unter dem Sattel mürbe, zerstört, was den Weg verstellt, und stellt dann doch nur wieder eine Jurte zwischen rauchenden Ruinen auf. „Gleichgültige Blicke, reglose Gesichter. Genauso müssen die Mongolen vor siebenhundert Jahren ausgesehen haben, als sie von ihren Sätteln herab auf die vor Schreck erstarrten Bewohner der unterworfenen Gebiete blickten.“

Mörderische Routinen

Babel nimmt Maß für eine literarische Verarbeitung mörderischer Routinen auf seiner Seite des Geschehens. Die kommunistische Kosaken-Kavallerie bietet sich romantischen Verklärungen eher an als alle anderen Waffengattungen der Roten Armee. Man assoziiert das Pathos des 19. Jahrhunderts. Den Schneid grandios vorpreschender Kommandeure. Husarenstücke mit Sprungakrobatik und Schwertkampfkunst. Die Schönheit aufopferungsvoller Krankenschwestern, die mit den Kämpfern „durch dick und dünn gehen“. Und schließlich Lagerfeuer und Gesang. Auch bei Babel gibt es das „Rauschen (in) erhabener Finsternis“. Der Autor halluziniert die Apotheose der Apokalypse im Morast unbeschreiblich roher Frontvorhöfe und niedergemachter Dörfer. Die Rote Armee mordet, vergewaltigt, zerschlägt und plündert nach oder vor anderen, ähnlich auftretenden Armeen. Was militärisch ins Feld gestellt wird, ob Mensch, ob Material, es formiert sich zu einer grauen, Läuse und Geschlechtskrankheiten austragenden Vernichtungsmaschine.

1926 erschien die Erstausgabe des Zyklus „Die Reiterarmee“. Zehn Jahre später verschwand der Titel aus dem sowjetischen Angebot. Ab 1957 sickerten verschwiegene Fassungen durch die Filter institutioneller Vorbehalte auf den Ostblockmarkt.

In den Vorzeichnungen erwog Babel, sich an Čechovs (Originalschreibweise) „Drei Schwestern“ zu orientieren.  

Vom HJ-Braun- zum FDJ-Blauhemd

Der Körper als Kampfstätte und Exerzierplatz. Die jungen Pioniere des „Hoffnungsprojekts DDR (sind) Hitlers Kinder“. Zu der nationalsozialistischen Abrichtung und Ausrichtung kommt der Bankrott einer verworfenen, so oder so gestorbenen Eltern- und Lehrergeneration. In den Trichter der ungeheuren Empfänglichkeit des jugendlichen Idealismus ergießen sich die Parolen des Neuen Deutschlands.

Wer, wenn nicht wir?

„Eingenäht ins Amnesieprogramm des ostdeutschen Neustarts“ würzt der Geschmack von Unbedingtheit das „Kollektivmanna“ der Debütanten.

Ines Geipel, „Schöner neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens“, Klett-Cotta, 22,-

Steinzeitliche Rituale und Raumfahrtrekorde

1978 avanciert Sigmund Jähn zum ersten Deutschen im All. Er entzündet die Fackel des „großen Leuchtfeuers“ der ostdeutschen Weltraumforschung. Die Choreografie des „Propagandacoups“ folgt Politbürobeschlüssen und geheimdienstlichen Überprüfungen.

Die „Sicherheitskonzeption trägt den Kodenamen Falke“.

Der kosmische DDR-Triumph versetzt die Republik in einen Ausnahmezustand. Das Staatsvolk jubelt wie ein Mann. Staatsratsvorsitzender Honecker verehrt Jähn ein Jagdgewehr mit Silbergravur und Widmung. Eine archaische Geste - doch ist nicht auch Jähn zu einer Jagd aufgebrochen? Im Nachgang des Raumflugs plagen ihn „Illusionen des Raumes“. Seine körperliche Verfassung, eine rasend vorangeschrittene Entkräftigung, erhöhen die Erwartungen, die Wissenschaftler mit anabolen Steroiden verknüpfen. Leistungssteigernde Mittel setzt die DDR systematisch bei ihren Athleten ein. In der Retrospektive erscheinen die Sportler plötzlich als unfreiwillige Probanden der Raumfahrtforschung. Entmündigung, Missachtung der Integrität und Missbrauch liegen auf einer Linie der Verfehlungen, die bis heute Streitpunkte liefern.

