Theatralisches Misstrauen
Der schönste Einwand gegen das von Alexander dem Großen zum Verwaltungszweck seiner Eroberungen eingeführte Amtsattisch lautete: „Damit kannst du die Welt regieren, aber keine Gedichte schreiben“.
*
Für die im Elternhaus der Schwestern - Schwestern hatten Brüder geheiratet - wiedervereinte Familie Kesselmann war das Nordend nur formal ein Frankfurter Viertel. Wir schmähten nicht die Metropole am Main. Wir waren stolze Frankfurter und doch lebten wir in unserem Stadtteil wie in einem Dorf mit eigener Regierung. Die Regierung tagte in der Burg. Zum Gasthaus gehörte das Kabarett „Gernegroß“, gegründet vor langer Zeit von Norbert Nasenschweiß. Mein Onkel Karl (der Bruder meines früh verstorbenen Vaters) schob einen Rochus auf Nasenschweiß, den er zu tradieren trachtete. Er impfte uns mit Schmähungen. Da lag ein antiker Streit in der Luft überschaubarer Verhältnisse, eine Feindschaft, die in der nächsten Generation nicht weiter verfolgt wurde. Onkel Karls fidele Tochter Valerie gehörte zum Nachwuchsensemble, ihre Begabung wurde vorausgesetzt und von keinem vermisst. In ihrem Familienpatriotismus ließ sich Valerie nicht übertreffen. Für sie wohnten wir nicht in der Humboltstraße, sondern in der Kesselmann Avenue. Sie hegte ein theatralisches Misstrauen gegen die Welt außerhalb des Nordends. Mitunter sprach sich das Ressentiment im Tonfall der Gosse aus.
Ich überspringe jetzt einiges, ich bin siebzehn und kaum je verlegen. Valerie kommt in meine Etage, da sieht es nach einem Mauerdurchbruch verheerend aus. Ich möchte in einer Halle hausen, die haue ich mir gerade zurecht. Valeries Bruder Babu ist ins Gartenhaus gezogen, wohnt also auch nicht schlecht. Wir werden bestimmt nicht nach Berlin gehen, so wie das geistig Umnachtete vorhaben. Valerie geht mit mir ihre Freundinnen durch, um herauszufinden, welche mir am besten gefällt. Sie unterstellt mir Vorlieben. Stets glaubt sie, soeben wieder etwas begriffen zu haben, zum Beispiel, warum jemand Fremdwörter grassieren lässt. Als Eingeweihter weiß ich, dass Valerie ihren Freund betrügt. Bei jeder Gelegenheit behauptet sie, jemand verstoße gegen „das Gesetz“. Wir leben nach dem Gesetz des Nordends. Das Gesetz schreibt vor, wie man zum Apfelwein geht. Es bestimmt die Beziehungen zwischen „den alten Familien“. Es unterscheidet zwischen evangelisch und katholisch. Valerie beste Freundin hat den „Geburtsfehler“, katholisch zu sein. „Die mit ihrem faulen katholischen Arsch“, sagt Valeries Mutter Tante Franz (Franziska). Ihre Fröhlichkeit trieft vor Gemeinheit. In unserer Familie wird so viel gesungen, gern auch das Lied von den zehn kleinen N... Zum guten Ton gehören Herabsetzungen. Eine Nachbarin benimmt sich wie „die letzte M…s…“ So was gibt Tante Franz ungerührt von sich, ansonsten viel beschäftigt mit Herzensgüte und den Angelegenheiten der Pfarrgemeinde. Sie summt wie ein Bienenschwarm in leidenschaftlicher Haushaltsführung. Was sich alles nicht schickt. Die Schwestern tauschen sich über „Echtlederunterbrustkorsagen“ aus, verlieren den Faden und stolpern über „das katholische Stück“. Dem Vernehmen nach „knutscht Valeries Busenfreundin jeden Abend einen anderen“ im elterlichen Vorgarten. Es ist Sommer, auf der Kesselmann Avenue kocht der Asphalt, aber Christines Verspieltheit schickt sich nicht und läuft auf ein böses Ende zu. Drei Sätze in den blauen Dunst der Peter Stuyvesant und schon ist man wieder „beim Thema“. Das Thema hat zwei Etagen. Oben verhandelt es die Nachbarschaft und darunter spricht Es. Wer mit wem vor allem damals. Als die Schwestern noch blutjung und kaum eine Ahnung. Aber die Soundso schon. Auch meine Mutter kann vor Verachtung glühen. Jedes Urteil nimmt sie aus, so versteht sie den Unterschied zwischen dem Gleichen und demselben.