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2024-11-13 11:34:27, Jamal

Micki

„Es is kaa Stadt uff der weite Welt, die so merr wie mei Frankfort gefällt,  un es will merr net in mein Kopp enei, wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“ Friedrich Stoltze

„Wer Micki nicht kennt, hat das Leben verpennt“, sagt Kuno. Er zählt zu den Getreuen im ‚Palazzo‘. Der pompöse Name bezeichnet ein schlichtes Bierlokal, das im Nordend inzwischen wie ein Fremdkörper kurz vor seiner Entfernung wirkt. Im ‚Palazzo‘ verkehren vor allem alleinstehende Männer in ihren mittleren Jahren, die sich als „gereifte Junggesellen“ selbst verspotten. Mit Laufkundschaft rechnet die Hausherrin nicht. Nur am Wochenende stellen sich ein paar Uneingeweihte ein: junge Leute aus der Nachbarschaft, Flipperkönige, Dartspieler.

Micki pflegt ihren Ruf als „lebende Festung“. Die Höhe des Trinkgelds legt sie schon mal selbst fest. Niedrige Arbeiten lässt die Wirtin von einem Gast verrichten, der als Aschenbecher-Kralle, gegebenenfalls auch nur als „Aschebescher“ durchgeht. Er zieht für die Chefin jederzeit gern Zigaretten.

Statte ich Micki einen Besuch ab, werde ich zu Geselligkeitsbeweisen angehalten. Micki achtet darauf, dass sich die Routine und Raffinesse der Getreuen nicht zu meinen Ungunsten auswirkt. Für jede Runde, die ich schmeiße, werde ich von ihr extra belohnt. Sie füttert mich an und setzt dabei auch den Restposten ihrer weiblichen Pracht ein. Ihr sarkastisches Wesen ist keine späte Errungenschaft. Manchmal erlebe ich sie als verbrauchte Animierdame. Dann erscheint sie wieder als Mutter der Kompanie, voller humoristischem Verständnis für die Erbärmlichkeit ihrer Gäste, diese einsam ergrauten Männer.

„Du hast nichts und du bist nichts“, sagt Kuno zu einem Getreuen. Der Mann trägt eine Kluft aus Lederimitat. Man sieht ihm noch an, dass er einmal eine proletarische Interpretation des born to be wild-Gefühls für sich formuliert hat. Jetzt ist er bloß noch ein Stiesel und elender Zausel, ein Nachtwächter, wie man auch sagt, wenn man im ‚Palazzo‘ unhöflich sein möchte. Ich ahne eine alte Rivalität. Endlich untersagt Micki jede weitere beleidigende Äußerung in ihrem Haus. Sie spricht das Verbot so aus, als sei damit einem Streit unter Gleichen ein Ende gemacht.

Ich bestelle gespritzten Apfelwein, eine Spezialabfüllung aus Seckbach, und einen spritigen Birnenschnaps, der als Schweinchen ausgeschenkt und von dem Odenwälder Günther Sattler gebrannt wird. Ein Bessergestellter füttert den Musikkasten mit Münzen. Kunos Kommentar: „Die Frackleiche spielt zum Tanz auf.“

Kuno kann sich sonst nirgendwo blicken lassen. Er war Kellner. Er hatte gute Zeiten, aber die sind lange vorbei. Er konnte seinen Beruf wie ein Trickbetrüger ausüben. Er kennt alle Kneipenspiele. Manchmal vertritt er Micki am Buffet. Sie behauptet, dass keiner so gut wie Kuno auf ihr Geld aufpasst.

*

Es musste skandinavische Vulkanasche sein. Valerie tat so, als gäbe es die bei Ikea. Ich hörte mich um, kein Mensch bot Vulkanasche zum Verkauf. Ich fragte Nasenschweiß. Mysteriös antwortete er: „Lass dir was einfallen.“

Das suggerierte, dass er ausnahmsweise einmal nicht für mich mitdenken wollte. Ich fragte Aleksa, wir waren schon getrennt, aber noch gut miteinander. Aleksa erinnerte an Heidemarie, eine Gothic-Fetischistin, die ab und zu im Gernegroß auftreten durfte. Sie lebte mit einem Mephisto-Verschnitt namens Erich zusammen in Friedberg. Erich hatte früher skandinavische Landschaften fotografiert, ich rief ihn an. Er behauptete, schwedische Vulkanasche in einem Blumenkübel als Souvenir im Haus zu haben.

Inzwischen betrieb er ein Schwarzweißkunstgewerbe von verspielter Peinlichkeit. Er fotografierte Ü 40-Paare in SM-Posen. Heidemarie schrieb dazu erotischen Unrat. Im Übrigen saß bei ihr jeder Schlag ins Kissen. Hausarbeit war für Heidemarie etwas Buddhistisches.

 

Ich nahm Carola mit nach Friedberg, sie war neu im Territorium (auch so ein Wort für das Nordend). Ich hegte den Verdacht, dass sie für Inszenierungen mit Rosenblättern und Gummihandschuhen zu haben sei. Ich hatte so eine Ahnung. Heidemarie fing gleich an, Carolas Haare zu einem Kranz zu flechten. Ihre Gerissenheit machte sich unauffällig hinter puffmütterlichem Gehabe.

Der Kübel-Deal ging schnell über die Bühne. Heidemarie spielte uns einen Country-Konzertmitschnitt vor, aufgenommen im Rokkikellari von Seinäjoki. Heidemarie war selbst im Rokkikellari von Seinäjoki aufgetreten. Seitdem hatte sie einen finnischen Fanclub - gegründet von einem Tangoliebhaber.  

Die Reichen und Schönen von Friedberg stellten sich ein, ein Paar kam mit seinem greisen Toyboy. Er war in Leipzig zu DDR-Zeiten DDR Pathologie-Fachassistent gewesen, wäre aber lieber Turnhallenwart geworden. Er hatte mit Leichen gekegelt und ihnen die Zähne gezogen. Die Zähne waren von der Verwandtschaft noch gebraucht geworden. Die Assistenten liefen mit ihren Zahnarztbestecken wie Klempner über die Friedhöfe. Das erzählte er, während sich Carola von Erich fotografieren ließ.

Ich fürchte meinen sauren Atem. Meine Fishermans Friend Wildcherry ohne Zucker habe ich zuhause vergessen und Carolas Discounterkaugummis sind leider ein Gaumengraus. Vielleicht noch nicht mal aus Versehen hat Carola vorhin ein burlesk verpacktes Kondom aus der Handtasche gezogen, ein Requisit aus der Man-weiß-ja-nie-Abteilung ihres Lebens. Das war ein trauriger Augenblick der täglichen Vorabendserie, bei einem doppelten Espresso und einem Birnenbrand. Carola mit dem Kondom in der Hand und weit und breit keiner, der nicht nur als Verlegenheitslösung infrage gekommen wäre.

Ich ahne einen Zahnschmerz in nächster Zukunft, in der Holzklasse macht man keine Karriere, noch nicht mal auf dem Klo hat man seine Ruhe.