Anthropologische Traumschleife

Der „im Sessel erstarrte Großvater“ versteinerte zum Denkmal des Verschweigens. Auf dem Ex-NS-Funktionär lastete eine von der Enkelin erforschte Schuld. Seit Jahrzehnten betreibt Ines Geipel Familiengeschichte als Gesellschaftslehre. Der Vater genoss eine Terroragentenausbildung (HVA-Jargon). Er lebte im Rausch großer Feindfahrten - als Kundschafter des Friedens „mit acht verschiedenen Identitäten“. 1984 war die Party vorbei. Der Abgetakelte wurde demobilisiert und wirkte weiterhin als Direktor des Dresdner Pionierpalastes Schloss Albrechtsberg. Er blieb aber ein Mann des Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK). Daran denkt die Autorin, während eine anonyme Drohung mit dem Absender unknownsoldier@ ihre Nervenstränge vibrieren lässt. Die Angst assoziiert sich mit den „Nebelbildern von Gerhard Richter“. Sie variiert und ergänzt Richters Nebelbilder mit „dunklen Nachbildern“. 

Zwei Zahlen

Über neunzigtausend Bürger dienten der Stasi hauptberuflich.

*

„Anfangs waren achtzig Prozent der Lehrer (in der sowjetisch besetzten Zone) ehemalige NSDAP-Mitglieder, außerdem fünfundvierzig Prozent der Ärzte und rund drei Viertel der Hochschulmediziner.“

Ines Geipel fahndet nach dem Markenkern jenes aufgelassenen Staates, dem sie Traumata, Themen und Thesen verdankt. Hellhörig wird sie bei jeder Kombination von Militär und Forschung. Die ehemalige Spitzensportlerin sichtete geheime Dissertationen von DDR-Militärwissenschaftler, um zu entdecken, dass sie als Probandin in Versuchsreihen ausgelesen worden war. Sie erkennt sich als Ziffernfolge in einer Zahlenkolonne wieder. Optimierer des Ostblocks degradierten die Weltklasseläuferin zu einem Wesen im Rang des „Bodenaffens“ aka „terrestrischen Beispiellebewesen“ Tevton. Tevton diente im Dezember 1983 als Synchrontier in einem Analogieverfahren, während die zu Kosmonauten aufgestiegenen Leidensgenossen Abrek und Bion in einem „Biosputnik“ gezwungenermaßen die Überlebenschancen irdischer Lebewesen im All ausloteten. Geipel schreibt: 

„Kapseltier Tevton, ein Bodenaffe unter brutalem Stress, mit gelöschtem Willen, der seine Mittel bekommt und daraufhin sein Programm abspult.“

In einem Freiburger Archiv absolviert Geipel eine Zeitreise. Sie folgt einer Aktenspur in die 1970er Jahre. Plateauschuhe. Biermannausbürgerung. Charta 77. Sigmund Jähn als erster Deutscher im All. Hundertfünfundzwanzig Mal umkreist Jähn 1978 die Erde; „der neue Mensch (Made in GDR/German Democratic Republic/Фарфор из ГДР) in einer anthropologischen Traumschleife“. In einer gigantischen transhumanistischen „Entlastungserzählung“ erreicht der neue Mensch interstellare Kolonien in Fahrstühlen.

„Unsterbliche sich selbst regulierende, künstliche Körper“ braucht es für den massenhaften Vorstoß ins All. So spukhaft-spekulativ sich das ausnimmt, es war stalinistische Staatsdoktrin. Sowjetische Forscher:innen „wollten afrikanische Frauen mit Schimpansensperma besamen“.

„Die Betrachtung von Planeten, Kugelsternhaufen und größeren Nebelflecken in Teleskopen dieser Abmessungen ist einer der besten Wege, um dem Menschen die gewaltigen Maßstäbe des Kosmos näherzubringen und ihn innere Bescheidenheit zu lehren.“ Manfred von Ardenne, Quelle

Geipel verschränkt die post-stalinistische Biopolitik mit autobiografischen Marken, dem Elbflorentinischen High Society-Betrieb um Manfred von Ardenne und der Dresdner Sternwarte sowie dem Hype, der zumal von Georg Klaus beschworenen Kybernetik, die (nach einer Synchronisation mit dem Historischen Materialismus) dem DDR-Modernitätsphantasma inkorporiert wird, bis zur Ausmusterung um 1970.